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Jan Volker Röhnert
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Vor zwanzig Jahren, im Spätsommer 2001, trampte ich mit N. die Auvergne hinab, ohne je lange an einem Ort Station zu machen, wir wollten in den Süden, die Provence, St. Jean du Gard im mediterranen Teil der Cévennen erreichen, den Kamm des Zentralmassivs überwinden. Wir waren im Süden Clermont-Ferrands losgegangen, ein Abiturient, der uns auf Deutsch anredete, lud uns ins Wochenendhaus seiner Eltern ein, wir stehen mit der Familie im Freien beim Apéritif. Am nächsten Morgen werden wir dreimal im Auto mitgenommen, bis zum Vorort Aydat von einer Frau mit kleinem Mädchen, dann die Berge hinauf einem jungen Kerl, schließlich, nachdem wir eine längere Strecke gelaufen sind, einem Pärchen auf dem Weg zum Campingplatz, der Typ öffnet uns den Kofferraum, aus den Boxen eine laute emotionale Musik, die mich an die Rimbaud-Interpretationen von Catherine Le Forestier erinnert, sie sagen, es sei das erste Mal überhaupt, dass sie Anhalter im Wagen hätten. Am Mittag sind wir am Lac du Chambon, Angler am Ende der großen Ferien, eine Badestelle mit Leuten auf Wassertretern, Wanderer gucken auf unsere Mahlzeit.
100 Meter über Chambon hält ein Renault mit zwei Frauen, die einen Hund im Kofferraum mitführen, er muss sich den Platz mit unseren Rucksäcken teilen, was ihm zunächst zum Bellen, dann zum Jaulen, später zu heftigem Hecheln animiert. Die beiden lassen uns am Col du Croix St. Morand heraus, einem grandiosen Plateau mit Gipfelweitsichten: Hochland-/Alpenlandschaft, Enzian, wilde Stiefmütterchen, Ehrenpreis, verschiedene Falter, unter denen ein graugezeichneter mir auffällt, ein Stieglitz, am Wasserfall für eine Sekunde der Abglanz blauen Eisvogelgefieders. Am Abend haben wir das Hotel du Vallée in Le Mont Dore erreicht, kommen von der Wanderroute Grande Randonnée 4 über Weiden Wiesen Täler Wälder in den langgestreckten Ort hinab. Die ehemalige Kurstadt erinnert mich an einen Typen bei Balzac, der, von den Pariser Ausschweifungen entkräftet, in einen Badeort der Auvergne abgeschoben worden ist. Am Abend halten wir Picknick am Wasserfall, der auch vom Zimmer zu erblicken ist, bei diversen Käsesorten, Wein, Tomaten, Melone. Beim Abstieg scheint die Sonne aus zerfließendem Gewölk durch ein Viertel Mond. Gegenüber das Massiv des Puy de Janzy. Die Landschaften zerfließen, sammeln, stauen sich in Tälern, erweitern, vereinigen, verändern sich wie Flussmäander. Unweit liegt der Ursprung der Dordogne. In schöner Ungewissheit die Frage, wie weit wir morgen kommen werden. Vor zweihundert Jahren könnte Hölderlin hier hindurchgegangen sein. Auf der Place de la République eine graue Toreinfahrt, über der schräg das Schild WC baumelt.
Am andren Morgen sitzen wir bis zur hinter Le Mont Dore sich erstreckenden Kammhöhe im Wagen eines jungen Typen, durchqueren dann zu Fuß den Wald – steigen erst ins Tal hinunter, dann wieder hinauf, mit Aussicht auf die umliegenden Hochlandkämme. Bis zur nächsten Kreuzung im Wagen einer jungen Familie, danach bei einem schwarzhaarigen Typen mitgefahren, der erst Portemonnaie, Essen, Wein vom Sitz räumen muss. Im Radio erörtert jemand die literarische Qualität des jungen Balzac. Unser Fahrer zeigt auf eine Gruppe schöner schwarzfelliger Esel am Wegrand.
Mittag am Grasufer des Sees von La Tour d’Auvergne, ein toter Fisch treibt obenauf. Graugesichtiger alter Stadtkern im Mittelgebirge, um die Kirche rauschen ein paar Wagen, planschende Kinder in der Fontäne, Mittagsstille eines Sommertags. Die Landschaft ein Haiku: Die Kuh dort oben / Stumm, ihr Auge ein Sucher / Auf uns gerichtet. Die Auvergne ist vulkanischen Ursprungs, dunkle Basaltkegel dominieren die Gegend.
