Lesungen
15 : Bernd Ritter – »The Game«

Person

Bernd Ritter

Ort

Bad Tabarz

Thema

Porträts und Podcasts

Autor

Bernd Ritter

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Alle Rechte beim Autor.

 

»Ob man das, was einem
sowieso gleich gesche­hen wird,
etwas frü­her oder spä­ter wahrnimmt,
inter­es­siert doch die Gesell­schaft nicht.«

Franz Füh­mann, Die Ohnmacht

Die Wär­ter fal­len tot ins Nichts. Er ist schnel­ler als sie. Er ist ver­dammt schnell. Mit die­sen Fin­gern hät­test du Kla­vier spie­len kön­nen, sagt der Bru­der. Der nimmt ihn nicht ernst. Nie­mand nimmt ihn ernst. Ein Zucht­ob­jekt wie der Mozart? – nein danke. Was hatte der von sei­nem Welt­ruhm, die arme Sau. Nix! Der wusste nicht ein­mal davon. Er ist nicht so blöd. Er ist ein Spie­ler, ein Com­pu­ter­spie­ler. Der Beste! Jetzt zum Bei­spiel: Mit einem Klick sprengt er das Eisen­git­ter sei­nes Ker­kers. Schie­ßen konnte er schon immer – und nicht nur am Com­pu­ter, simul­tan sozu­sa­gen, nein, auch rich­tig: Im Gar­ten des Onkels. Da zer­platz­ten die Ketch­u­pfla­schen wie Men­schen­köpfe. Das war geil. Bis es lang­wei­lig wurde. Ketch­u­pfla­schen sind keine Men­schen­köpfe. Alles nur Täu­schung – wie in sei­nen Spie­len: Die Toten sind nicht wirk­lich tot. Oder wie im Fern­se­hen. Die schau­spie­lern doch nur. Ein­schalt­quote ist alles. Da las­sen sie auch schon mal einen kre­pie­ren – nur so, für die Kamera. Wenn das Bild weg ist, lachen die sich schief. Es gibt keine rich­ti­gen Mör­der und kein rich­ti­gen Opfer, nur Leute, die Mör­der und Opfer spie­len. Von wegen, er ver­wechsle Fik­tio­nen mit der Wirk­lich­keit. Er weiß Bescheid.

Die Todes­schreie der Wär­ter sind unna­tür­lich kurz. Echt Scheiße. Und auch die ver­ros­tete Sperre, die er gerade durch­bro­chen hatte, knarrt so wie ein alter Mann furzt.
Was soll’s: not­hing is per­fect. Sie können’s nicht besser.

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Das Spiel geht wei­ter. Da muss er schnell sein, die Ant­wort vor der Frage wis­sen, sonst hat er keine Chance. Er läuft durch die Däm­me­rung eines rie­si­gen Gewöl­bes ins Licht. Sein Schat­ten springt wie ein Hund um seine Beine. Drau­ßen bringt der röt­lich-gelbe Son­nen­schein die Häu­ser­wände zum Glü­hen. Fal­len, die sich im Boden vor ihm öff­nen, über­springt er mit Leich­tig­keit. Nur ein­mal bleibt er ste­hen, muss sich ori­en­tie­ren. Seine Feinde lau­ern über­all. Hin­ter den schwar­zen Fens­tern zum Bei­spiel. Er schießt auf Ver­dacht. Tat­säch­lich: Einer der Jungs taucht auf und ver­schwin­det wie­der. Getrof­fen! Der zuckte nicht mehr. Die Zahl der Getö­te­ten blinkt am rech­ten obe­ren Bild­schirm­rand. Er kann zufrie­den sein. Am liebs­ten hätte er noch mehr von denen umge­legt. Man weiß ja nie, ob diese uner­le­dig­ten Fälle nicht wie­der auftauchen.

Er sitzt in sei­nem Zim­mer hoch oben unterm Dach. Die Eltern schla­fen. Sie sind ahnungs­los und stolz auf ihn. Bar­fü­ßig spürt er den har­ten Tep­pich – springt aufs Bett und zieht sich die Decke über den Kopf. Und hockt in einem war­men Bau. Hier fin­det ihn kei­ner; hier kann er verschnaufen.

