Lesungen
6 : Anke Engelmann – »Der Zaun«

Person

Anke Engelmann

Orte

Erfurt

Weimar

Thema

Porträts und Podcasts

Autor

Anke Engelmann

Die Rechte am Text liegen bei der Autorin. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin. / Gesamtproduktion: Thüringer Literaturrat.

 

Ein Lada, ja. Und hier, der Zot­tel mit der Latz­hose, das bin ich. Das war ziem­lich genau zur Wende und eine Stunde oder so, nach­dem Mar­got das Foto geknipst hatte, haben wir das Auto zu Schrott gefah­ren. Da hab ich auch mei­nen ers­ten Com­pu­ter gese­hen, als wir den Zaun gebaut haben, bei die­sem Dings, die­sem Opern­sän­ger, ich komm jetzt nicht auf den Namen. Der Lada gehörte dem sei­ner Frau. Wie die Sache aus­ging? Keine Ahnung. Aber wie sie anfing, das weiß ich noch genau.

Die Villa war eine Wucht. Allein der Kon­zert­flü­gel bewohnte ein gan­zes Zim­mer. Das Ding schim­merte blitz­blank, kein Stäub­chen traute sich da drauf. Und eine Satel­li­ten­schüs­sel hat­ten die, für den West-Emp­fang. Dres­den, Tal der Ahnungs­lo­sen und so. Fern­se­hen geguckt haben wir trotz­dem nie, weil, die Schüs­sel stellte sich selbst mit einem Motor ein. Das rum­pelte der­ma­ßen, das ganze Haus hat gewa­ckelt. Des­halb haben wir nichts mit­be­kom­men, als es los­ging. Ach, und ein Com­pu­ter stand da. Ein Com­pu­ter! 1989, als die meis­ten das Wort Com­pu­ter noch nicht ein­mal kannten!

Doch das war nichts, rei­ne­weg nichts, gegen, und jetzt kommt’s: Eine ganze Stadt aus Lego-Stei­nen stand in einem der Jungszim­mer. Ach was, Stadt. Eine Metro­pole! Bestimmt zwei Meter im Qua­drat! Ein rich­ti­ges Kunst­werk, aus roter, blauer, gel­ber und wei­ßer Plaste. Mit Häu­sern! Einem Kirch­turm! Win­zi­gen Autos in den Stra­ßen, Brü­cken, die die Häu­ser mit­ein­an­der ver­ban­den, sogar Wol­ken­krat­zern. Ja echt!

Sowas hat­ten wir noch nicht erlebt. Aber wir dach­ten: Ein berühm­ter Opern­sän­ger und Pro­fes­sor noch dazu. In der gan­zen Welt war er unter­wegs, da sollte er zu Hause den Luxus nicht ver­mis­sen, damit er ebend brav wie­der kam. Der war ja ein Aus­hän­ge­schild der DDR. Stän­dig sah man ihn im Fern­se­hen, er schmet­terte Ope­ret­ten­a­rien im Kes­sel Bun­tes oder Volks­lie­der mit irgend­wel­chen Kin­der­chö­ren. Sogar wir kann­ten sein Gesicht, so berühmt war der.