Der Nachmittag ist ein Durcheinander von Wandern und Trampen, es versetzt uns zwischen durchwanderten und durchfahrenen Gegenden in einen rauschhaften Taumel. Hinter La Tour d’Auvergne liest uns eine Frau in Eile auf, sie arbeitet bei der Post, setzt uns in einem Ort namens Bagnols ab. Die Gegend sanfter, welliger, keine gigantischen steinigen Kammketten mehr, eher wie das, was ich mir unter dem Limousin vorgestellt habe, und der Ort, den wir als nächstes ansteuern, Bort-les-Orgues, liegt dann auch im Département Corrèze, das zum Limousin gehört. Ein älterer schwarzhaariger Typ mit Sonnenbrille nimmt uns bis zum Chateau du Val mit, ein imposantes, gleichmäßig gebautes Renaissanceschloss, jetzt hart am Ufer des neuen Dordogne-Stausees etwas deplatziert wirkend. Ein Franzose, mit zwei blondzöpfigen Holländerinnen unterwegs, befördert uns bis ins zugige, benzinstinkende Bort-les-Orgues. Entschlossen, hier nicht Halt zu machen, passen wir den letzten TER-Bus ab, dessen einzige Insassen wir sind, es geht durch wilde einsame Landschaften, im braunschwarzen, auf einem Telegraphenmasten hockenden Gefieder vermeine ich einen Adler zu erkennen. Riom-ès-Montagne: zuviele Schweineställe, Tankstellen, an einem Supermarkt das Schild nach Murat. Bis zum Puy de Mary nimmt uns ein Italiener mit seiner um etliches jüngeren asiatischen Frau mit. Wir gehen eine lange Strecke, über weite grüne Weideflächen unter blassblauem Himmel, aus dem es hin und wieder nieselt. Am Straßenrand tote Schmetterlinge und eine tote Fledermaus. Dann halten Mann und Frau mit älterem Wagen, Départementkennzeichen 88, lassen uns an der Kreuzung nach Ségur heraus, weites friedliches Tal, das wir durchqueren, an einer Felsenkapelle, bei der eine Stute neben ihrem Fohlen liegt, vorbei. Zufriedenes Gefühl, das sich noch steigert, als ich vorn im Wagen sitze und in den Horizont hineinschaue. Wir sind schon weit im Süden gelandet, im Städtchen Murat um zehn vor sieben in der Abendsonne, aus grünen Bergmassiven setzt sich das Land zusammen, in das wir mit der jungen Frau, die uns noch bis zur Stadt fährt, obwohl sie ein anderes Ziel hat, hinabgleiten. Auf dem Zimmer, 140 Franc die Nacht, ein altertümlicher gerippter roter Bettbezug, altertümliches Holzimitat, Kirschzweige als Tapetenmuster.
In Murat das nächtliche Donnergeräusch vorbeischeppernder Fahrzeuge, man steht auf, das WC um die Ecke ein schäbiger Verschlag, an der Spülung kleben die Worte »tirer doucement«, der Akkord der Kirchglocken ahmt den des Big Ben nach. Morgens die Fahrer, die vor der Bar halten, lassen die Motoren ihrer Laster laufen, nehmen einen kurzen Kaffee, sind verschwunden. Mit der Bahn nach Le Liom, um zum Puy Mary zu wandern. Das Emblem der Region Mi-Pyrénées mit gelbem gleichschenkligem Kreuz auf rotem Grund ziert die Waggons. Wir passieren einen verlassenen Wintersportort mit Drahtseilbahn, Skilift, außer Betrieb. Den Puy Mary lange nicht erreicht, nicht einmal seinen Kamm. Die Wiesen erinnern an Kindheit: kräftiger süßer Grasgeruch wie von Taubnesseln. Eine Almhütte, Kühe auf steinigen Wegen grasen die Hochfläche ab. Picknick im schwer zu findenden Schatten. Die schrundigen, baumlosen, braun-grau-steinigen Felswände des Tals. Gegen fünf im rumpelnden Mi-Pyrénées-Zug zurück nach Murat. Zwei Mädchen mit schweren Rucksäcken, in Wanderstiefeln und langen flatternden Hosen steigen zu.
Auf dem Vulkanhügel gegenüber der Stadt die romanische Kapelle über einer Siedlung alter Landhäuser namens Bredons. Vom Kraterrand die grüne Ebene im abendlichen Gegenlicht. Die Bergketten, in denen die Sonne versinkt, nahezu schwarz. Eine Esche, durch deren Blattlitzen die Strahlen sich brechen. Zu Abend im Café de la Paix eine Renaissancemahlzeit, wie sie Rabelais’ Gargantua verspeist: eine Art Kutteln oder Flecke, aufgekochter Schafslabmagen.
Anderntags durch Les Margerides, großes einsames Waldgebiet, Nadelholz, Täler, Bergrücken, Kuhweiden, Gehöfte ohne hörbare Anwesenheit von Menschen. Zur Dunkelheit der Höhenzüge, wo sich vor sechzig Jahren die Résistance verschanzte, passen die dunkel aufglimmenden Wolken, die zunächst für Schwüle sorgen. Wir laufen, laufen, laufen. Keine Menschenseele, kilometerlang kein Wagen, der für uns hält. Dann bremst eine Art Bauer oder Jäger, schlammige Gummistiefel, rot unterlaufenes Auge, bemerkt mit gutmütigem Zynismus, es sei wohl nicht einfach, heutzutage mitgenommen zu werden. Und: Es sei besser, wir Deutschen würden sie mit Rucksäcken statt mit Gewehren überfallen, und er fügt hinzu: »je sais que c’est une mauvaise blague«. Nachdem er uns wieder der Straße überlassen hat, begleiten uns auf einer ausgedehnten Weide Pferde, ein Schimmel und ein Brauner, die mit ihren Nüstern immerzu nicken. Lange, lange hält niemand mehr vor uns. Das nächste Dorf, dann wieder Wiese, Wald. Mit einem Mal halten gleich zwei Wagen, wir entscheiden uns für den weniger vollen. Der Mann schwarzhaarig, südlicher Schnauzer, Sonnenbrille, hupt immerzu, wenn wir Kuhherde passieren. Die Frau fragt, ob wir ihr nicht zustimmten, wie schön doch Frankreich sei. Sie komme aus Paris, er aus Perpignan, wo sie seit drei Jahren lebten. Schlimme Serpentinenfahrt nach Langeac, ständige Windungen, darüber Gewitterwolken. Beim Campingplatz am Ufer des Allier halten wir Picknick mit Wein, Käse, Zwiebeln. Die Strömung des Flusses ist so stark, dass man sich schwimmend nur auf derselben Höhe halten, jedoch nicht vorwärts gelangen kann. Friedliche Abendstimmung mit aufgerissenem Gewölk, das wie Wäsche in Fetzen flattert.
