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Fragen an Thüringer Schriftstellerinnen und Schriftsteller
Annerose Kirchner
Reihe »Fragen an Thüringer Schriftstellerinnen und Schriftsteller« / Thüringer Literaturrat e.V.
1. Was verbindet Sie, nicht nur beim Schreiben, mit Thüringen?
Geboren bin ich in Leipzig. Habe die ersten vier Lebensjahre in der Großstadt verbracht, inmitten des heute so wunderbar sanierten attraktiven Waldstraßenviertels mit seinen beeindruckenden Wohnhäusern aus der Gründerzeit. Damals allerdings war alles ziemlich trist, die Spuren des Krieges noch überall zu sehen. Die große Wohnung in der Wettiner Straße, Straßenschluchten, eng beisammen stehende Bauten, die Straßenbahn und das nahe Rosenthal mit dem Zoo – das sind die Koordinaten meiner frühen Kindheit. 1955 zog meine Mutter mit mir in ihre Heimat, nach Zella-Mehlis, am Fuße des Thüringer Waldes. Das war für mich eine einschneidende, sehr bewusst wahr genommene Veränderung. Von der Stadt in den Wald. Diese neue Landschaft hat mich für mein weiteres Leben und Schreiben entscheidend geprägt, obwohl ich mit den Menschen dort oben nie so richtig klar gekommen bin. Es ist eine andere Welt: Die Berge trennen und teilen, das spiegelt sich auch in den Ansichten über das Leben wider. Wer anders tickt, hat es dort nicht leicht.
Thüringen ist mein Lebensmittelpunkt geblieben. Hier begann ich zu schreiben. Mit 20 Jahren wusste ich, das gehört zu mir, das muss ich machen, angetrieben durch meinen immensen Bildungshunger, die Freude am Lesen. Und ich wollte immer von den Bergen weg. Die haben mich eingeengt und begrenzt. Ich brauche Weite, Blicke in das Land.
In Thüringen bin ich schon sehr früh herumgekommen. Während meiner Arbeit als Steno-Phonotypistin beim »Freien Wort« in Suhl hatte ich oft Sonntagsdienst in der Redaktion. Dafür gab es einen freien Tag. Den habe ich auf meine Weise genutzt. Bin mit dem Zug durch Thüringen gefahren, nach Oberhof, Meiningen, Arnstadt, Erfurt, Gotha, Bad Langensalza, Weimar oder Jena. Habe Museen, Kirchen und Friedhöfe besucht, mich gerne auf Bahnhöfen oder in Gaststätten aufgehalten und bin durch die Städte geschlendert. Auch die alte Brauerei in Singen bei Arnstadt gehörte dazu. Das waren für mich Bildungstage. Die inspirierten auch zu Gedichten.
Als ich nach der Wende meine ersten literarischen Reportagen schrieb, wie die Porträts über Thüringer Handwerker (»Der Rausspeller«), erweiterte sich der Radius. Mit dem Auto konnte ich auch entlegene Gegenden erreichen, war immer mobil, ob das Fahrten in die Rhön, ins Grabfeld oder bis ins Eichsfeld betraf. Dabei lernte ich Thüringen sehr gut kennen. Diese Mobilität hält bis heute an. Sie schlägt sich in weiteren Büchern nieder, wie in dem Band »Spurlos verschwunden. Dörfer in Thüringen – Opfer des Uranabbaus«. Ohne den fahrbaren Untersatz hätte ich die jahrelangen, mitunter sehr anstrengenden Erkundungen (auch für Zeitungsreportagen) nie unternehmen können. Ich darf behaupten, ohne überheblich sein zu wollen, dass ich mich im Freistaat besser auskenne als mancher Thüringer. Wer nicht herumkommt, lernt Thüringen nicht kennen, höchstens per Landkarte. Dabei gibt es so viel zu entdecken. Thüringen ist ein Land der Vielfalt, das sich immer wieder neu entdecken lässt. Diese Vielfalt befördert meine Inspiration, mein Schreiben seit Jahrzehnten, ist untrennbar miteinander verbunden.