Bis das Spiel in die nächste Runde geht. Es ist noch nicht vor­bei. Ein­mal hat­ten sie ihn doch noch ein­ge­kreist und zurück geschleppt ins Ver­lies. Doch dies­mal soll­ten sie sich wun­dern. Dies­mal würde er nicht klein bei­geben. Dies­mal nicht! Der Gefäng­nis-Direk­to­rin zum Bei­spiel, die­ser kat­zen­äu­gi­gen Hexe mit den Bir­nen­ti­t­ten, – der würde er am liebs­ten die Spin­nen­fin­ger ein­zeln abschie­ßen. Ihr Raben­ge­krächze ver­folgt ihn bis in den Schlaf: DU ENTKOMMST UNS NICHT! Eine fiese Tante war das. Und ihrem Die­ner, die­ser wat­scheln­den Kröte, wird er beim nächs­ten Mal so lange zwi­schen die Augen bal­lern, dass sein Hirn die Wände tapeziert.

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Dies­mal macht er Ernst! Die nächste Runde star­tet. Das Licht des Moni­tors flu­tet über sein Gesicht: die hohe Stirn papier­nen weiß, die Augen tot. Nur die lan­gen Fin­ger leben­dig. Er wird tun, wovon die ande­ren nicht ein­mal träumen.

In Sprün­gen über­quert er den Platz, wo die Stra­ßen­bah­nen sich kreu­zen und biegt in eine Neben­straße ein. Nie­mand soll ihn bemer­ken. Er stellt sich vor, wie er der Bir­nen­ti­t­ten­hexe begeg­net. Er wird sie auf den Boden zwin­gen, das Gesicht nach unten, die Waffe im Genick. Das wird ein Spaß. Lang­sam wird er mit dem kal­ten Lauf ihren Rock nach oben schie­ben, bis sie vor Angst und Scham zu wim­mern beginnt und Was­ser lässt. Er schließt die Augen und ein seli­ges Lächeln huscht über sein Gesicht. Er ver­steckt sich in einem Gebüsch und war­tet, bis es still gewor­den ist. Dann schleicht er wie ein Raub­tier in den mäch­ti­gen Bau. Plötz­lich steht ein klei­ner Junge vor ihm. Er wolle Pipi machen. Und nimmt plötz­lich Reiß­aus. Da bekommt er eine furcht­bare Wut auf den Schis­ser. Und springt ihm nach und packt ihn bei den Schul­tern und schlägt ihn drei­mal an die Wand. Dann lauscht er in die Stille.

Der Junge rührt sich nicht mehr. Was soll’s. Der wird schon wie­der. Das ist nun mal kein Spiel für Angst­ha­sen. Er kramt die Pis­tole her­vor, schiebt ein paar Maga­zine unter den Pull­over und tritt ent­schlos­sen ins Licht. Im Vor­ge­fühl der Rache leuch­ten seine Augen. Laut­los schnellt er die Treppe empor. Und sieht sich um. Wie ein Jäger ist er: beherrscht und kon­zen­triert. Kein Zit­tern und keine Atem­not. Die Tür zur Bir­nen­ti­t­ten­hexe rührt sich nicht, ist ver­schlos­sen! Er lauscht, um irgend­et­was auf­zu­schnap­pen, viel­leicht einen Schritt, viel­leicht ein Geräusch. Nichts.

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Seine Augen wer­den zu schwar­zen Punk­ten. Er krümmt sich zusam­men und springt gegen das Hin­der­nis. Das stöhnt, hält aber stand. Da schreit er aus allen Kräf­ten und springt noch ein­mal. Nun split­tert das Holz und er stürzt in den Raum. Der ist ver­las­sen! Wie ein getrof­fe­nes Tier heult er auf. Das dau­ert nicht lange, dann hat er sich wie­der im Griff: Ver­kro­chen wird sie sich haben, doch sie ent­kommt ihm nicht! Da ist sie! Er schießt ihr ins Gesicht, bevor sie etwas sagen kann. Sie lächelt ungläu­big – dann ist sie tot. Es ist so leicht, denkt er.