Später Pastis im Zentrum von Langeac. Der Wirt genehmigt sich eine himbeerrote Kugel Eis. Lächelt behäbig-verschmitzt zu uns herüber, in einem Plastestuhl vor dem Eingang der Bar ausgestreckt. Ein Bild südfranzösischer Gelassenheit. Lautes Vogelgekreisch: Halsbandsittiche in einem angestrahlten weiten Platanenschirm.
Am Morgen aufgewühlter Wolkenhimmel, wir nehmen den Zug durch die Allier-Schluchten. Der Express Clermont-Nîmes hält eine Viertelstunde bei Langogne, ein Bahnhof aus Abrisshallen. Das Mädchen, das während der Fahrt durch das Landschaftsgewoge schlief, blättert nun in einer Illustrierten. Der Renaissancemensch bevorzugte den Realismus einer bewegten, bunten Außenwelt, der Mensch von heute fühlt sich in der Secondhandwelt aus Gewerbezonen, Supermärkten, Hochglanz daheim. Erst inmitten dieser Oberflächen ‚entdeckt‘ er für sich die Natur. Der Schaffner lässt es durchgehen, dass wir eine Station über die Strecke hinaus, für die wir gelöst haben, aussteigen wollen. Willkommen, Cévennen.
Nach langem Gehen sitzen wir die kurze Wegstrecke bis zum am Fuss des Mont Lozère beginnenden Gebirgspass im Deuxchevaux zweier Männer, die in die Pilze unterwegs sind, »les cèpes«, Steinpilze, wiederholen sie, ein Alter mit Sohn oder Schwiegersohn, schweigsam, verschlossen, kaum dass wir miteinander vom schlechten Wetter reden, das habe den Menschen früherer Zeiten nichts ausgemacht, »durs et résistants«, wie sie gewesen seien. Den Rest des Wegs zu Fuß, niemand begegnet uns, das Département Lozère mit vierzehn Einwohnern auf dem Quadratkilometer das am wenigsten besiedelte Gebiet Zentraleuropas.
Bis Le Bastide hatte uns der Zug durch angenehmen Wald geschaukelt, am Fenster wirkt die Einsamkeit der Cévennen schön. Aber auf der Straße sind wir ungeschützt: nichts, niemand kommt vorüber, nirgends. Hochebenen, runde Bergrücken, Heidekraut, dann wieder Mischwald, Wiesen mit Kühen darauf verstreut, Flussläufe, graue, aus Steinbrocken gemauerte Häuser ohne Bewohner, pfeifender Wind, eisig auf dem Kamm. Himmel, der Regen verheißt. Auf einer Wiese über paar Häusern mit Scheunen eine Schafherde, die ein Hund mit tränendem Auge bewacht, der auf uns zukommt, als wir, vom Tragen der Rucksäcke erschöpft, die Passstraße hinauf stapfen. Von unten grinst ein Schäfer, braunschwarzes, sonnverbranntes Gesicht, schwarze Kluft, was er uns zuruft wirkt wie ein schwachsinniger, unverständlicher Schrei, seltsam unwirklich, das Entsetzen packt uns, für einen Moment aus der Zeit gefallen zu sein und einem der letzten Satyrn, die die Herden des großen Pan bewachen, gegenüberzustehn.
Auf dem Höhenpass begegnet uns der Jeep einer deutschen Familie, die bedauert, keinen freien Platz für uns zu haben. Dann stoppt ein Typ, der, wie er sagt, die nächste Gîte d’Étape besorge. Als er den VW-Bus in einen Waldweg lenkt, protestiert meine Frau. Ich übersetze ihr seine Versicherungen, habe wohl auch das Schild bemerkt, tatsächlich, die Gîte liegt mitten im Wald. Die rothaarige Gîte-Keeperin verkauft uns Snacks für die Nacht, uns fehlt es an Barem für die Pilzmahlzeit, die sie ansonsten zubereitet hätte. Die Nacht verbringen wir in einem Holzverschlag, unser Lager ist von dem der anderen Gîte-Schläfer durch einen Vorhang abgetrennt.
Wir erwachen zum Krähen der Hähne und dem I‑A des Esels, wegen der fehlenden Franc ziehen wir ohne Frühstück weiter. In Le Bleymard, das wir zu Fuß erreichen, eine Bankfiliale, auf der wir endlich Geld eintauschen können. Die Kinder und die Alten auf der Straße grüßen mit »Bonjour«. Der Verkäufer im Huit-à-8-Kleinmarkt unfreundlich, da ich an der Kasse für 45 Franc mit Karte zahle. Hinter Bleymard heftiger Regen, und vor uns der Mont Lozère. Ein Mann und eine Frau, Urlauber, die unsere Eltern sein könnten, lassen uns bis Le Pont de Montvert zusteigen, wo sie das Hôpital aufsuchen müssen.
