Zum Tod des Dichters Jürgen Becker – ein Nachruf von Jens Kirsten

Thema

Nachrufe & Gedenken

Autor

Jens Kirsten

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Als der sie­ben­jäh­rige Jür­gen Becker 1939 mit sei­nen Eltern von Köln nach Erfurt kam, wo sein Vater als Inge­nieur für Brand­schutz­an­la­gen tätig war, brach gerade der Zweite Welt­krieg aus. Jür­gen Beckers Geschichte ist die einer gestoh­le­nen Jugend in einem zer­ris­se­nen Deutsch­land. In der neuen Schule hatte er mit sei­nem rhein­län­di­schen Dia­lekt keine Schwie­rig­kei­ten. Erfurt war Gar­ni­sons­stadt und unter sei­nen Mit­schü­lern befan­den sich zahl­rei­che Kin­der von Offi­zie­ren, die aus dem gan­zen Reich nach Erfurt ver­setzt wur­den. Sie alle waren Ver­sprengte aus den Land­schaf­ten ihrer frü­hen Kind­heit. Wie Chris­toph Meckel, der 1935 in Ber­lin gebo­ren, gegen Ende des Krie­ges nach Erfurt kam oder der 1929 hier gebo­rene Rein­hard Lettau – mit bei­den ver­band Becker spä­ter­hin eine Freund­schaft. Diese Jahre präg­ten das Schrei­ben aller drei Dich­ter entscheidend.

Bei Kriegs­ende, als befreite Häft­linge in der nahe­ge­le­ge­nen Löb­er­feld-Kaserne Freu­den­schüsse ins Blaue abga­ben, traf eine der Kugeln das Dienst­mäd­chen der Beckers, die in den Armen des 13jährigen starb. Davon erzählte er kurz vor sei­nem 90. Geburts­tag in einem lan­gen Gespräch mit dem Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat. Die Ame­ri­ka­ner zogen erst ein, dann wie­der aus, die Rus­sen kamen, nah­men Quar­tier in der elter­li­chen Woh­nung. Jür­gen Becker ging 1947 mit dem Vater, seine Mut­ter war früh ver­stor­ben, über das ober­ber­gi­sche Wald­bröl 1950 zurück nach Köln.

Nach dem Abitur begann er Ger­ma­nis­tik zu stu­die­ren, brach das Stu­dium bereits nach einem Jahr ab. Die Jahre des Krie­ges waren mit einer sol­chen Erleb­nis­fülle ein­her­ge­gan­gen, dass der buch­stäb­li­che Hun­ger nach Leben sei­ner Genera­tion nur zu ver­ständ­lich war. Er reiste nach Frank­reich, lernte die fran­zö­si­sche Kul­tur ken­nen, die für ihn einen Zugang zur Welt öff­nete. Vor allem begriff er hier, dass er mit sei­nem bis­he­ri­gen Kul­tur­ver­ständ­nis nicht wei­ter­kam. In sei­nem 1964 erschie­ne­nen Pro­s­a­de­büt »Fel­der«, einer lite­ra­ri­schen Topo­gra­phie der Stadt Köln, brach Jür­gen Becker radi­kal mit tra­dier­ten For­men und gab seine ganz unver­wech­sel­bare lite­ra­ri­sche Stimme zu erken­nen. Das sorgte in der lite­ra­ri­schen Welt für Auf­se­hen. Becker schrieb sich in die deut­sche Lite­ra­tur ein, setzte Maß­stäbe, auch mit dem 1968 erschie­ne­nen Band »Rän­der«. Nicht durch ober­fläch­li­che Stil­übun­gen, son­dern durch etwas, das ihn sein gan­zes schrift­stel­le­ri­sches Leben beglei­ten sollte: die inten­sive Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­ner Geschichte und mit sei­ner Spra­che.  Für die fand er spä­ter den Begriff des Jour­nal­ge­dichts und des Jour­nal­ro­mans. Wenige Jahre vor sei­nem Tod sagte er, dass er im über­tra­ge­nen Sinn immer ein Gedicht fort­ge­schrie­ben habe.

1967 erhielt er den Preis der Gruppe 47, dem zahl­rei­che andere fol­gen soll­ten bis hin zum Georg-Büch­ner-Preis 2014. Becker arbei­tete beim WDR, war Lek­tor im Rowohlt Ver­lag und seit 1968 frei­be­ruf­li­cher Schrift­stel­ler. Ab 1973 über­nahm er die Lei­tung des Suhr­kamp Thea­ter­ver­lags und war für viele Jahre Lei­ter der Hör­spiel­ab­tei­lung im Deutschlandfunk.

Als 1989 der eiserne Vor­hang fiel und sich die inner­deut­sche Grenze öff­nete, stellte Jür­gen Becker für sich fest, dass er all die ver­gan­ge­nen Jahre mit dem Rücken zur Mauer gelebt hatte. Mit »Aus der Geschichte der Tren­nun­gen« (1999) schrieb er den bedeu­tends­ten Roman über die deut­sche Tei­lung und Wie­der­ver­ei­ni­gung. Dem war bereits 1993 der Gedicht­band »Fox­trott im Erfur­ter Sta­dion« vor­aus­ge­gan­gen, in dem er die erste Spur für die­sen Roman legte, gefolgt von der 1997 erschie­ne­nen Erzäh­lung »Der feh­lende Rest«.

Jür­gen Becker hat wie kaum ein ande­rer Schrift­stel­ler aus dem Wes­ten den Osten Deutsch­lands erkun­det und ihn lite­ra­risch weit über seine Kind­heits­land­schaft aus­ge­lo­tet. Jen­seits aller Orts­er­kun­dun­gen im Osten hat er sich mit der »wie­der­ver­ei­nig­ten Land­schaft« inten­siv aus­ein­an­der­ge­setzt. Auch in sei­nen spä­te­ren Bän­den, wie in »Die Rück­kehr der Gewohn­hei­ten. Jour­nal­ge­dichte« (2022), ist die Aus­ein­an­der­set­zung, sein Rin­gen mit der Geschichte noch spürbar.

Der Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat war mehr­fach mit Jür­gen Becker unter­wegs. Im Frank­fur­ter Lite­ra­tur­fo­rum spra­chen Jür­gen Becker und Wulf Kirs­ten ein­drucks­voll über ihre Kind­heit im Krieg. Im Lite­ra­tur­haus Köln begeg­nete er Jür­gen K. Hul­ten­reich, der 1948 in Erfurt gebo­ren wurde und in der Stadt auf­wuchs, die Becker gerade ver­las­sen hatte. Als der Frei­staat Thü­rin­gen im 2013 sei­nen Lite­ra­tur­preis zuer­kannte, wür­digte er nicht nur einen gro­ßen Dich­ter, son­dern einen, der sich um das gegen­sei­tige Ver­ste­hen und die Ver­stän­di­gung zwi­schen bei­den Tei­len Deutsch­land sehr ver­dient gemacht hatte. Mit Jür­gen Becker ver­liert die deut­sche Kul­tur eine ihrer wich­tigs­ten Stim­men. Wir trau­ern um einen gro­ßen Dichter.

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