Vom Flüchtlingskind zum Hausautor – Die Erfurter Periode des Dichters Harald Gerlach (1961–1986)

Personen

Harald Gerlach

Ulrich Kaufmann

Ort

Erfurt

Thema

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Autor

Ulrich Kaufmann

Thüringer Literaturrat e.V.

In kei­ner deut­schen Stadt lebte der umtrie­bige Dra­ma­ti­ker, Lyri­ker, Erzäh­ler und Essay­ist Harald Ger­lach (1940–2001) län­ger als in Erfurt: Es waren 25 Jahre. Harald Schnie­ber (so sein Geburts­name) wurde in dem schle­si­schen Töp­fer­städt­chen Bunz­lau gebo­ren. Auf der Flucht ver­schlug es die Fami­lie in das süd­thü­rin­gi­sche Grab­feld, nach Röm­hild. In Mei­nin­gen machte Schnie­ber Abitur und schloss an der Leip­zi­ger Uni­ver­si­tät ein Jour­na­lis­tik-Stu­dium an. Die stark ideo­lo­gi­sierte Aus­bil­dung behagte ihm nicht. Und so ver­ließ er im Januar 1961 – bei noch offe­ner Grenze – die DDR, um auf Goe­thes Spu­ren Ita­lien ken­nen­zu­ler­nen. Im Gegen­satz zu dem Gro­ßen aus Wei­mar war er bet­tel­arm und nagte nicht sel­ten am Hun­ger­tu­che. Im März des glei­chen Jah­res wurde er bei sei­ner Rück­kehr an der »grü­nen Grenze« gefasst. Nach einer Unter­su­chungs­haft bekam er Gele­gen­heit, sich in der Pra­xis zu »bewäh­ren«. Dies tat er im Stein­bruch und anschlie­ßend   in Erfurt als Totengräber.

Der künf­tige Dich­ter war seit Mitte des Jah­res 1961 als Hof- und spä­ter als Büh­nen­ar­bei­ter am Städ­ti­schen Thea­ter Erfurt tätig. Nach einem Fern­stu­dium schaffte der Büh­nen­ar­bei­ter 1968 den Sprung zum Thea­ter­meis­ter. In Erfurt ver­liebte sich Harald Schnie­ber in die Opern­sän­ge­rin  Mar­lott Ger­lach, deren Fami­li­en­na­men er seit der Ehe­schlie­ßung 1968 trug. Der Namens­wech­sel war Teil sei­ner Künst­ler­wer­dung. Den lite­ra­tur­be­ses­se­nen Büh­nen­meis­ter inter­es­sier­ten vor allem die künst­le­ri­schen Pro­zesse auf den »Bret­tern, die die Welt bedeu­ten«. Aus dem Dra­ma­tur­gen und lite­ra­ri­schen Mit­ar­bei­ter des Thea­ters (seit 1970), der viele Pro­duk­tio­nen ande­rer Autoren betreute, wurde Harald Ger­lach nach und nach zum Haus­au­tor. Acht sei­ner dra­ma­ti­schen Texte erleb­ten in Erfurt ihre Uraufführung.

Am Beginn stand für ihn 1968 das Libretto für die Kin­der­oper »Das kalte Herz«, die zunächst in Alten­burg zu sehen war. Schon seine nächste grö­ßere Arbeit am Erfur­ter Thea­ter ver­ur­sachte beträcht­li­che Unruhe: 1979 kam das Sta­tio­nen­drama »Die Straße« zur Urauf­füh­rung. Im Zen­trum des Schau­spiels steht sein schle­si­scher Lands­mann und »Kol­lege« Johann Chris­tian Gün­ther (1695–1723), der mit 27 Jah­ren in Jena elen­dig zugrunde ging. Auch in Gedich­ten und in der Prosa (»Ver­mu­tun­gen um einen Land­strei­cher«, 1978) hat er sich mit dem Schick­sal des von Goe­the geschätz­ten Poe­ten beschäf­tigt. Nicht zuletzt durch seine Lie­bes- und Stu­den­ten­lie­der machte sich der Früh­auf­klä­rer einen Namen. Gün­thers ver­briefte, jedoch  geschei­terte Bewer­bung am Hofe August des Star­ken in Dres­den wurde nach der Bier­mann-Aus­bür­ge­rung von geflis­sent­li­chen Kul­tur­auf­pas­sern als ein Gleich­nis für das äußerst ange­spannte Ver­hält­nis zwi­schen Geist und Macht in der DDR ver­stan­den. Andere glaub­ten, das Stück habe mit dem Weg­gang des Poe­ten Rei­ner Kunze zu tun, der die DDR 1977 ver­las­sen hatte. Intern hat Ger­lach dies selbst ein­ge­räumt. Die Staats­si­cher­heit – auch hier der Ecker­mann des Dich­ters – hat dies in Schrift­form festgehalten.