Wir verbringen den Mittag in den Schluchten des Tarn, zwischen Esskastanien, die in grünen stachligen ovalen Schalen von den Bäumen hängen, und Brombeerhecken voll reifer süßschwarzer Beeren am Wegrand, gegen zwei stoppt schließlich eine junge Frau für uns, sie scheint es darauf angelegt zu haben, inmitten der Serpentinen jeden Wagen in Sichtweite zu überholen. Kein Wort, während wir auf dem Rücksitz hocken, Rucksäcke gegen die Knie gedrückt. Die kurze Strecke von Comgrès bis Florac verbringen wir im Kastenwagen eines jungen Typen, sein Hund springt zur Seite und macht sich hinten breit, als ich vorn zusteige. Er kenne, sagt unser Fahrer, einen Musiker aus Weimar, der schon seit zwanzig Jahren in der Gegend lebt.
In Florac nehmen wir Quartier in der Gîte d’Étape mit Gemeinschaftsschlafsaal. Hinter altertümlicher Holztäfelung hat sich ein Internetcafé eingerichtet, an der breiten Durchfahrtsstraße haben Stände mit Souvenirkitsch aufgeschlagen, Jungen knattern auf hochfrisierten Mopeds durch das Tal. Wasserreiche Stadt, malerisch im kargen Karst. Später Nachmitttag am Ufer des Tarn. Aufflauender Wind und Wolken, die sich vor die Sonne schieben, machen Gänsehaut. Nach den Frösteln machenden Erlebnissen der letzten Nacht ein freundlicher Ort.
Nach einer Nacht unter säuselnden und sägenden Schnarchlauten und einem davon aufgeweckten schreienden Kleinkind im Schlafsaal der Gîte nutzen wir den freien Tag in Florac, um am Rand der Causses zu wandern, im steinigen, spärlich bewachsenen Hochland der Cévennen. Mir spukt die Überlieferung meines Großvaters im Hinterkopf, dass mein Name hugenottischen Ursprungs sei. Nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 und der Verfolgung der in Frankreich verbliebenen Hugenotten waren diese weiten zerklüfteten Flächen das Rückzugsgebiet der protestantischen Camisarden, denen die Truppen des Sonnenkönigs in mehreren Anläufen mit äußerster Gewalt auf den Leib rückten. Zwischen 1702 und 1705 herrschte in den Cévennen der Ausnahmezustand, von den Königlichen eingenommene Dörfer der Aufständischen wurden brutal niedergebrannt, die Einwohner hingerichtet, ihrerseits verübten die Camisarden in einer Art Guerillakampf Racheakte an Priestern in den Ortschaften des Languedoc und des Rhônedeltas. Als der Nachschub an Waffen und Verpflegung aus England und den Niederlanden versiegte und die Cevennen von den Königstruppen systematisch verwüstet worden waren, blieb den Hugenotten nurmehr die Wahl sich zu ergeben oder auszuwandern. 175 Jahre später reiste der Schotte Robert Louis Stevenson, damals noch ein mäßig bekannter Reisereporter, dem die Erfolge seiner Schatzinsel und des Seltsamen Fall des Dr. Jekyll undMr. Hyde noch bevorstanden, auf dem Rücken einer Eselin namens Modeste durch die karge, von den Hugenotten verlassene, von Frankreich nahezu vergessene Landschaft. Der durch Florac führende Grande Randonnée oder GR 70, der Fernwanderweg 70, ist nach Stevenson benannt und berührt all die Stationen seiner Reiseerzählung, mit welcher sich die Postkarten- und Andenkenstände hier schmücken. Stevenson war nicht nur lungen‑, sondern zum Zeitpunkt seiner Cevennendurchquerung zusätzlich liebeskrank und fand in den einsamen, ausgeräumten Gegenden entlang des Tarn die Entsprechung für sein verkarstetes Innenleben, doch bildet das temperamentvoll störrische Wesen seiner Eselin, mit der er die Route bewältigen will, einen willkommenen Gegenpol zur Bitternis und Melancholie.