2. Was bringt Sie zum Schreiben?
Meine drängende Neugier. Als ich mit 14 anfing, meine ersten Versuche aufzuschreiben, war das keinem pubertären Liebeskummer oder Weltschmerz geschuldet. Ich wollte etwas gestalten. Singen konnte ich nicht, keine Stimme, Stricken und Häkeln auch nicht, aber Feuerholz hacken und Tannenzapfen im Wald sammeln… Zum Schreiben hat mich das Rezitieren – mehr ein Aufsagen und lautes Vorlesen – von Gedichten in der Schule gebracht. Das liebte ich. Die Sprache, den Rhythmus. Initialzündung war das Gedicht von Johannes R. Becher mit dem Titel »Ballade von den Dreien«. Nicht sein stärkstes Gedicht, aber von großer Dynamik und Sogkraft. Das stand im Schulbuch. Die Szenen, die sich darin »abspielten«, haben mich stark beeindruckt. Ich wusste plötzlich, welche Macht ein Gedicht haben kann, was sich für Welten in der Sprache dort zeigen. Das hat mich fort- und mitgerissen. Und ich dachte, vielleicht kannst Du das auch? Und dann habe ich angefangen zu schreiben. Meine ersten Zeilen handelten vom Tod und vom Selbstmord. Mein damaliger Deutschlehrer Herr Jahn sorgte sich sehr um mich, als ich ihm die Zeilen zeigte. Aber ich konnte ihn beruhigen. Alles nur Phantasie.
Starke seelische Gefühle waren neben der Neugier der Auslöser. Eine Heimsuchung, eine Offenbarung. Das hat sich bis heute nicht geändert. Und am Schreiben ist über die Jahre – ich war eine sehr stille Schülerin, zu Hause habe ich getobt – mein Selbstbewusstsein gewachsen. Das hat natürlich mit der Lebenserfahrung zu tun. Und das viele Lesen hat meine Kritikfähigkeit gestärkt.
3. Führen Sie Tagebuch oder ähnliche Aufzeichnungen, die Ihnen beim literarischen Schreiben helfen?
Nein, ich führe kein Tagebuch. Dazu fehlt mir die Disziplin. Ich hatte in frühen Jahren, in der DDR, damit mal angefangen, aber es nicht durchgehalten.
Dagegen habe ich immer Notizen gemacht. Diese Notizbücher – einige besitze ich noch – enthalten Gedanken zu Spielfilmen (weil ich seit meiner Kindheit ein großer Filmfan bin), Informationen aus allen möglichen Wissensbereichen, ob Natur, Philosophie, Architektur, Kunst, Theater, Fotografie, Zitate von Persönlichkeiten und Fakten über deren Leben (Rasputin, Kaspar Hauser). Dazu Anmerkungen über die Commedia dell’arte, Ruinenstädte in Alt-Peru, Expeditionen, z. B. von Sven Hedin durch die Taklamakan. Im Grunde genommen wieder eine Anhäufung von Wissen, ein zwangloses Sammelsurium. Vielleicht auch das Festhalten von flüchtiger Zeit.
Für das literarische Schreiben häufe ich Zettelberge an, Mappen sind gefüllt mit Blättern voller Stichworte – eine ziemlich konfuse Ordnung, aber manchmal zu gebrauchen, dann wird wieder aussortiert und manchmal entsteht daraus ein Plan, eine Idee, ein Gedicht.
Außerdem sammle ich in Aktenordnern interessante Zeitungsartikel, Texte aus dem Internet, vor allem über die aktuelle politische Lage in Deutschland und weltweit.
4. Haben Sie feste Schreibstunden? Was/wer hält Sie vom Schreiben ab? Sind Sie ein Prokrastinateur?
Feste Schreibstunden gibt es bei mir nicht. Schöpferisch sind die frühen Morgenstunden, ab 8 bis 12 Uhr. Manchmal sitze ich auch bis spät in die Nacht und falle um 2.30 Uhr ins Bett. Das ist heute nicht mehr so gut für meine Gesundheit. Sollte seltener vorkommen. Ja, die »Aufschieberitis« ist schon ein Problem für mich. Wie heißt es so schön, »Morgen, morgen, nur nicht heute…« Ich brauche Druck, um zu schreiben, vor allem wenn ein Verlag auf ein Manuskript wartet. Dann ziehe ich das durch. Aber weil ich zu selbstkritisch mit mir bin und ständig zweifle, stehe ich mir dabei immer im Weg. Mehr Disziplin beim Schreiben ist angesagt. Und dann kommen auch noch die alltäglichen Dinge ins Spiel, der Ein-Frau-Haushalt (Fensterputzen, Einkaufen, Kochen, Staubsaugen usw. usf.), mal ein Kinobesuch, eine Geburtstagsfeier, Gänge zu Ämtern. Das hält alles auf und stiehlt Zeit. Ist aber notwendig. Und wie schnell geht ein Tag zu Ende…
