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Anke Engelmann
Thüringer Literaturrat e.V.
Man stelle sich einen Kritiker vor, der sich einem künstlerischen Werk mit Demut nähert. Hans-Dieter Schütt ist so einer: »Ich staune, was Existenz auch alles ist. Das hält mich davon ab, vernichtende Urteile zu fällen.«
Hans-Dieter Schütt mag man oder oder man mag ihn nicht. Ein großer Fankreis schwört auf seine Literatur- und Theaterkritiken und seine etwa 35 Interview- und Porträtbücher über Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller. Andere verweisen auf seine DDR-Vergangenheit als Chefredakteur der Zeitung »Junge Welt«. Vielen, deren Wurzeln in der DDR liegen, gilt Schütt, neben Karl-Eduard von Schnitzler mit seinem »Schwarzen Kanal«, als das Symbol für Indoktrination und Hetze.
Nach der Wende schrieb Schütt 20 Jahre lang als Redakteur für das »Neue Deutschland« (ND, heute: nd), eine Zeitung, bei der jeder, der aus dem Osten kam, fragte: »Was, die gibt’s noch?« Und die aus dem Westen misstrauisch guckten, sodass man schnell versicherte: »Der Titel ist nicht deutsch-national und die Zeitung keine Nazi-Postille.« Ich weiß das, weil ich von 2003 bis 2008 selbst beim ND erst ein Volontariat absolviert und dann als Redakteurin gearbeitet habe.
Vor Schütti, so hieß er bei den Kollegen, hatte ich einen Heidenrespekt. Eine Edelfeder, nannte ich ihn bei mir, »ein Besessener«, dachte ich. Er schrieb eine Kritik nach der anderen, lange Texte mit klugen Gedanken und blitzenden Formulierungen, saß oft noch, wenn ich mich in den Feierabend verabschiedete. Den Kontakt scheute ich. Seine Artikel las ich nur kurz an, wenn überhaupt. Die zweite Frage im Bekanntenkreis galt nämlich meist ihm: »Beim ND arbeitet doch auch der Schütt?« Auch ein Grund dafür, dass mich fortan einige meiner früheren Weggefährten nicht mehr grüßten.
Der Name Schütt war in meinen Kreisen ein rotes Tuch. Für mich sah er mit seiner Frisur und dem Bart aus wie einer von uns. Inzwischen spiegelt sein Lebensweg auch das seltsame Spiel der Geschichte: Mancher, der Schütt in der DDR als ewig Gestrigen anprangerte, wurde mit den Jahren selbst zu einem, der seine Vorurteile wuchern lässt und anderen nicht zugesteht, dass sie aus Fehlern lernen. Schütt verkörpert Gegensätze, die man aushalten, einen Lernprozess, den man jemandem zugestehen muss.
Wer Schütt heute über seine Arbeit befragt, spürt Dankbarkeit und Demut. Dankbar sei er für die neuen Denkwelten, die sich mit der Wende eröffnet hätten, sagt er. Mit Demut nähert er sich den KünstlerInnen und ihren Werken, er wolle »nicht Gott sein in einer Welt, die ich nicht geschaffen habe«. Seine Haltung als Kritiker sehe ich aus einer schmerzhaft gewonnenen Erfahrung gewachsen und aus dem, was er sich selbst verordnet hat: Sich nie wieder einer Doktrin unterzuordnen, die, entgegen eigener Empfindung, vorschreibt, was gut und was schlecht sein soll. Als hätte seine Vergangenheit Schütt bescheiden gemacht.
Schütt selbst bringt sie offen ins Gespräch, zum Beispiel zum Fachtag Literatur 2020 in Erfurt, als er von dem Publizisten Jens-Fietje Dwars zu seiner Arbeit als Literaturkritiker befragt wird. Schütts Auseinandersetzung mit seiner Geschichte kann, wer will, auch in seinem Essay-Band »Glücklich beschädigt« nachlesen, der 2009 beim wjs verlag erschienen ist und der sich 30 Jahre nach der Wende jedem, der die DDR verstehen will, zur Lektüre empfiehlt – wenn man ihn ergattern kann.
In seiner Selbstkritik, die nichts beschönigt, und durch die, bei aller Scham und Reue, nie Selbstmitleid schimmert, hat mich dieses Buch beeindruckt. Obwohl ich aus einem anderen Umfeld komme, haben die Essays viel mit mir und meinem Leben in der DDR zu tun. Genau das ist die Forderung, mit der Hans-Dieter Schütt selbst an Bücher und Theaterinszenierungen herantritt. Seine Ausgangsfrage lautet: Woher weiß der Dichter das von mir?
Kein Abhaken scheinbar allgemeingültiger Kriterien. Nicht Plot, Sprache, Sujet bestimmen: Ist das gute Literatur? Auf einer Skala von eins bis zehn? Mit seiner Frage an das Werk befragt Schütt auch sich selbst, zeigt sich, öffnet sich, macht sich angreifbar und entzieht sich doch jedem Angriff, denn Erfahrungen lassen sich nicht in die Schubladen »richtig« und »falsch« sortieren.
Diese subjektive Herangehensweise kann nur Wirkung entfalten, wenn der Kritiker zum Medium wird, in dem sich die Verfasstheit der Gesellschaft mit dem Ausdruck mischt, den der Künstler, die Künstlerin, gefunden hat. Wenn die Welten, die die KünstlerInnen öffnen, Anlass bieten, eigene Reibungspunkte zu reflektieren. Wenn die LeserInnen bei der Lektüre der Rezension fragen: Woher weiß der Schütt das von mir?