Wir klettern das Kalkschiefermassiv oberhalb der Stadt hinauf. Eine Halde von Gesteinssplittern dehnt sich vor uns aus. Der Wind stoßweise, unbeständig, wechselt ständig die Richtung, mal bläst er uns ins Gesicht, mal faucht er von hinten in die Jackenärmel. Eine Rauheit, die ich mit Skandinavien verbinde, nicht den Farben der Provence. Die Ablagerungen der Fossilien aus dem Trias- und Karbonmeer, die Muscheln und Trilobiten im Kalk sind gut zu erkennen. Die kahlen Berglehnen mit Fußabdrücken von Dinosauriern besät. Verlassene Gegend, Schafherden. Ein einzelnes, der Herde hinterherhinkendes Schaf schaut uns lange nach. Aufgegebene, eingefallene Steinhütten. Wacholderbüsche, Moose, Flechten, trockenes Gras, Disteln, vereinzelt Enzian. Als wir hinabsteigen, wird die Vegetation wieder üppiger: Heidekraut, Ginster, Falter in blauen, gelben, roten Farben, verschieden gemustert, Blüten zwischen den Gräsern. Eine weitläufige Terrassenfeldanlage, die jetzt wild überwuchert ist. Hinter einer Wegbiegung beginnt der Asphalt und wir stoßen auf ein bewohntes Haus; eine Katze starrt uns mit ihrem tiefen durchdringenden Samtblick unbeweglich an. Dann erschallt Hundegebell und wir bleiben unwillkürlich stehen, bis der Bewohner aus dem Fenster sieht, um uns zu versichern, dass das Tier harmlos sei. Der schwarzbärtige Mann, mit von der Sonne gedunkelter Haut und Vertrauen einflößenden Augen, vielleicht gar nicht alt, erinnert an die Art, wie das amerikanische Kino die Wanderprediger auf den Trecks des Wilden Westens darstellt. In der Nähe des Hauses machen wir unter einem Felsenvorsprung Rast. Im Vorbeigehen, vom nicht nachlassenden Gebell des Hundes bedrängt, sehe ich Imkerbeuten, Kästen mit riesigen Bienenwaben, ein Schild, das ihn als „apiculteur“ ausweist. Häufiges Knistern und Knacken im Unterholz. Für Sekundenbruchteile schnellt die grünglänzende Schlangenhaut einer Eidechse hervor. Vögel mit breiten Schwingen, die Nachkommen der Dinosaurier, kreisen im Luftraum, von den Windstößen getrieben – Geier? Aus den Büschen, zwischen Zweigen, stürzen plumpe, in der Mitte konzentrisch wie Spindeln geformte Vögelleiber – Wachteln?
In der Kantine der Gîte treffen wir ein Paar aus dem bretonischen Rennes, sie gehen den Weg, den Stevenson mit dem Esel zurücklegte, zu Fuß ab und leben spartanisch, lehnen unseren Wein dankend ab. Am andren Morgen sehen wir uns die mit dramatisch grellen digitalen Effekten und Erklärungen auf Deutsch und Englisch versehenen Schaukästen und Dioramen im Haus des Cevennen-Nationalparks an, dann verlassen wir Florac auf der Route Nationale. In einer Parkbucht an einem Fluss halten wir Mittagsrest. Bis zur Abzweigung auf die kleinere Rue Départementale fahren wir bei einem Paar aus der Normandie mit, dann gehen wir über zwanzig Kilometer in totaler Waldstraßeneinsamkeit durch den Bogen einer Schlucht mit dem Namen La Vallée Francaise. Eine Tafel kündigt einen lebendigen Ort an, was wir sehen, gleicht eher einem ausgestorbenen Dorf. Am besten von allen Häusern ist die angeputzte Kirche erhalten, die kreuzförmige Tafel aus blau lackiertem Blech weist sie als Stätte des Culte Protestant aus. Alte Menschen gehen stumm aneinander vorbei, ist es ihre Art, den Feiertag zu heiligen? Auf den Hügeln wachsen Heidekraut und wilde Esskastanienfrüchte in ovalen, stachelbewehrten grünen Kapseln, Korkeichen geben der Gegend ein südliches Gepräge. Entgegenkommende Wagen mit lokalen Nummern hupen vor uns oder überholen gnadenlos, als sei den Insassen der herausgestreckte Daumen für den Wunsch, mitgenommen zu werden, unbekannt. Schließlich steigen wir bei einer lauten Familie zu, rücken mit den Kindern auf der Rückbank zusammen, der Mann redet vom Beifahrersitz mit Alkoholfahne auf uns ein. In St.-Germain-de-Colbert schleppt er uns zum Barmann am Tresen eines Cafés, von dem er meint, dieser hätte Zimmer zu vermieten. Der Barmann schenkt der Familie einen Apéritif aus, bevor es sich uns zuwendet und in den über eine Hühnerleiter zu erreichenden Verschlag mit fleckigen, schräg gegeneinander stehenden Matratzen führt. Wir hielten es nicht darin aus, wollen dieses St. Germain verlassen, das lediglich von alten Menschen bewohnt zu sein scheint, die ihre um die Hauptstraße angeordneten Fensterfronten trostlos geschlossen halten. Ein außerhalb im Tal gelegener Campingplatz ist unsere Rettung, die freundliche schwarzhaarig südamerikanische Wärterin vermietet uns ein Zelt als Dach über den Kopf für diese Nacht. Am Zeltplatzimbiss versorgen wir uns mit Pizza und Wein und sehen aus dem das Zelt umgebenden Gartenverschlag mit Sonnenblumen am Zaun auf die grünen menschenleeren Hänge im Abendlicht.
