Debatte: »Zukunft des Lesens – Zukunft des Buches«
7 : Frank Sellinat – Eine Lanze brechen für den Spießordner und seine Freunde

Thema

Debatten

Autor

Frank Sellinat

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Der Biblorhapte ist voll­stän­dig aus­ge­stor­ben. Sollte man auf irgend­ei­nem Dach­bo­den, in einer ver­ges­se­nen Samm­lung oder dem aller­letz­ten Archiv­win­kel doch ein­mal vor einer sei­ner Hül­len ste­hen, dann ist sehr wahr­schein­lich der sper­rige Begriff nicht mehr zur Hand und das Ding bleibt unbe­nannt und unbe­kannt. Der Biblorhapte ist der­ma­ßen von der Bild­flä­che ver­schwun­den, dass Abbil­dun­gen nur im Stil und nach der tech­ni­schen Mög­lich­keit sei­ner Zeit exis­tie­ren: im Holz­stich von vor 150 Jahren.

Warum soll der denn jetzt ans Licht gezerrt wer­den? Weil er das Buch im Namen trägt.

Der Biblorhapte wurde den Zeit­ge­nos­sen als »selbst­hef­ten­des Buch« ver­deutscht. Er war aber bei­leibe kein Auto­mat, und die Bezeich­nung »Spieß­ord­ner« trifft seine Funk­tion viel bes­ser. Sein Erfin­der ist anonym geblie­ben. Der Biblorhapte kam nach dem Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg aus Bel­gien oder Frank­reich als Novi­tät in die deut­schen Regis­tra­tu­ren und Kon­tore. Kein Buch­bin­der hatte dabei mehr Lagen oder Ein­zel­blät­ter zu hef­ten — die wur­den nun von einer durch Feder­me­cha­nik betrie­be­nen Spieß­leiste zusam­men­ge­hal­ten. Mit der Erfin­dung des »Aus­he­be­ord­ners«, des­sen Bügel in der Form zweier umge­dreh­ter Us durch eine Hebel­me­cha­nik geöff­net und geschlos­sen wer­den konn­ten, war der Biblorhapte über­lebt. Der Leitz-Ord­ner trat ab 1893 als sein Nach­fol­ger im Reich der Büro­mit­tel den »Sie­ges­zug um den Glo­bus« an, wie es gerne heißt.

Der Biblorhapte hatte das Buch nicht nur im Namen geführt, son­dern er sah auch von außen noch ein wenig so aus. Das kennt man aus der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit bei­spiels­weise von den »spre­chen­den Büchern«, Lite­ra­tur auf Magnet­bän­dern, oder von den VHS-Kas­set­ten­hül­len, die bis zu ihrer Ablö­sung durch die CD-ROMs gerne mit gewölb­ten »Buch­rü­cken« her­ge­stellt wurden.

Nie­mand käme auf die Idee, den Akten­ord­ner als Buch zu bezeich­nen. Wahr­schein­lich sind des­we­gen auch seine Vor­läu­fer in der Buch- und Ein­band­kunde bis heute nicht erfasst. Wenn ich aber einen län­ge­ren, gerne auch bel­le­tris­ti­schen Text aus dem Inter­net aus­dru­cke und die Blät­ter durch einen Schnell­hef­ter, Klemm­bin­der oder Akten­ord­ner bün­dele und schütze, wie heißt denn das, worin ich dann anschlie­ßend lese? Das Buch wird ja nicht durch den fes­ten Ein­band zum Buch; Paper­backs gibt es schließ­lich seit den 1930er Jah­ren — zählt man die bis zu 90 Jahre frü­he­ren Bände der Tauch­nitz Edi­ti­ons oder die Hefte von Reclams Uni­ver­sal-Biblio­thek nicht mit.

