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Dietmar Jacobsen
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum 1/2022.
Dietmar Jacobsen
Poet auch da, wo er theoretisiert
Mit der Sammlung seiner verstreuten Essays, Reden und Interviews wurde im vergangenen Jahr die seit 2008 im S. Fischer Verlag erscheinende siebenbändige Ausgabe der Werke von Wolfgang Hilbig (1941–2007) nach dreizehn Jahren endlich abgeschlossen. Gerade noch zurecht ist das Buch damit zum 80. Geburtstag des Autors am 31. August 2021 gekommen. In drei Abteilungen – 24 Texten unter der Rubrik Essays folgen 12 (hauptsächlich Preis-) Reden und 36 Gespräche aus 22 Jahren – fasst es den »Theoretiker« Hilbig zusammen. Wobei »Theoretiker« eigentlich schon zu kurz greift, sind doch Hilbigs Werke und seine Reflexionen über das Schreiben eigentlich gar nicht voneinander zu trennen, geht das eine ins andere über, enthalten auch seine fiktiven Texte essayistische Partien.
Dabei kann von Zugeneigtsein zu Äußerungen rund um seine Person und das Schreiben in Hilbigs Fall eher nicht die Rede sein. Auf die Frage, ob er sich als »soziales Wesen« sehe, antwortet er in einem der Gespräche: »Ich glaube nicht. Oder ich müßte eigentlich antworten: Ich weiß es, daß ich keines bin.« Die dem Schriftstellerberuf eigene Egozentrik schließe »allzu viele Kontakte mit anderen Menschen« aus. Denn sie hindere den Autor an seiner wahren Berufung, dem Schreiben. Man merkt es etlichen Gesprächen gerade aus den letzten Jahren an, dass Wolfgang Hilbig, statt sich immer wieder demselben Fragekanon zu stellen, lieber allein gewesen wäre und geschrieben hätte – nicht zufällig lautet seine letzte Antwort in dem umfangreichen Gesprächskomplex des Buches: »Am Schreibtisch fühle ich mich am wohlsten, ja.«
Dennoch nehmen die versammelten Interviews des Autors nicht nur den größten Raum des vorliegenden Bandes ein, sondern wirken beim Lesen auch am frischesten, eben weil sie Privates mit Gesellschaftlichem, Offenheit mit Zurückhaltung, auf eine Weise verbinden, dass man den Menschen Wolfgang Hilbig hier deutlicher durchschimmern sieht als in seinen Reden und den sorgsam ausformulierten und deshalb weniger spontanen Essays des ersten Buchteils. Für diesen Eindruck nimmt man letztlich auch etliche Redundanzen in Kauf, die sich in den Gesprächen finden.
Hilbig, der 1985 mit einem vorerst auf ein Jahr begrenzten Visum in die Bundesrepublik kam, fühlte sich weder in diesem noch im anderen Deutschland heimisch. Er war ein Wanderer zwischen den Welten, eigensinnig bis zur Sturheit, radikal, wenn es um sein Schreiben ging, unbeeindruckt von den Moden der jeweiligen Zeit und mit einer in seiner Biographie wurzelnden »Veranlagung zur Einsamkeit« ausgerüstet. Ein sensibler Mensch, der »aus einer finsteren Industrielandschaft des Ostens in die strahlende Fußgängerzone von Nürnberg« geriet und hier das erlebte, was fünf Jahre später den meisten der zum ersten Mal in den Westen aufbrechenden DDR-Bürger passierte: eine sich als Reizüberflutung tarnende Entfremdung. »Die DDR-Bürger haben ihre Identität im Westfernsehen gesucht, besser: ihr Ziel«, beschreibt er in einem Interview eine Haltung, die nach Wende und Wiedervereinigung schnell alles Euphorische verlor. Die für einen kleinen Skandal sorgende Kamenzer Lessing-Preis-Rede von 2017 drückt diesen Sachverhalt noch etwas drastischer aus, indem der Preisträger in ihr den »Akt der Wiedervereinigung« mit »eine[r] Art Unzucht mit Abhängigen« vergleicht.
Vieles in dem mehr als 800 Seiten umfassenden Band darf man als Antwort auf Fragen lesen, die das fiktionale Werk Hilbigs stellt – so etwa seine Ausführungen zur Erzählung Der Brief von 1985, seine Auseinandersetzungen mit Büchern von James Joyce, Alexander Solschenizyn und denen seines Freundes und großen Förderers Franz Fühmann. Auch seine »Antwort« auf den berühmten Lord-Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals hebt ganz direkt auf seine – auch biographisch bedingte – Sonderstellung in der deutschsprachigen Literatur ab, wenn sich darin der Satz findet: »Da, wo ich lebe, weiß ich niemanden, der so denkt wie ich … und sollte es da noch den oder jenen geben, so weiß er es nicht von mir.«
»Ein Enzyklopädist des Prekariats, ein letztes Universalgenie allen Nichtwissens, ein minotaurischer Odysseus« – Dichterkollege Wilhelm Bartsch trägt am Ende seines umfangreichen Nachworts dick auf. Aber er hat Recht: Mit dem 1941 im thüringischen Meuselwitz Geborenen, einem »Arbeiterschriftsteller«, der sich dagegen verwahrte, einer zu sein – »Diesen Titel hasse ich nun wirklich wie die Pest«, heißt es in einem Interview –, lässt sich tatsächlich kein anderer Autor der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichen. Hilbig, ein Getriebener des Schreibens – »Ich halte es nicht aus, über kurze Zeiträume nicht zu schreiben. Dann fange ich an zu verwahrlosen«, antwortet er 2003 auf eine Frage von Günter Gaus –, hat, nachdem er Jahrzehnte fast ausschließlich nur für die Schublade produzierte, von dem Moment an, da er in der literarischen Öffentlichkeit erschien (kurioserweise als Ostautor im Westen) Erstaunliches vollbracht. Und dazu gehören, nun endlich zwischen zwei Buchdeckeln versammelt und kongenial benachwortet, auch seine zahlreichen nichtfiktionalen Texte.
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