In St. Jean du Gard am Ausgang des Vallée Francaise zu den Ausläufern des östlichen Rhônetals und der südwestlichen Garrigue stoßend, dem abgeflachten Hinterland der Mittelmeerküste, treffen wir auf Karst, der ein südliches Licht ausstrahlt. Ich bitte den Rentner, der uns am Morgen bei Saint Germain aufgelesen hat, uns aussteigen zu lassen, und wir gehen am Rand von Kastanienwäldern zum Ufer des Gardon hinab. Mit Wurzelgestrüpp und Moos bewachsene leere Steinhütten. Felsblöcke an der Uferböschung. Klare Wasserstrudel. Hinter der Flusskrümmung ein Nudistenstrand. Im nahen St. Jean du Gard herrscht Markttreiben. Knatternde Mopeds und dröhnende Lkw’s, Touristen und Durchgangsverkehr. Wir versehen uns mit Weißbrot, Savon de Marseille, Oliven und Obst. Über Nacht finden wir ein notdürftig zur Gîte ausgebautes Scheunendach. Die Vermieterin wirkt verwelkt, fahl wie Hefeteig, eine leblose Erinnerung ihres früheren Selbst, Schatten in einem staubigen Korridor, der uns die Stiegen hinaufführt. Ein beständig anhebendes und wieder abebbendes Scharren im Dachstuhl begleitet unseren Schlaf, ein Wiesel oder ein Siebenschläfer oder ein Katzentier auf Beutejagd, ich bleibe im Schlafsack, weggedreht vom blanken Putz der Wand, auf der die Reste des Insekts kleben, das ich vor dem Schlafengehen erschlug, Reste angebrochener Tüten und Schachteln liegen auf dem Boden, die von jenen zu stammen scheinen, welche vor uns hier übernachteten, sie strömen einen dumpfen Geruch nach Feuchtigkeit, Kalk und einem unnennbaren Rest Fäulnis aus. Wir sind froh, als wir uns mit dem Morgen aus dem Schweißtuch der Schlafsäcke schälen und die Gîte nach einem blassen Milchkaffee verlassen können.
Wir setzen uns in den touristischen Dampfexpress ins südlich gelegene Anduze und verspeisen überreife Feigen, von denen ein säuerlicher Geschmack auf der Zunge verbleibt. Die offenen Coupés tragen die Herstellermarke Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft Görlitz 1939. Die Trillerpfeife des Schaffners, das Stöhnen der Lok und der Dampfausstoß des Kessels wirken wie Zitate aus einem alten Reisefilm. Nach der Einsamkeit der Kastanienwälder bringt uns Anduze mit einem Keulenschlag zurück in den Rumor der Zivilisation. Lärm, Staub, Verkehr, Hundekot und Ignoranz. Supermärkte und Touristenkarawanen. Statt schöner Landschaft Schilder, die eine schöne Landschaft zeigen, der Süden als makabrer Scherz. Wir finden ein Zimmer in einer Gîte für 200 Francs die Nacht und waschen unsere Sachen im Waschbecken mit der Savon de Marseille. Der Vermieter empfiehlt uns die Wanderung zu einer Grotte beim Dorf Mialet über die Landstraße von St. Jean du Gard. Eine zerfahrene, zu beiden Seiten agrarisch ausgebeutete Strecke. Wir gehen am Rand des Asphalts, auf dem uns der Zugwind der Wagen streift. Der trist schwüle Himmel reißt mit zusätzlichen Böen an uns. An einer Steigung asphaltieren Arbeiter die Strecke neu, ihr Fahrzeug bewegt sich im Schritttempo über die Straßenmitte und spritzt die flüssige Teermasse in Düsen auf den Belag, ihnen schließt sich ein Fahrzeug an, das Splitkörner darüber streut, gefolgt von einem Mann mit Walze, der die neue Kruste platt und eben drückt. So entstehen die Straßen der Welt. Ein Belag, keineswegs zum Gehen gemacht, der allein dem Fahren vorbehalten ist.
Wir machen Picknick am Ufer des algengrün durchscheinenden Gardon. Sitzen auf großen grauen abgeschliffenen Kalkblöcken, der Wind bewegt das Laub, ein friedlicher Ort. Die Wellen fangen beim Hinschauen silbergrau zu schillern an, wenn sie sich in der Strömung kräuseln, an der Stelle, wo der Fluss sich krümmt, ineinander verschränkte Halbkreise von Strudeln, einzelne Lichtfunken von der sich zeigenden Sonne regnen über die Oberfläche hin.
Wir nehmen einen Pfad über den Hügel, der an Gärten entlangführt. An Zäunen die Warnung „Défense d’entrer“ angebracht, von bellenden, die Zaunslatten hochspringenden Hunden dahinter eingeschärft. Aus einem Steinhaus kommt eine ältere Frau die Treppe hinab. Ihre Erscheinung gibt uns das Gefühl, in einer zivilisationsfernen Wildnis zu stehen. Als wir sie nach dem Weg nach Mialet fragen, bringt sie heiser krächzend hervor: „Mais le bois, mais le bois…“ Sind wir Hänsel und Gretel, die sich im Wald verirrten?
Wir sind wieder auf der Landstraße, abgehängt auf halbem Weg nach St. Jean du Gard, ohne Mialet oder die Grotte gefunden zu haben. Düsenjäger durchsieben die Nachmittagsruhe, beinah schrammen ihre Flügel die Hügelkuppen. Ein älterer Mann, der Deutsch mit uns zu reden beginnt, nimmt uns im Wagen mit nach Anduze zurück. Ich kaufe Wein im „Cave Cévénole“ bei einem Mann mit hochstehendem grauen Borstenhaar. „Un bon litre“, sagt er, als ich mir den Wasserflokon mit dem billigsten Roten, den er jedoch anpries, füllen lasse. Gegenüber unserer Herberge läutet die Abendglocke vom „größten Tempel Frankreichs“, die verkarsteten weißen Gipfel jenseits des Gardon im Dämmerlicht. Unter den Ziegeldächern schießen kleine schwarze Formen hervor, Fledermäuse, und teilen mit ihren Schwingen die Nacht.
