Palmbaum – literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2022

Thema

Aktuelles

Autor

Jens-F. Dwars

Palmbaum, Heft 2/2022.

Jens-Fietje Dwars

Alles Dada?

Die absurde Welt und die Welt des Absurden

 

Die Welt ist absurd, das allzu kurze Gedächt­nis der Mensch­heit der ver­läss­lichste Humus, auf dem die dreis­tes­ten Lügen gedei­hen: Die Super­macht, die so viele Kriege wider das Völ­ker­recht geführt, Regime unter­wan­dert und gestürzt hat wie keine andere im 20. Jahr­hun­dert, erscheint als Frie­dens­en­gel, der die Welt Moral lehrt. Der »Wes­ten«, das Impe­rium des Kapi­tals, das von der Pari­ser Com­mune über die Inter­ven­ti­ons­feld­züge gegen das junge Sowjet­russ­land bis zu Allen­des Uni­dat Popu­lar noch jede Erhe­bung der Besitz­lo­sen in ihrem eige­nen Blut zu ersti­cken ver­sucht hat, erklärt sich zum allei­ni­gen Ver­tei­di­ger von Frei­heit, Demo­kra­tie und Men­schen­rech­ten. Eine alte Dame, die 70 Jahre lang nichts ande­res zu tun hatte, als die Auf­lö­sung des einst größ­ten Kolo­ni­al­reichs der Erde mit ana­chro­nis­ti­schen Ritua­len freund­lich lächelnd zu beglei­ten, wird als Die­ne­rin ihres Vol­kes mit dem größ­ten Pomp aller Zei­ten zu Grabe getra­gen. Und eine wahre Hoff­nungs­ge­stalt, die vor­mals zu Abrüs­tung und »Neuem Den­ken« ermu­tigt hatte, wird von jenen mit Kro­ko­dils­trä­nen betrau­ert, die ihr Leben lang alles dafür taten, dass sich seine Vision einer sozial gerech­te­ren Welt nicht erfüllt. Wäh­rend ein Nach­fol­ger die­ses »Hel­den des Rück­zugs« (Enzens­ber­ger) die Zukunft in der Ver­gan­gen­heit sucht: in der Zaren­herr­schaft eines öst­li­chen Imperiums.

Das Absurde ist, abge­lei­tet vom latei­ni­schen »absur­di­tas«, das »Miss­tö­nende«, das »Unge­reimte«, das Wider- und Unsin­nige. Solange der Aber­witz die Aus­nahme von der Regel ist, kann man ihn ver­la­chen. Wie über­haupt der Witz seit Urzei­ten die schärfste Waffe der Unter­le­ge­nen war. Der Witz als Geheim­waffe: bei Monty Python warf man ihn über die Front­li­nien, damit der Feind sich tot­la­che. Doch was tun, wenn der Irr­witz zur Nor­ma­li­tät wird. Wenn das Mas­sen­schlach­ten wei­ter- und wei­ter geht und wir sehen­den Auges in den Abgrund rasen?

1916, mit­ten im ers­ten gro­ßen Welt­ge­met­zel, brachte Hugo Ball das Offen­kun­dige im Club Vol­taire zur Spra­che: »joli­fanto bam­bla ô falli bam­bla«. Wenn die zivi­li­sier­tes­ten Natio­nen Euro­pas ein­an­der mit wehen­den Fah­nen an die Gur­gel gehen, dann sind sie dada. Dabei hat­ten sich noch 1912 Ver­tre­ter aller Arbei­ter­par­teien im Müns­ter von Basel hoch und hei­lig geschwo­ren, die Waf­fen wider die Her­ren im eige­nen Lande zu keh­ren, wenn die einen Welt­krieg ent­fa­chen und die Völ­ker gegen ein­an­der auf­het­zen wür­den. Doch nur ein gewis­ser Wla­di­mir Ulja­now hielt sich an die Abma­chung, der 1916 wie die Dada­is­ten in der Zür­cher Spie­gel­gasse hauste und dem Augen­blick der Ent­schei­dung entgegenfieberte.

Peter Weiss ver­dich­tet die­ses Zugleich in sei­ner Ästhe­tik des Wider­stands zum Bild der »dop­pel­ten Revo­lu­tion«, des poli­ti­schen Auf­bruchs und der Ent­fes­se­lung der Phan­ta­sie. Doch bele­gen die Real­ereig­nisse und die dar­aus fol­gende Geschichte nur das Neben­ein­an­der der bei­den Revo­lu­tio­nen, aus dem ein Gegen­ein­ader zu bei­der Scha­den erwuchs. Die sieg­rei­che Poli­tik erstarrte zum phan­ta­sie­lo­sen Macht­ap­pa­rat und die Kunst-Avant­garde zum Spe­ku­la­ti­ons­ob­jekt für Samm­ler und Fetisch der Museen. Wäre die Geschichte des 20. Jahr­hun­derts anders ver­lau­fen, wenn das soziale Auf­be­geh­ren sich mit den Form-Expe­ri­men­ten der Künst­ler ver­bun­den hätte?

Oder ist das Schnee von Ges­tern, holt uns das Vor­ges­tern ein: das Bewusst­sein, dass die Welt schon immer absurd war und das Absurde in den Küns­ten ein Trai­ning, um mit den Wid­rig­kei­ten des Daseins fer­tig zu wer­den? Wie die Bau­meis­ter des Mit­tel­al­ters, die mit Teu­fels­frat­zen und Mons­tren als Was­ser­speier einst die bösen Geis­ter zu ban­nen such­ten. War das Relief der »Schach­spie­len­den Affen« im Naum­bur­ger Dom eine War­nung an die Kle­ri­ker, sich nicht dem Spiel hin­zu­ge­ben, das die Kir­che ver­bo­ten hatte? Oder ein Bild dafür, dass der Mensch auch in der Klug­heit nicht auf­hört, ein Tier zu sein? Wie es bei Goe­the spä­ter heißt: »Er nennt‘s Ver­nunft und braucht‘s allein, / Nur tie­ri­scher als jedes Tier zu sein.«

Nicht im Tier lau­ert das Mons­ter, son­dern im Men­schen, der maß­los Maß­lo­ses begeh­rend alle Gren­zen der Natur miss­ach­tet. Je strah­len­der, desto schreck­li­cher: wie Phö­bus, der Son­nen­glei­che, in Hugos Der Glöck­ner von Notre Dame. Das Mons­tröse ist das Unför­mige, das ver­lacht und gefürch­tet wird, wie Qua­si­modo, der Ver­kannte. Kay Voigt­mann, ein heu­ti­ger Maler, zeich­net kleine bis­sige Mons­ter mit über­aus schar­fen Zäh­nen, die gerade in ihrer Unvoll­kom­men­heit mensch­lich erschei­nen: »Alles Form­voll­endete hat für mich etwas Fern-Unwirk­li­ches und Unmensch­li­ches«, bekennt er, »alles Ideale etwas End­gül­ti­ges, etwas, was also nüscht mehr trans­por­tiert und was es so hinie­den nicht geben kann …« Ist das absurd – oder weise?

In jedem Kind keimt eine neue Welt, wird die Spra­che neu gebo­ren mit jedem lust­vol­len »da dada dada da …«

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