Ihn selbst haben wir nur ein­mal getrof­fen. Gleich nach unse­rer Ankunft, wir stan­den mit unse­ren Kla­mot­ten etwas bedep­pert im Flur, kam er aus sei­nem Arbeits­zim­mer geschnippt. Er wirkte klei­ner, als ich ihn mir vor­ge­stellt hatte, aber kom­pakt wie ein ver­schnür­tes Bün­del. »Mar­got ja? Andy? Präch­tige Bur­schen!«, er griff sich Mar­gots Hand, schüt­telte sie und wollte nicht mehr auf­hö­ren. »Ein unge­wöhn­li­cher Name«, flö­tete er und Mar­got begann sofort, die Geschichte mit dem Cas­tel­lani zu erzäh­len und wie seine Haare tief­vio­lett gewe­sen waren nach der Fär­be­ak­tion mit dem Fuß­pilz-Zeug und er aus­ge­se­hen habe wie der lilane Dra­che und des­halb der Name … Dem seine Haare waren damals stop­pel­kurz und blond wie Küken­flaum, nor­ma­ler­weise. Ich trug Zopf und so ’ne John-Len­non-Brille. Denkt man nicht, dass ich mal lange Haare hatte, oder? Jeden­falls musste ich Mar­got in die Seite sto­ßen, aber der Pro­fes­sor grinste und träl­lerte opern­mä­ßig »Mar­got, Mar­got, du ent­schwan­dest …«, was im Nach­hin­ein irgend­wie pro­phe­tisch klingt.

Wir hat­ten dann nur mit der Frau vom Pro­fes­sor zu tun, mit der haben wir uns immer sehr nett am Früh­stücks­tisch unter­hal­ten. Die war frü­her mal Tän­ze­rin gewe­sen. Eine gepflegte Erschei­nung, nicht arro­gant oder so. Alle waren sehr ange­nehm. Und nie zu Hause. Außer Frau Pro­fes­sor zum Früh­stück haben wir da nie jeman­den gese­hen. Die Söhne stu­dier­ten außer­halb, glaub ich. Gepennt haben wir im Hob­by­kel­ler, Fuß­bo­den­hei­zung, das hat uns schwer beein­druckt. Wir durf­ten über­all ran und alles nut­zen. Mar­got hat natür­lich stän­dig am Com­pu­ter gezockt.

Wir waren unter­wegs wie Mac Guy­ver im Dop­pel­pack. Mar­got und Andy, die Super­spe­zia­lis­ten. Andy, das bin ich. Wir über­nah­men alles, was anfiel und wofür Leute Geld locker mach­ten. Schwarz natür­lich: reno­vier­ten Fach­werk­häu­ser, fäll­ten Bäume in engen Hin­ter­hö­fen oder repa­rier­ten die Dach­rin­nen von Kir­chen, nur mit Klet­ter­seil und Kara­bi­ner gesi­chert – wag­hal­sige Aktio­nen oft.

Vor dem Pro­fes­sor hat­ten wir einen Hei­den­re­spekt und den Auf­trag woll­ten wir beson­ders gut erle­di­gen. Kei­nes­falls durfte das so ein Desas­ter wer­den wie mit unse­rer Rau­fa­ser­ta­pete. Ich sag mal so: Eiweiß und Hafer­flo­cken eig­nen sich nur bedingt zur Über­brü­ckung von Ver­sor­gungs­eng­päs­sen im Bereich der Struk­tur­ta­pe­ten. Ist natür­lich an der Wand ver­schim­melt, das Zeug. War das ein Theater!

Trotz­dem, eine gute Zeit. Wenn man so will, haben wir uns dem Sys­tem ver­wei­gert. Wir sind nicht demons­trie­ren gegan­gen, jeden­falls nicht oft. Wir waren Aus­stei­ger, keine Ver­folg­ten, eher Nischen­hop­ser. Wenn man cle­ver war und keine Ansprü­che stellte, kam man im Osten gut durch damit.

Die Lot­to­ge­sell­schaft war unser Alibi, da waren wir ange­stellt. Ver­dient haben wir fast nichts, aber ohne Job konnte man urs­ten Ärger bekom­men, man stand quasi mit einem Bein im Knast. Assi-Para­graph. Des­halb haben wir jeden Mon­tag in Leip­zig brav Lot­to­scheine aus­ge­zählt und den Rest der Zeit unser eige­nes Ding gemacht. Pro­jekte, ohne Schicht und Bri­ga­de­pfusch, ohne Meis­ter vor der Nase oder Par­tei­se­kre­tär. Und wir waren gut – meis­tens jedenfalls.