Wir haben uns entschieden, den Weg nicht nach Süden, sondern weiter westlich in den Causses fortzusetzen. Trampend wollen wir in zwei Tagen Millau am Ausgang des Tarn erreichen. „Ihr macht euch aber früh auf die Spur“, sagt der Mann am Steuer, der uns gegen neun am Morgen bis zur großen Kreuzung vor der Stadt mitnimmt. Danach südwestlich bis St. Hippolyte-le-Fort im Wagen eines wortkargen, ernsten Mittfünfzigers, der mit monotoner Stimme etwas zur Gegend sagt: „C’est la Garrigue. Ça produit du très bon miel.“ Sainte Hippolyte ist ein hübsches Languedocstädtchen mit einem Museum, das sich der früheren Seidenproduktion in den Cévennen widmet. Auf der nordwestlich nach Le Vigan führenden Nationale hält ein belgisches Paar, das sich auf Deutsch mit uns unterhält. Sie machen jedes Jahr in Südfrankreich Urlaub, empfehlen uns das Städtchen Le Rozier zur Tagesrast. Wir verlassen sie hinter Le Vigan, wollen wieder in Richtung Berge, nach Meyrueis hinter dem Mont Aigual, auf der ansteigenden Piste, der Wald auf der dünner befahrenen Strecke ist bereits in die Mischpalette des Herbstes getaucht, die Luft atemklar. Erst nach der Mittagsrast hält wieder ein Wagen für uns an. Der alte Mann will alles von uns wissen, was wir so treiben, wie wir leben und bis wohin unser Weg noch führen soll. Er hält an einer Parkbucht des sich den Berg hinaufschraubenden Asphalts und lässt uns das Panorama der Causses genießen, dunkle bewaldete Massive, hellblaue Himmelsseide darüber gespannt. Am Col du Minier lesen uns zwei Männer in teurem Loden in ihrem Geländewagen auf, Vater und Sohn, die uns über den Mont Aigual bis Meyrueis bugsieren. Die Strecke ist so serpentinenreich, dass ich vor Übelkeit wenig zur Unterhaltung beitragen kann.
In Meyrueis berühren sich die Kalkplateaus der Causse Méjean im Norden und der Causse Noir im Süden, wir entschließen uns, der Landstraße in den Schluchten der Jonte bis zum empfohlenen Le Rozier im Westen zu folgen, es ist bereits später Nachmittag. Wald zu beiden Seiten, über den Felswänden der Gorges kreisende Gänsegeier – wir haben gelesen, dass sie nach ihrer Ausrottung hier wieder angesiedelt worden seien, aus einer spanischen Geierpopulation heraus, als Teil eines Artenschutzprogramm im Nationalpark Cévennen. Die einfallende Sonne über der Schlucht verringert sich zum Schlitz, unsere Hoffnung schwindet, vor der Nacht noch mitgenommen zu werden.
Wir haben Glück. Ein klappriger Kleintransporter überholt uns, hält am rechten Rand, bis wir die Seitentür aufgeschoben haben und hineingeklettert sind. Der Mann beruhigt den uns entgegenbellenden Hund und stellt sich uns vor, auf Englisch mit flämischem Akzent. „Ich bin Jean-Marc und der da“ – er wendet den Kopf zum Collie neben sich – „ist Flock. Dreißig Jahre hab ich als Postbote in Flandern gearbeitet, dann hat es mir gereicht und seit zwei Jahren bin ich an diesem Fleck. Ihr könnt bei mir übernachten, im Sommer betreibe ich eine kleine Gîte, Leute, die ich von früher kenne, besuchen mich, sagen es anderen weiter, im Winter ist es zu kalt dafür. Eben wollte ich auf der wilden Müllkippe nachsehen, ob wieder etwas Brauchbares herumliegt. Meine ganze Einrichtung, Stühle, Tische, Schränke, hab ich mir von da besorgt. Feuerholz in rauen Mengen.“ Doch jetzt thront ein Bulldozer auf der Müllkippe an der schwarzen Ausfahrt und hat den Hügel planiert. Aus dem Kassettenradio in Jean-Marcs Transporter vibriert die zarte Stimme Nick Drakes, des als Wunderkind gefeierten britischen Folksängers, der 1974 im Alter von 26 Jahren an einer Überdosis Antidepressiva verschied.
Jean-Marc zeigt uns sein Heim am Fuß der Felsen der Jonte-Schlucht. Eine provisorisch eingerichtete Kalksteinhütte, ein schwankender Brettersteig führt hinüber, mit Seilwinde und Flaschenzug befördert er seine Sachen über den Fluss. Flock fängt zu bellen an, als Jean-Marc kurz verschwindet, um das Seil zu ölen. „Er ist zwölf Jahre alt, fast blind und taub, kann mich nur noch riechen.“ Wir verschwinden ins Haus, er lässt den Motor an, der die am andren Ufer verstauten Sachen mit Hilfe einer Seilwinde zu uns hinübertransportiert. Wir verbringen den Abend zu Pasta und Tomatensoße um das Holzfeuer von Jean-Marc. Er lässt Songs von Leonard Cohen aus dem Recorder laufen. Erzählt uns von der Weltreise, die er eines Tages unternehmen will.