5. Ihr Lieblingsort – in Thüringen oder anderswo?
Das ist eine Frage, auf die ich keine eindeutige Antwort geben kann. Ich habe viele Lieblingsorte, hier in der Stadt Gera das Eiscafé de Bernardo, Brendel’s Buchhandlung, die Bibliothek, das Kino Metropol, das Theater (nicht mehr so häufig), das Otto-Dix-Haus, der Hauptbahnhof. Und viele Orte in Thüringen, wie das beeindruckende Bad Langensalza, der Kleine Gleichberg bei Römhild, Point Alpha (Geisa), der Jüdische Friedhof in Bauerbach, der Eingefallene Berg bei Themar, die Lasur in Gera oder die solitär stehende Kirche von Sorge-Settendorf… Die Liste lässt sich fortsetzen, weil ständig neue Orte hinzukommen. Außerhalb von Thüringen liebe ich die Insel Rügen, den Darß, auch aber den ganzen Osten (Polen, das Baltikum, hier die Kurische Nehrung). Da gibt es viele Orte, die mich festhalten wollen… Und natürlich Leipzig…
6. Wo haben Sie das Thema zu Ihrem letzten Buch gefunden?
Während meiner Recherchen kreuz und quer durch Thüringen.
7. Ihr Lieblingsbuch?
Na, das ist eine Standardfrage für Schriftsteller, die wird oft nach Lesungen gestellt. Kann ich eigentlich nicht beantworten, weil der Lesekanon so riesig ist. Das hat auch damit zu tun, dass ich seit Anfang der 1970er Jahre Bücher rezensiere, ab 1990 intensiv für die Tagespresse, jetzt auf meiner Homepage. Da sind mindestens bis 5000 Besprechungen zusammengekommen. Ich liebe eine Literatur, die bodenständig ist, deftig, kräftig, mitten aus dem Leben gegriffen, realistisch, ohne Schnörkel. Da denke ich an die Prosa eines Joseph Roth bis hin zu Wulf Kirsten (»Die Prinzessinnen im Krautgarten«). Ich bewundere Autoren, die assoziativ der Zeit und ihren Geschichten nachspüren, in literarischen Reportagen und Feuilletons. Sie sind mir Vorbild: Martin Pollack, Karl-Markus Gauß, Andrzej Stasiuk, auch eine Annie Proulx mit ihren großen Romanen aus Wyoming und Nobelpreisträger Patrick Modiano, der mir mit seiner Schreibweise und den dahinter steckenden Recherchen besonders entgegen kommt. Eines meiner frühen Lieblingsbücher – bis heute – ist »Oliver Twist« von Charles Dickens. Und ich liebe »Die Buddenbrooks« von Thomas Mann.
Und ich bevorzuge Bücher über menschliche Schicksale aus unserer jüngsten Vergangenheit, besonders aus der NS-Zeit, darunter »Babij Jar« von Anatoli Kusnezow, Daniel Mendelsohn »Die Verlorenen«, »Wie ein Schatten sind unsere Tage« von Inge Geiler bis hin zu »Lenas Tagebuch« (Belagerung Leningrads) von Lena Muchina. Das sind Bücher jenseits des Mainstreams. Keine Massenlektüre. Meine eigenen Entdeckungen. Dazu gehören auch Sachbücher über das Dritte Reich und den Holocaust.
Anmerkung: Von Wulf Kirsten habe ich die wichtigsten Lesetipps in Sachen Lyrik erhalten. Davon zehre ich bis heute. Habe während meines Studiums am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in der Deutschen Bücherei ganze Lyrikbände abgeschrieben, oft stundenlang. Und dabei natürlich unbewusst etwas vom Geheimnis des Gedichts erfahren, vielleicht… – Die Märchen der Brüder Grimm könnte man auch mal wieder lesen… Und: »Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett…«
8. Haben Sie schon einmal etwas bereut, das Sie geschrieben haben?
Ich stelle mir oft die Frage, ob das Schreiben überhaupt Sinn macht. Aber ich kann damit nicht aufhören. Es ist wohl wie eine Sucht. Da läuft im Inneren ein Motor, den man nicht abstellen kann. Bereut, ja, vielleicht, in meiner Jugendzeit, die ersten Versuche, die ich als misslungen betrachtet habe. Aber die notwendig waren, um weiterzukommen.
9. Was war für Sie Ihr größter Erfolg?
So eitel bin ich nicht, diese Frage zu beantworten. Das können vielleicht die Leser oder Literaturwissenschaftler oder Kollegen, die meine Bücher kennen. Oder die »Nachwelt«?