In Losch­witz lief am Anfang alles wie geschmiert. Ein guter Zaun sollte das wer­den. Ein Kunst­werk für einen Künst­ler, geschraubt – nicht gena­gelt. Tag für Tag schul­ter­ten wir das Werk­zeug und gin­gen die paar Schritte zur Arbeit, wo Mar­got erst­mal eine Karo rauchte oder zwei, bevor wir los­leg­ten. Mar­got mau­erte am Ein­gangs­tor zwei Pfos­ten aus rotem Klin­ker­stein, die Fugen genau auf einer Linie aus­ge­rich­tet. Und dann die Zier­fu­gen: Vor­sich­tig mit der Kelle den Mör­tel zwi­schen die Steine ein­ge­führt, so dass die Klin­ker keine Fle­cken beka­men. Ich war der Holz­wurm und küm­merte mich um das Mate­rial, das der Pro­fes­sor orga­ni­siert hatte. Das bedeu­tete, wir hat­ten es von einer Groß­bau­stelle geholt und einen Kas­ten Bier, eine Fla­sche Whisky und einen ver­schlos­se­nen Brief­um­schlag dagelassen.

Orga­ni­sie­ren. So hieß das. Oder besor­gen. Es gab ja vie­les nicht. Zwar, mit wenig Geld konnte man gut leben, wenn man Prio­ri­tä­ten setzte und auf Luxus ver­zich­tete. Wir kamen gut ohne klar. Schwarz­geld, Bück­ware, Dienst­leis­tun­gen – wir ver­miss­ten nichts. Wenn wir was brauch­ten, orga­ni­sier­ten wir.

Doch dann packte mich das Lego­fie­ber. Lego! Sowas hatte es bei uns zu Hause nicht gege­ben. Lego, damit spiel­ten nur Kin­der mit West­ver­wandt­schaft. Meine Mut­ter hatte keine, nur Kin­der, die hatte sie genug. Fünf Stück waren wir, gespielt haben wir am Fluss oder im Neu­bau­ge­biet, die Bau­stelle war unser Aben­teu­er­spiel­platz. Aber Lego? Nie!

Ich also, in die Knie erst­mal und mit den Fin­gern die Stra­ßen­schluch­ten ent­lang. Ganz lang­sam. In die Häu­ser hab ich gel­unst, hier ein Dach abge­ho­ben und dort eine Tür geöff­net. Ganz vor­sich­tig. Das war wie Weih­nach­ten. Nein bes­ser. Wie Weih­nach­ten im Fernsehen.

Wen wundert’s, dass ein gel­ber Stein in mei­ner Hand kle­ben blieb. Die gel­ben sind beson­ders hübsch. Der steckte seine Nop­pen, wie von selbst, in einen wei­ßen, wozu sich wie­derum ein pas­sen­der Stein in gelb fand. Plötz­lich, ich weiß nicht wie, hatte ich einen win­zi­gen Turm in der Hand. In einem ent­zü­cken­den Schach­brett­mus­ter. Ich wollte ihn an die Kir­che ste­cken, aber da hätte ich alles aus­ein­an­der­neh­men müs­sen. Na, da hab ich dem Turm ein eige­nes Haus errich­tet. Und in die­sem Augen­blick kam mir, nein riss mich, die Idee für ein gro­ßes Pro­jekt: eine Ritterburg!

Den gan­zen nächs­ten Tag klim­per­ten die bun­ten Stein­chen in mei­nem Kopf herum. Völ­lig beses­sen war ich. Nach der Arbeit am Zaun hab ich mich ins Lego­zim­mer ver­drückt, ver­schwitzt und dre­ckig, wie ich war. Auf mich war­tete die Rit­ter­burg. Mein Pro­jekt. Jeden Abend. Die Tür ließ ich immer offen, falls doch mal jemand kom­men sollte. Obwohl, ich hatte nichts zu ver­ber­gen. Was auch.

