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Thema
Dietmar Jacobsen
Erstdruck: Palmbaum 1/2021 / Thüringer Literaturrat e.V.
Gelesen von Dietmar Jacobsen
Auf der Suche nach der verlorenen Identität
1000 Serpentinen Angst ist Olivia Wenzels Debütroman. Die 1985 in Weimar als Tochter eines Vaters aus Sambia und einer ostdeutschen Mutter geborene Theaterautorin, Musikerin und Performerin hat darin eigene Erfahrungen von Fremdheit verarbeitet. Und das formell so raffiniert, dass das Buch sofort auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 landete.
Ein Bahnsteig in der ostdeutschen Provinz gibt den Hintergrund sowohl für den Beginn wie auch für das Ende des Romans ab. Hier macht sich die Ich-Erzählerin nicht nur auf eine reale Reise zu ihrer Großmutter, sondern sucht in ihrer Vorstellung auch Stationen ihres vergangenen Lebens auf. Eines Lebens, in dessen Verlauf sie immer wieder zur Außenseiterin gestempelt wurde. Nun, mit einem Kind im Leib, werden die Fragen, wer sie ist, was sie prägt und in welche Zukunft sie unterwegs ist, allerdings dringlicher.
Mit der in großen Lettern geschriebenen und sich ständig wiederholenden Frage »WO BIST DU JETZT?« – der Fragesteller bleibt im Verborgenen, in einem Zeitungsinterview hat Wenzel von den »fragenden Instanzen und Sprechweisen« gesprochen, die ihren Text strukturieren – werden Schauplätze aufgerufen, an denen die Erzählerin einst weilte. Berlin, Erfurt, New York, Hanoi und Orte in Marokko sind darunter. Nicht alle Fragen dienen der Selbstvergewisserung derjenigen, die sich ihnen stellt. Teilweise sind die sprachlichen Anstöße auch herausfordernd, provozieren das Erzähl-Ich, wenn dessen Antwort zu unkonkret ausfällt, oder dienen seiner Disziplinierung, wenn es ausweichen will. Fragen, die zu keiner Erwiderung führen, werden wiederholt oder fallengelassen, gelegentlich erfährt das Spiel zwischen Befragerin und Befragter auch eine Umkehrung.
Die Erzählerin bleibt im Übrigen namenlos. Es ist, so viel erfährt man als Leser immerhin, eine in einer thüringischen Kleinstadt groß gewordene junge Frau um die 30, Tochter eines angolanischen Vaters und einer ostdeutschen Mutter, die inzwischen als Künstlerin in Berlin lebt. Ihr Zwillingsbruder hat sich mit 19 Jahren das Leben genommen. Die Verbindung zu ihrer Mutter, die während der DDR-Zeit ständig gegen die herrschende (Un-)Ordnung protestierte und sogar eine Zeit lang im Gefängnis saß, ist abgebrochen. Der Vater ist in seine Heimat zurückgekehrt und meldet sich erst seit dem Tod des Sohnes wieder regelmäßig bei seiner Tochter.
Die sieht sich aufgrund ihres Aussehens – Hautfarbe und Frisur werden immer wieder als Merkmale erwähnt, die andere provozieren – von Kind auf rassistisch angefeindet. Als sie sich deshalb bei einer Reise in die USA plötzlich als Teil von etwas Größerem, den zig Millionen people of colour, erfährt und die in Deutschland vermisste alltägliche Solidarität auf der Straße erlebt, glaubt sie sich der ersehnten, in Kindheit und Jugend schmerzhaft vermissten Freiheit plötzlich näher als je. Aus Fremde wird Heimat und sie beginnt, sich in Situationen hineinzuträumen, in denen die erfahrene Welt eine andere geworden ist und damit für sie und ihresgleichen erträglicher. Philosophieseminare werden in ihrer Vorstellung von Töchtern aus türkischen Arbeiterfamilien besucht, deutsche Frauen bedienen in Dönerläden Kundinnen mit Kopftüchern – für viele völlig normal Gewordenes wird durch einen kleinen Dreh auf den Kopf gestellt und damit kritisch hinterfragt.
1000 Serpentinen Angst ist das innere Protokoll einer bohrenden Selbstbefragung. Eine Außenseiterin in mehrfacher Hinsicht – die Ich-Erzählerin kommt aus dem Osten, ist Schwarz und in ihrer Sexualität nicht festgelegt – verdeutlicht sich ihr bisheriges Leben, reflektiert die Ängste, die sie ständig begleitet haben und in die Behandlungszimmer verschiedener Therapeuten führten, ist sich andererseits aber auch ihrer Privilegierung als Künstlerin und werdende Mutter bewusst. Sie weiß, dass vor allem mit diesem noch ungeborenen Wesen neue Probleme auf sie zukommen werden, sieht sich aber nach der Auseinandersetzung mit sich und ihrem bisherigen Leben, die in diesem Roman geführt wurde, gewappnet für die Zukunft.
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