10. Welches Wissensgebiet interessiert Sie neben der Literatur am meisten?
Auch auf diese Frage kann ich nicht eindeutig antworten, weil mich die ganze Welt und die Kräfte, die sie zusammenhalten, interessieren. Vielleicht ist es die Musik, das Theater. Ich liebe seit meinem 12. Lebensjahr die Oper. Diese Liebe konnte ich pflegen während meiner fast zehnjährigen Arbeit am Geraer Theater und bis heute in der Verehrung von Opernsängern und ‑sängerinnen, ganz besonders Elena Obraztsova, vielleicht die beste »Carmen«, die es je gab. Und natürlich das Phänomen Maria Callas, weiter Martha Mödl, Brigitte Fassbaender, Placido Domingo… und viele mehr.
11. Was ist für Sie Stil?
Diese ästhetische Frage überfordert mich. Stil im Schreiben, Stil in der Kleidung? Was ist gemeint? Vielleicht findet sich die Antwort unter »Lieblingsbuch«…
12. Wer ist für Sie die bedeutendste Person in Thüringen oder anderswo?
Elisabeth von Thüringen. Goethe und Schiller. Ricarda Huch. Anderswo vielleicht Rosa Luxemburg, Indira Gandhi, Jane Goodall.
13. Hat man neben dem Schreiben noch Lust auf Bücher und Lesen – oder halten Sie es mit Kurt Tucholsky: Das bißchen, was ich lese, schreib ich mir selbst?
Ja, es gibt Schriftsteller, die nicht lesen, die fast keine Bücher in ihren Regalen stehen haben und sich selbst mit Zitaten aus ihren Büchern beweihräuchern. Das finde ich armselig. – Zu meiner Person: Ich bin über das LESEN zum SCHREIBEN = LERNEN gekommen und natürlich über tief einschneidende Erfahrungen/Prägungen in meiner Kindheit. Und vielleicht ist da auch noch eine andere unbekannte Kraft im Spiel. Wer weiß… Eine Antwort auf diese Frage ist unter »Lieblingsbuch« nachzulesen.
14. Ihr Lieblingsschlager oder Lieblingsvolkslied?
Wieder eine schwierige Frage. In meiner DDR-Jugend hörten wir die Schlagersendungen der Westsender, vor allem von Radio Luxemburg. Das passte natürlich unserem Staatsbürgerkunde-Lehrer nicht. Ich war und bin bis heute Beatles-Fan!! Mit Herbert Roths »Auf der Oberhofer Höh‹« bin ich aufgewachsen. Schrecklicher Kitsch, der bis heute geliebt wird. In der DDR gab es hohe Schlagerzeiten, mit Bärbel Wachholz und Helga Brauer. Frank Schöbel ist nicht unbedingt mein Fall. Ich mag Udo Jürgens, sein New-York-Lied oder »Siebzehn Jahr, blondes Haar…«.
Und dann bin ich vielleicht etwas rückständig, wenn ich als große Lieblinge und Stars Zarah Leander und Marlene Dietrich nenne. Gerade fange ich an, alte Beat- und Rock-Gruppen wieder zu entdecken wie »The Byrds«, »The Kinks« und »The Animals«. Wenn ich nur mehr Zeit zum Hören hätte! Lieblingsvolkslied – wer singt heute noch Volkslieder? Die sang man in der DDR schon kaum noch. Wir hörten damals die Songs vom »Oktoberklub« (»Sag mir, wo du stehst«). Kein Ersatz für Volkslieder wie »Am Brunnen vor dem Tore«, »Das Wandern ist des Müllers Lust«, »Es klappert die Mühle…« oder »Wenn alle Brünnlein fließen«.
In meiner Kindheit hat meine Mutter mit mir Weihnachtslieder gesungen, zum Fest: »Leise rieselt der Schnee«, natürlich »O Tannenbaum« und »Schneeflöckchen, Weißröckchen«. Das war sehr schön. Vor allem, wenn es in der Wohnstube heimelig warm war und draußen meterhoher Schnee fiel.
An dieser Stelle müsste man auch mal fragen, wie es um die klassischen Balladen bestellt ist, die heute fast keiner mehr kennt und auswendig aufsagen kann. Die wieder zu lernen ist genau so wichtig wie das Singen von Volksliedern. Ich bekomme mit Mühe noch die Anfänge von Goethes »Osterspaziergang« zusammen. Dieses Gedicht mussten wir in der Schule auswendig lernen. Das war obligatorisch.
15. Haben Sie ein (Lebens-)Motto?
Vielleicht: Der Weg ist das Ziel.
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