Gebaut habe ich im Halb­dun­kel. Ohne Licht. Ich liebte das Kla­cken der Steine, wenn ich in dem Hau­fen wühlte und wie sich das Plas­te­zeug anfühlte in mei­ner Hand. Ein guter Hand­wer­ker kann mit den Hän­den sehen. Lange Abende saß ich, bis ich nicht mehr konnte, weil mir der Nacken weh tat und die Augen zufie­len. Wenn ich ins Bett ging, im Kel­ler, wo Mar­got auf der ande­ren Matratze schnarchte, war ich glücklich.

Doch dann gin­gen die Steine in der Kiste zur Neige.

Auf­hö­ren kam nicht in Frage.

Ich musste mir was ein­fal­len las­sen. Ich über­legte lange, doch so sehr ich die Sache drehte und wen­dete, es blieb nur eins: die Lego­stadt. Und so baute ich vor­sich­tig und nach und nach an eini­gen Häu­sern eine, viel­leicht auch zwei Lagen Steine ab. Sagen wir fünf. Mit Augen­maß. Ein Haus konnte ich ent­fer­nen, das fiel nicht groß auf, es brachte Nach­schub für lange Zeit. Um die freie Stelle zu ver­ber­gen, muss­ten die ande­ren Gebäude aus­ein­an­der rut­schen, jedes um einige Nop­pen auf der Grund­platte. Die Zie­gel für das Dach des Palas besorgte ich von einem drei­stö­cki­gen Wohn­haus, das ich zur Garage umfunk­tio­niert und mit einem prak­ti­schen Flach­dach aus­ge­stat­tet hatte. Über­flüs­si­gen Zier­rat ent­fernte ich, redu­zierte die Höhe der Wol­ken­krat­zer, lang­sam, vor­sich­tig. Jeden Abend ein biss­chen mehr. Mut zur Lücke.

Und der Zaun? Unse­ren Auf­trag nah­men wir wie immer sehr ernst. Ein guter Zaun würde das wer­den, aus wet­ter­fes­tem Lär­chen­holz, die Pfos­ten ein­be­to­niert und alles ordent­lich ver­schraubt – nicht gena­gelt. An der Vor­der- und Rück­seite des Grund­stü­ckes, die jeweils zu einer Straße wie­sen, musste die alte, knie­hohe Mauer mit­samt den Pfos­ten aus­ge­bes­sert und schmie­de­ei­serne Git­ter dar­auf befes­tigt wer­den – vom Pro­fes­sor bereits orga­ni­siert. Höl­zerne Zaun­fel­der soll­ten hang­auf­wärts das Grund­stück rechts und links von den Nach­barn abgren­zen. Wir muss­ten ver­rot­te­tes Holz ent­fer­nen, die Pfos­ten über­prü­fen, Lat­ten sägen, zusam­men­fü­gen und anbringen.

Mar­got mau­erte, und ich wühlte mich durch Holun­der­bü­sche und hackte Löcher in den stein­har­ten Boden. Dabei hatte ich einen guten Blick auf die gegen­über­lie­gende Seite des Tales, wo eben­falls ein berühm­ter Pro­fes­sor mit sei­ner Fami­lie wohnte. Wenn ich mich auf­rich­tete und hin­un­ter­blickte, fie­len mir die Stasi-Män­ner auf, die auf der Straße her­um­lun­ger­ten und die aus­sa­hen wie aus einem schlech­ten Agen­ten-Film. Echt, tota­les Kli­schee: Her­ren­hand­ta­schen am Hand­ge­lenk. Helle Män­tel. Unbe­tei­ligte Bli­cke und hin und wie­der ein ver­stoh­le­nes Wis­pern in den auf­ge­klapp­ten Man­tel­kra­gen. Klar haben wir uns gefragt, was die hier woll­ten. »Staats­be­such«, sagte Mar­got. »Hon­ecker kommt«, ver­mu­tete ich. Damit war diese Frage für uns erledigt.