Es gehört Mut dazu, Schmerz zuzulassen und trotzdem den Abstand zu suchen, der vor Zynismus oder peinlicher Selbstbespiegelung bewahrt. Und dies den LeserInnen vorzuleben, die in der Lektüre ihre eigenen schmerzhaften Erfahrungen wiederfinden und neu bewerten wollen. »Anna Karenina will sich umbringen, ich will mich umbringen, da sind wir schon zwei.« Stellvertretend lotet Literatur Lebensmöglichkeiten aus und der Kritiker bietet Übersetzungshilfen. »Lesen ist ein Tätigkeitswort«, sagt Schütt. »Diese Anstrengung macht einen Teil des Wertes aus.«
Das erfordert viel Reflexion und ist doch weniger egozentrisch als das, was in der Literaturkritik allgemein üblich ist. Er habe den Eindruck, so Schütt, viele Kritiker sähen nicht die Wege, die der Dichter gewählt, sondern die, die er verworfen habe. Ein handfester Verriss gehört für viele Autoren zum Literaturgeschäft, doch oft fragt man sich, was Rezensenten dazu bringt, eine schlecht lektorierte Banalität als DAS Nonplusultra zu feiern, das den Geist unserer Zeit auf bisher nie dagewesene Art erfasse.
Schütt feiert nichts, verreißt nichts. Schütt versteht sich als Vermittler, als Kritiker fühlt er sich als »Sekundärtalent«. Wahres Talent zeigten die Künstler, die Dichter, die Schauspieler. »Das dürfen wir nicht vergessen und nicht meinen, wir seien selbst Schöpfer.« Fest steht: Gute Literatur wird nicht vom Feuilleton gemacht. Doch das Feuilleton diktiert die Mode und damit das, was gekauft wird. Dass Schütt Bestsellerlisten verabscheut, liegt auf der Hand, so wie die Dinge liegen. Lieber folgt er dem Goethe-Verdikt, dass Neuerscheinungen wie guter Wein reifen müssen, und greift, wenn möglich, zu Büchern, die älter als fünf Jahre sind.
Doch was zeichnet gute Literatur aus? Ein Problem, das der Schriftsteller mit sich und der Welt hat, erwidert Schütt. Das ihn zum Schreiben treibt. Bei einem guten Autor verknüpfe sich das Persönliche mit der Zeit. »Sein Problem muss so groß sein, dass er nicht anders kann, als zu schreiben. Doch er muss so schreiben, dass seine Geschichte auch anderen etwas zu sagen hat.« Wenn das passiert, entsteht Kunst. Sie entsteht nicht, wenn die Motivation allein von außen kommt, aus dem Bedürfnis nach Gesellschaftskritik erwachsen ist.
Wer wie Schütt diesen Anspruch hat, den trägt auch ein gesunder Optimismus, dass Literatur und Lektüre eine Zukunft haben. Schütt ist sich sicher: Jede Generation wird ihre Form suchen und finden, Gefühlslagen zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht sitzt Kohlhaas längst in Guantanamo ein? Vielleicht kauft Woyzeck seine Erbsen bei Lidl? Zudem sei die Gesellschaft, was die Literatur angeht, wunderbar eingerichtet: »Für jedes Empfinden, jedes Gemüt, gibt es ein Segment.« Das sei der einfache Friede und dass jeder alles finden könne, das eigentlich Schöne. »Und«, fügt er hinzu: »man soll jeden Tag ein Gedicht lesen«: als Mittel der Entschleunigung gegen das »Überforderungsinstrumentarium«, das »Dahingeplätschere«, dem man permanent ausgesetzt ist.
Das Allgemeingültige zu erkennen und auszusprechen, dafür muss man den KünstlerInnen nahekommen, in ihre Denkwelten eintauchen, vielleicht bis zur Verschmelzung, zur Übertragung – anders als viele Kritiker, die prinzipiell ablehnen, mit denen zu sprechen, deren Werke sie bewerten. Ihm werde oft übergroße Nähe zu seinem Gegenstand vorgeworfen, sagt Schütt. Bis dahin, dass er in seinen Rezensionen manches ausspreche, was den SchöpferInnen selbst nicht bewusst war, so bisweilen deren erstauntes Feedback. »Ich entwickle ein Verständnis für das, was derjenige tut. Das stimmt auch milde.«
Stets spüre ich in seinen Artikeln ein Suchen, ein Abwägen. Als würde er etwas in die Hand nehmen, es wertfrei betrachten und dann beiseitestellen, um nach dem nächsten Punkt zu greifen. Dabei denkt er beim Schreiben wenig an die LeserInnen, wie alle AutorInnen, die ein Herzensthema verfolgen. Wenn mich etwas neidisch macht, dann dieses Privileg: Das Glück einer Arbeitsstelle, die ihm erlaubte, dass er sich seine Themen weitgehend selbst suchen und sein Talent entwickeln konnte. Dass er nicht des Geldes wegen schlecht bezahlte Arbeiten von ignoranten Auftraggebern annehmen musste.
Wen er gern noch porträtieren wolle?, frage ich. Handke. Immer wieder Handke. Bei Peter Handke finde er bis heute seine »biografische Grundierung«. Der Handke-Leser sei jemand, »dem das von Wissen starrende Ich abhanden kam«, schreibt Hans-Dieter Schütt in »Draußen Daheim«. Bei Handke macht er die »Suchbewegung des Autors nach sich selbst« aus. Und vor Handke empfindet Schütt so viel Respekt, dass er, der ausgefuchste Interviewer, sich scheut, dieses Anliegen an ihn heranzutragen.
Literatur:
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