Rich­ti­gen Zoff gab es mit dem 1984 urauf­ge­führ­ten Schau­spiel »Die Schicht« – mit Man­fred Heine in der Haupt­rolle. Ger­lach griff auf einen mehr­fach gestal­te­ten Stoff zurück: Das Leben des Vor­zei­ge­ar­bei­ters Adolf Hen­ne­cke. Die­ser Berg­mann hatte 1948 in einer Schicht 387 Pro­zent der Norm geschafft. Der Dra­ma­ti­ker demon­tiert die Hel­den­le­gende und zeigt, wie Hen­eckes Kol­le­gen des­sen Leis­tung als »Arbei­ter­ver­rat« emp­fin­den. Der Held – auch das offen­bart Ger­lach – ver­fällt dem Alko­hol. Der Ver­fas­ser die­ser Zei­len hat an Publi­kums­de­bat­ten zur »Schicht« in Erfurt teil­ge­nom­men. Ger­lachs Stück – von der Thea­ter­lei­tung als Bei­trag zum 35. Jah­res­tag der DDR geplant – wurde aus inhalt­li­chen und ästhe­ti­schen Grün­den ver­spä­tet zur Pre­miere gebracht. Diese Que­re­len tru­gen dazu bei, dass Ger­lach seine Thea­ter­ar­beit in Erfurt zu been­den trach­tete. Im Jahre 1984 hielt er die Belas­tun­gen am Erfur­ter Thea­ter nicht mehr aus und kata­pul­tierte sich selbst sich in die Frei­be­ruf­lich­keit. In dem klei­nen Roman »Geh­ver­su­che (1985) hat der Autor ver­sucht, seine bit­te­ren und ihn ver­stö­ren­den Erfah­run­gen mit dem (Erfur­ter) Thea­ter auf­zu­ar­bei­ten: »Das Thea­ter, auf das Georg (das Alter Ego Ger­lachs – U.K.) seine Hoff­nun­gen gesetzt hatte, fand er nicht. Der Wind drehte und blies auch hier nicht in den Rücken. Georg kam in ein Unter­neh­men, das ähn­lich gelei­tet wurde wie die Welt, die er ver­las­sen hatte. Von Finanz­plä­nen, von Anläs­sen und Gedenk­ta­gen. Von den sorg­fäl­tig geknüpf­ten  Bezie­hun­gen der Prot­ago­nis­ten. Von den Erwar­tun­gen eines dahin­däm­mern­den Pro­vinz­pu­bli­kums.« (S. 95)