Mit kei­nem Fit­zel­chen haben wir geahnt, was sich der­weil am Bahn­hof abspielte. Dass man die Züge mit den Men­schen durch Dres­den schleuste, die in Prag abge­hauen waren. Dass fast ein Bür­ger­krieg aus­ge­bro­chen war, als Tau­sende ver­sucht hat­ten, auf die Wag­gons zu sprin­gen. Und dass unser Freund Berti schon in Salz­git­ter im Auf­fang­la­ger saß.

Wir ahn­ten, aber wuss­ten nicht, dass die Mauer mehr als brö­ckelte, als wir an dem Zaun wer­kel­ten. Wie soll­ten wir! Den Fern­se­her igno­rier­ten wir, die Satel­li­ten­schüs­sel brummte zu auf­dring­lich. Außer­dem, wir hat­ten unsere eigene Rou­tine. Tags­über bau­ten wir, abends hat­ten wir zu tun. Mar­got am Com­pu­ter, ich im Legozimmer.

»Was machst du eigent­lich, wenn der Sohn nach Hause kommt?«, fragte Mar­got eines Abends.

»Wieso?« Fiel doch kaum auf, dass ich in der Stadt gewil­dert hatte. Und wenn doch: Meine Rit­ter­burg würde alles wie­der raus­rei­ßen. Trotz­dem ging ich ins Lego-Zim­mer und schal­tete zum ers­ten Mal das Licht an. »Ach du Scheiße«, flüs­terte Mar­got hin­ter mir.

Fiasko. Als wäre ein Ter­mi­ten­heer über die Lego­stadt her­ge­fal­len. Kraft­los und aus­ge­höhlt lag sie, die Stra­ßen viel zu breit, die Häu­ser nied­rige Bara­cken. Trüm­mer über­all. Was im Halb­dun­kel rie­sig aus­ge­se­hen hatte, mit lan­gen Schat­ten, geheim­nis­voll, wirkte im hel­len Licht wie gewollt und nicht gekonnt. Möch­te­gern-Metro­pole. Als hätte sie nie geblüht. Unwi­der­ruf­lich. Kaputt.

Und, schlim­mer noch: Arm­se­lig wirkte meine Rit­ter­burg. Kin­disch mit ihren Türm­chen und Zinn­chen und dem gebas­tel­ten Papier­fähn­chen auf dem Palas. Eine Rit­ter­burg? Das? Nie nich!

Mehr sag ich dazu jetzt nicht. Damals habe ich das Licht aus­ge­macht, die Tür geschlos­sen und mich zu Mar­got an den Com­pu­ter gesetzt. Der blickte nur kurz hoch. Nie wie­der bin ich in das Lego-Zim­mer gegan­gen. Com­pu­ter­spiele waren auch in Ordnung.

Und jetzt kommt das Ding mit dem Auto. Mann­mann. Die Frau vom Pro­fes­sor hatte uns erzählt, was über­haupt los war im Land und da muss­ten wir natür­lich unbe­dingt nach Leip­zig. Sie hat uns sogar ihren Lada geborgt. Ich sag doch, die waren total nett und groß­zü­gig. Wir haben was unter­zeich­net, dass wir ihr Genex-Schmuck­stück unver­sehrt zurück­brin­gen wür­den. Und das hat­ten wir auch vor, selbst­ver­ständ­lich. Klar. Warum nicht?

Nur war da die­ser Idiot vor uns an der Auto­bahn­auf­fahrt. So’n Trabbi. Him­mel­blau! Wir: geguckt. Da kam nichts, also Gang rein und los, RUNKS!, es tat einen rie­sen Schlag. Split­tern und Knir­schen, das ging bis unter die Kopf­haut, mir jeden­falls. Legt der Kerl doch genau in dem Augen­blick eine Voll­brem­sung hin! Dann klet­tert der aus sei­ner Pappe, läuft um sein Auto, an dem war nix, kein Krat­zer! Hebt die Faust, so teddy-thäl­mann­mä­ßig, steigt wie­der ein, schiebt einen Stin­ke­fin­ger aus dem Fens­ter und knat­tert davon. Wir waren völ­lig per­plex. Mist verdammter!