Plötz­lich ent­steht Lärm. Das Grol­len schwillt an. Er hätte es wis­sen müs­sen: Die Bir­nen­ti­t­ten­hexe hat tau­send Leben! Sie ist über­all! Rasend schießt er um sich. Geöff­nete Mäu­ler schla­gen wie von Eisen­fäus­ten getrof­fen auf den Boden auf. Wie viele Arme sie hat, staunt er. Sie ist wirk­lich ein Unge­heuer. Und noch immer leben­dig. Unzäh­lige Beine sprin­gen wie Batail­lone von Rat­ten über die lie­gen­den Kör­per­teile hin­weg, die Flure ent­lang, die Trep­pen hinab, hin­aus auf den Hof. Einige blei­ben tot­ge­tre­ten zurück. »Wo kommt denn das viele Blut her?« Er reißt die Bluse von einem Stück toten Lei­bes und rei­nigt sich die Hosen. Erfüllt von stol­zem Ekel.

Unten auf der Straße sind ziem­lich viele Men­schen ver­sam­melt. Was ist da los? Ein Unfall? Autos sto­ßen hupend inein­an­der. Er hört Stim­men von unten her. Eine Tür geht quiet­schend auf. Im Licht steht ein Schat­ten. Wie das Männ­chen auf der Schieß­scheibe, denkt er. Das Männ­chen sieht ihn nicht. Es geht nicht ein­mal in Deckung. Stumm sackt es zu Boden.

Als es wie­der still ist, hat er den Wunsch, sich aus­zu­ru­hen. Heim­weh packt ihn. Am liebs­ten würde er nach Hause gehen. Plötz­lich steht eine schwarze Gestalt vor ihm. Er müsste schie­ßen, doch irgend­et­was hält ihn zurück. Er geht wei­ter, an dem Mann vor­bei, der ihn stumm pas­sie­ren lässt. Das wun­dert ihn. Kennt er mich denn nicht, fragt er sich. Irgend­wie fühlt er sich beleidigt.

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Da stößt ihn eine Faust in ein Zim­mer hin­ein. Die Faust des Krö­ten­manns! Wie­der hat­ten sie ihn gefangen!

Er schaut aus dem Fens­ter auf die Straße hinab. Men­schen lau­fen wie schwarze Flie­gen durch­ein­an­der. Ein eigen­ar­ti­ges Sum­men dringt zu ihm her­auf. Ein­ge­schlä­fert von der Mono­to­nie die­ses Geräu­sches und betäubt von der Schwüle des Nach­mit­tags schließt er die Augen. Eine unbe­schreib­li­che Leich­tig­keit ergreift ihn, als wüsste er um ein Geheim­nis, das nie­mand erra­ten wird.

Plötz­lich spürt er, wie Pisse seine Beine hin­ab­läuft. Klei­ne­jun­gen­pisse. Da ist ihm, als habe er etwas Unan­stän­di­ges getan. Er hebt, ohne nach­zu­den­ken, die Pis­tole an seine Schläfe und krümmt den Fin­ger. Sein Kopf schlägt gegen etwas Har­tes, und wäh­rend das Blut aus der Wunde schießt, sinkt er in fins­tere Tiefe.

 Lesungen:

  1. Verena Zeltner – »299 Tage«
  2. Wulf Kirsten – »Nachtfahrt«
  3. Ralf Eggers – »Geständnis«
  4. Kathrin Groß-Striffler - »Mein Haus«
  5. Ulrike Gramann – »Die Sumpfschwimmerin«
  6. Anke Engelmann – »Der Zaun«
  7. Jens-Fietje Dwars – »Audienz am Dienstag«
  8. Harald Gerlach – »Windstimmen«
  9. Rainer Hohberg – »Schloss. Träume. Hummelshain«
  10. Wolfgang Held – »Die Stunde der Führungsroller«
  11. Antje Babendererde – Lesung aus »Isegrimm«
  12. Roland Bärwinkel –»Mein See«
  13. Stefan Petermann – »Heute lernen wir Tschüss zu sagen«
  14. Kai Mertig – »Windmann geht die Stürme küssen«
  15. Bernd Ritter – »The Game«
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