Bezeich­nend ist, das sich Ger­lach mehr und mehr der Oper zuwandte: »Als in den sieb­zi­ger Jah­ren das Sprech­thea­ter in der DDR zuneh­mend wesens­fremde Auf­ga­ben über­neh­men zu müs­sen glaubte (Infor­ma­ti­ons­pflicht etwa, die anderswo nicht hin­läng­lich ein­ge­löst wurde; oder die Druck­aus­gleichs­funk­tion des Kaba­retts), da wuchs in mir die Sehn­sucht nach der Oper, die von sol­chen punk­tu­el­len Anfech­tun­gen weit­ge­hend ver­schont blieb und darum zu kom­ple­xe­rer Wir­kung befä­higt schien. Ich schrieb ein Libretto und suchte einen Kom­po­nis­ten.« (Thea­ter­mann, S. 74) Die­sen Part­ner fand Ger­lach in Karl Otto­mar Treib­mann, der unter ande­rem sein Libretto »Scherz, Satire, Iro­nie und tie­fere Bedeu­tung« ver­tonte. Ger­lachs Text beruht auf dem büh­nen­wirk­sa­men Lust­spiel von Chris­tian Diet­rich Grabbe (1801–1836), der neben Georg Büch­ner als wich­tigs­ter Dra­ma­ti­ker des Vor­märz gilt. Auch diese Insze­nie­rung erwies sich 1987, als die DDR-Gesell­schaft in ihren Struk­tu­ren unüber­seh­bar erstarrt war, als ein bri­san­tes kul­tur­po­li­ti­sches und künst­le­ri­sches Ereignis.

Es gab auch Men­schen, die die Arbeit des wider­stän­di­gen Autors zu schät­zen wuss­ten: Der Rat des Bezir­kes Erfurt ver­lieh ihm 1985 den Louis-Fürn­berg-Preis. Diese in Wei­mar ver­lie­hene Aus­zeich­nung war der erste Lite­ra­tur-Preis in sei­nem Dichterleben.

Für die Spiel­zeit 1986/1987 wech­selte Ger­lach als dra­ma­tur­gi­scher und lite­ra­ri­scher  Bera­ter an das Thea­ter  Rudol­stadt – gemein­sam mit dem Schau­spie­ler Man­fred Heine –, der dort zum Inten­dan­ten beru­fen wurde. Das aber sind andere Geschichten…

Der Thea­ter­mann Ger­lach arbei­tete – auch wäh­rend sei­ner Erfur­ter Peri­ode ­– gewis­ser­ma­ßen zwei­glei­sig. Nach und nach ent­wi­ckelte sich der nicht arri­vierte Autor zu einem Lyri­ker und Erzäh­ler von Rang. Ent­schei­dend wurde er dabei von dem Wei­ma­rer Dich­ter Wulf Kirs­ten unter­stützt, der auch Lek­tor des Auf­bau-Ver­la­ges war. Aus dem Men­tor wurde der Freund Kirs­ten. Ger­lachs Debüt war 1972 ein »Poe­sie­al­bum«, ein Jahr spä­ter erschien der erste Gedicht­band »Sprung ins Hafer­meer«. In sei­nen lyri­schen Tex­ten hat Harald Ger­lach der schö­nen Stadt Erfurt immer wie­der lite­ra­ri­sche Denk­mä­ler gesetzt: In dem Gedicht »Zum alten Schwan« erin­nert er an Chris­toph Mar­tin Wie­land, der in die­sem Gast­haus als Erfur­ter Pro­fes­sor lebte. In dem lyri­schen Text »Bar­fü­ßer Ruine« schreibt der Poet über die berühmte Bet­tel­or­dens­kir­che aus dem 14. Jahr­hun­derts, die 1944 durch Bom­ben zer­stört wurde. Auch von dem Gast­haus »Hohe Lilie« ist die Rede. Hier wohnte wäh­rend des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges mehr­fach der Schwe­den­kö­nig Gus­tav Adolf. In die­sem Hause erreichte ihn die Nach­richt vom Tode sei­ner Frau. In diese Gedicht­gruppe gehört auch der lyri­sche Text »Engels­burg«, einem Ort, an dem Leute tätig waren, die als Ver­fas­ser der »Dun­kel­män­ner­briefe« gel­ten. Diese Män­ner waren an einem Werk betei­ligt, das zur Welt­li­te­ra­tur gehört. Intime Erfurt-Ken­ner, zu denen sich der Autor die­ser Zei­len lei­der nicht rech­nen kann, wer­den wei­tere Gedichte fin­den, die sich mit der Stadt an der Gera beschäf­ti­gen. Grund genug, die fünf Gedicht­bände aus Ger­lachs Feder, die alle im Ber­li­ner Auf­bau-Ver­lag erschie­nen, in die Hand zu nehmen.