Aber was soll­ten wir machen! Wir pul­ten die kaput­ten Vor­der­lich­ter raus, ruckel­ten die Stoß­stange zurecht, ban­den die locke­ren Teile mit Bind­fa­den fest und über­leg­ten. »Wir fahr’n erst­mal nach Hause«, meinte Mar­got. »Da fällt uns bestimmt was ein.«

Tja. Das war die Geschichte. Mehr weiß ich nicht. Die Wende hat alles mit sich geris­sen, auch meine Erin­ne­rung. Von einem Augen­blick auf den ande­ren fiel alles ein, stürzte, brach aus­ein­an­der und sor­tierte sich neu. Nichts funk­tio­nierte mehr, keine Bezie­hun­gen, kein Impro­vi­sie­ren, kein Orga­ni­sie­ren. Quel­len ver­sieg­ten. Geld wurde wich­tig, das andere, rich­tige, und alle konn­ten alles kau­fen: Rau­fa­ser­ta­pete in allen Aus­füh­run­gen und Preis­klas­sen, Autos, Com­pu­ter und Satel­li­ten­schüs­seln. Freie Fahrt und Lego für alle und so.

Ver­stehste, der ganze ange­staute Mist brach sich Bahn mit einer Wahn­sinns­wucht. Nia­ga­ra­fälle. Da kannste nur Augen zu und durch. Und hin­ter­her sofort los­ru­dern, wenn die andern noch ver­zwei­felt nach Luft schnap­pen. Das haben wir auch gemacht, geru­dert meine ich. Bloß in die fal­sche Rich­tung. Weil, wir waren ein­fach gewohnt, immer gegen den Strom zu schwimmen.

Aber egal. Erst­mal hat­ten wir Glück – wir konn­ten einen schrott­rei­fen Sapo­rosch an einen Auto­fan aus Detroit ver­hö­kern. Der war völ­lig begeis­tert und wir zogen mit einer Stange Geld unsere eige­nen Pro­jekte durch. Mar­got star­tete zu einer Ost­see­um­run­dung mit dem Fahr­rad. Und ich? Ein Traum! Ich legte mir mei­nen ers­ten Com­pu­ter zu. Ein Com­mo­dore Amiga 500, auf­ge­rüs­tet auf ’zig Mega­byte und mit einem exter­nen Festplattenlaufwerk.

Dann zeig mal her, dein Schmuck­stück! Hm. Sys­tem­ab­sturz. Fest­plat­ten­crash. Da werd ich ein biss­chen bas­teln müs­sen. Aber keine Angst, das krie­gen wir hin!

 Lesungen:

  1. Verena Zeltner – »299 Tage«
  2. Wulf Kirsten – »Nachtfahrt«
  3. Ralf Eggers – »Geständnis«
  4. Kathrin Groß-Striffler - »Mein Haus«
  5. Ulrike Gramann – »Die Sumpfschwimmerin«
  6. Anke Engelmann – »Der Zaun«
  7. Jens-Fietje Dwars – »Audienz am Dienstag«
  8. Harald Gerlach – »Windstimmen«
  9. Rainer Hohberg – »Schloss. Träume. Hummelshain«
  10. Wolfgang Held – »Die Stunde der Führungsroller«
  11. Antje Babendererde – Lesung aus »Isegrimm«
  12. Roland Bärwinkel –»Mein See«
  13. Stefan Petermann – »Heute lernen wir Tschüss zu sagen«
  14. Kai Mertig – »Windmann geht die Stürme küssen«
  15. Bernd Ritter – »The Game«
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