Am Tag steigen wir zur Hochebene der Causses über den Schluchten der Jonte hinauf; bei Le Rozier vereinigt sie sich mit dem von Norden kommenden Tarn. Eine Landschaft wie für die ersten Menschen gemacht, endlos, urtümlich, kahl. Die steilen Kalkwände zu beiden Seiten lotrecht in die Tiefe fallend, mit niedrigem Mischwald, Kiefern, Eichen, Wacholder, trockenem Gesträuch bewachsen, Geier schweben in der Luft, von den Winden talaufwärts getragen, urzeitliche Leere, deren Pfade stoßweise von Touristengruppen aus Reisebussen heimgesucht werden, dann wieder Stille und durchs Gestrüpp flackernde Windböen, die Schatten von Geiern wie Sekundenfilme über Steinwände und Laubdickicht flackernd. Am Abend sitzen wir bei Jean-Marc am Feuer und hören den frühen Bob Dylan auf seiner Mundharmonika zittern.
Unser letzter Tag in den Causses ist angebrochen. Jean-Marc fährt uns mit Flock im Volkswagentransporter bis Le Rozier, dann beginnen wir auf der Landstraße über den Mäandern des nahezu ausgetrockneten Tarn-Flussbettes zu gehen, bis ein Pärchen anhält, das erst einmal Platz auf der Rückbank seines Peugeot schaffen muss, um uns mitzunehmen. Sie sitzt im legeren Sommerkleid, er lächelt immerzu aus seinem braunen Rastalockengesicht, sie leben in den Tag, hier und da helfen sie bei der Ernte mit. Auf den letzten Kilometern vor Millau liest uns ein Junge in seinem alten Renault auf. „Ihr seid spät unterwegs“, sagt er, „jetzt, wo die Ferien zuende sind, brechen alle wieder auf.“ Im Bahnhof kaufen wir ein Ticket für den Nachtzug nach Paris. Wir sehen uns in den Gassen von Millau um. Die Stadt ist für ihre Lederwaren bekannt. Im Süden der Agglomeration mündet der die Causses durchbrechende Tarn in die Ebene des Languedoc mit ihren riesigen Wein- und Getreidefeldern und Gewerbegebieten am Straßenrand.
Wir haben uns auf einer in den Tarn ragenden Halbinselzunge im Gras ausgestreckt. Enten schnattern einen zornigen Blues am Kai des bleifarbenen grünlichgrauen Stroms. Meine Frau holt das Picknick aus dem Rucksack. Wir sehen zur Altstadt hinüber. Die mittelalterlichen Reste verstecken sich zwischen modernen Wohnsilos, verwitterndem Mauernwerk, Fabrikfassaden. Die alten, schiefen Schlote streiten sich in der Höhe mit den Kirchturmspitzen. Millau enthält all das, was uns die letzten Tage erspart geblieben ist. Autohäuser, Mopedläden, Bank- und Versicherungsfilialen. Pastistrinker tummeln sich unter den Markisen der Place Maréchal Foch. Das Office du Tourisme wirbt mit einem Großplakat für die neue, das Zentralmassiv durchziehende Autobahn.
In den Vitrinen des archäologischen Museums sind Fossilien, prähistorische Weichtiere, Abdrücke aus dem Kalk der Causses du Larzac ausgestellt, im Zeitraffer von drei Treppenstufen folgen Menschenknochen, Schädel, Werkzeuge, Pfeilspitzen, Schaber, Keile, Lanzen, Messer, Schmuck, knochenspitz geformt. Gegen sechs macht das Museum zu. Vergeblich suchen wir ein Restaurant, das bereits geöffnet hat. In einer Boulangerie versehen wir uns mit vier Quichetörtchen für die Fahrt. In der schmalen Einkaufsstraße hinken Invaliden mit Plastiktüten, jemandes rattenförmig ausrasierter Nacken vor mir, die Fugen des Gehwegs mit Hundekot bespritzt. Stechend heißer, mopedverknatterter, bruchstückartig konfuser, französisch zerredeter und vergestikulierter Languedocspätnachmittag.
Wir haben einen gegen die Fahrtrichtung sich neigenden Sitz im langen, spärlich besetzten Nachtzugabteil eingenommen, die Sitze aus Hartschalenplastik sind mit verschlissenem Orange verkleidet. Die Nichtraucherzeichen an den Scheiben hindern den kahlrasierten Typen vor uns nicht daran, sich eine Kippe anzuzünden. Ein anderer ist hingebungsvoll in die Seiten seines Fußballjournals versunken, als sei er nicht in Sportberichte, sondern schwerwiegende politische Artikel von Le Monde Diplomatique vertieft. Ein Stationsschild leuchtet auf: Marvejols. Ein Rastamann mit braunweißgeschecktem Hund steigt aus. Marvejols am Nordwestrand der Causses lieferte Mitte der 1980er Jahre die pittoreske ländliche Kulisse für Jean-Jacques Beneix’ amour fou Betty Blue – 37.2 Grad am Morgen. Frischer chamoisfarbener Mauerputz, auf den jemand mit schwarzer Fettkreide die Worte „ich liebe dich – je t’aime – te quiero“ gekritzelt hat; daneben ein Denkmal, dessen Inschrift an die zwischen 1941 und 1944 von den Deutschen ermordeten Bahnhofsangestellten von Marvejols erinnert. Der Zug fährt an, die Lichter der Station entfernen sich, wir gähnen im Tunnel des nachtweiten Niemandslands zwischen dem Midi und Paris.
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