Ger­lachs Debüt als Pro­sa­au­tor war 1976 die Erzäh­lung »Das Grau­pen­haus«. Es war ein Pau­ken­schlag, obgleich viele dies erst spä­ter erkann­ten. Er schil­dert dicht und prä­zise, was er als Kind und Jugend­li­cher im Röm­hil­der Schloss erlebt hatte. Hier war in der Nach­kriegs­zeit ein Jugend­werk­hof unter­ge­bracht, den sein Vater gelei­tet hatte. Das DDR- Fern­se­hen hat die­sen Stoff (unter Mit­wir­kung Rolf Hop­pes) 1982 ver­filmt. Wei­tere Gedicht­bände, Novel­len und ein Hör­spiel folg­ten in jenen Jahre.

In Rudol­stadt hat­ten die Ger­lachs 1992 ihre Woh­nung ver­lo­ren. Ein zwei­tes Mal wurde  der Dich­ter de facto aus sei­ner Hei­mat ver­trie­ben. In Folge des gesell­schaft­li­chen Umbruchs 1989, den Ger­lach begrüßte, wur­den dem Dra­ma­ti­ker viele Thea­ter­pro­jekte und Ver­träge, die er unter ande­rem mit dem Wei­ma­rer Natio­nal­thea­ter und der Sem­per­oper abge­schlos­sen hatte, gekün­digt. Dar­un­ter war auch das für 1991/92 geplante Rie­sen­spek­ta­kel zum 1250. Erfur­ter Stadt-Geburts­tag und zum Faust-Jubi­läum. Die Urauf­füh­rung fiel der »Wende« und der neu besetz­ten Thea­ter­in­ten­danz in Erfurt zum Opfer. Als »Vor­stu­die« ist fol­gen­der »Mosa­ik­stein« aus dem Jahre 1979 überliefert:

 

FAUST IN ERFURT

Die frühe Neugier
meiden
der Krä­mer­bu­den über dem Fluß,
umge­hen den Weg, kar­ges Wissen
in dunk­lem Talar
zu verhüllen.

Nicht der Ruf
war mir vor­aus von
treff­lich inge­nium und
memo­ria, eher
das Kalendermachen.

Und hat noch lang kein
End, daß die Weisheit
Auf Jahrmärkten
Dienst neh­men muß.

Trau­fen­stän­dige Gas­sen zie­hen sich
Dächer über das Ohr
Vor dem Licht. Ich werd auch hier
Ein Schau­spiel geben müssen,
viel­leicht den Homerum:
Die Welt will das Wirkliche
Nicht benannt, nur
chaldä­isch oder als
nicro­man­tiae, coniurationes
dun­kel beschworen.

Im Juni 2001 ist Harald Ger­lach in Lei­men bei Hei­del­berg an einem Hirn­tu­mor gestor­ben. Begra­ben wurde der Poet im süd­thü­rin­gi­schen Grab­feld, in Röm­hild, sei­ner Wahlheimat.

Die Thü­rin­ger Kul­tur­stif­tung ver­leiht in Erfurt jähr­lich ein Harald-Gerlach-Stipendium.

 

Lite­ra­tur:

  • Dich­ter und Thea­ter­mann –  Harald Ger­lach. Hrsg. von Kai Agthe und Lothar Ehr­lich, Wei­mar 2007.
  • Wulf Kirs­ten, Unter­wegs mit Harald Ger­lach. In: Gegen­bil­der des Zeit­geis­tes – Thü­rin­gi­sche Remi­nis­zen­zen. Wei­mar 2009.
  • Jür­gen Serke, Die Toten haben den län­ge­ren Atem. In: Zu Hause im Exil – Dich­ter, die eigen­mäch­tig blie­ben in der DDR. Mün­chen, Zürich 1998.
  • Thü­rin­ger Autoren der Gegen­wart – Ein Lexi­kon. Hrsg. von Die­ter Fech­ner und Hed­wig Völ­ker­ling. Jena 2003.
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