Viel­leicht defi­niert sich das Buch mitt­ler­weile bes­ser dadurch, dass es sehr zurück­hal­tend eine Mög­lich­keit anbie­tet? Die­ses Ange­bot besteht in der stil­len Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Text. Das hatte mal ganz anders ange­fan­gen: Einer der wich­tigs­ten Sprünge in der Kul­tur­tech­nik des Schrei­bens war die Ein­füh­rung von Wort­ab­stän­den und Satz­zei­chen. Vor­her waren alle Schrift­zei­chen auf einem Blatt lücken­los und gleich­mä­ßig an- und unter­ein­an­der gereiht. Das Auge blickte auf den Text wie auf ein gewe­be­ähn­li­ches Bild — daher der Name (lat. texere = weben) —, in des­sen Ver­wo­ben-Sein das Ver­ste­hen nur mit Hilfe des Hörens Ein­lass fand (so ähn­lich, wie man heute Briefe von Schreib­an­fän­gern laut lesen muss, weil das Ver­ste­hen sonst zu stark von der Ver­let­zung ortho­gra­phi­scher Regeln behin­dert wird: Die Wör­ter wer­den nicht erkannt). In den Refek­to­rien der Klös­ter hat sich das Laut-Lesen als Vor­le­sen wäh­rend der Mahl­zei­ten bis heute erhal­ten. Gerade in den Klös­tern müs­sen die ers­ten Für-sich-Lesen­den sehr miss­trau­isch beäugt wor­den sein: »Still lesen? In Ver­ein­ze­lung ver­sun­ken? Das war aber bis­her dem Gebet vor­be­hal­ten, dem Gespräch mit Gott!«

Jahr­hun­derte spä­ter ver­brennt eine per­verse Feu­er­wehr in Ray Brad­bu­rys Roman »Fah­ren­heit 451« (bei die­ser Tem­pe­ra­tur ent­zün­det sich Papier) Bücher, wo immer sie auf­ge­stö­bert wer­den kön­nen, mit Flam­men­wer­fern. In dem Zukunfts­ro­man aus dem Jahr 1953 sol­len Men­schen in Grup­pen vor gro­ßen Bild­schir­men genie­ßen, bzw. indok­tri­niert wer­den, statt wie in Eigen­sinn und unso­zial für sich allein zu lesen.

Wer heute lie­ber elek­tro­nisch liest, liest zwar still (und auf klei­nen Bild­schir­men), aber nicht unbe­dingt allein. Neben der Mög­lich­keit, als Lek­türe-Kon­su­ment so dif­fe­ren­ziert aus­ge­wer­tet zu wer­den, wie es bis­lang kein bera­ten­der Buch­händ­ler hätte tun kön­nen, muss ich als Leser mehr Kon­zen­tra­tion für das Gespräch mit dem Autor auf­brin­gen. Es gibt so viele wei­tere Stim­men, so viele Mög­lich­kei­ten, mich wei­ter zu kli­cken. Text auf Papier kommt mir im Ver­gleich wie unei­gen­nüt­zig vor und lässt mich damit stär­ker frei.

 

  • Frank Sel­li­nat *1962, gelern­ter Buch­händ­ler und Hand­buch­bin­der, ist in der Bestands­er­hal­tung der Anna Ama­lia Biblio­thek beschäftigt.

 Debatte: »Zukunft des Lesens – Zukunft des Buches«:

  1. Dr. Frank Simon-Ritz – »Zukunft des Lesens, Zukunft des Buches«
  2. Angela Egli-Schmidt – Lese ich oder liest mich das elektronische Buch?
  3. Peter Neumann - Die Zukunft der Literatur ist längst vergangen
  4. Dr. Martin Straub – Mal wieder Fühmann lesen
  5. Nancy Hünger – Gehab dich, Buch!
  6. Thomas Mechold – Gedanken über eine Zukunft des Antiquariats
  7. Frank Sellinat – Eine Lanze brechen für den Spießordner und seine Freunde
  8. Michael Knoche – Digital? Nie ohne Original
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