Jens-Fietje Dwars
Alles Dada?
Die absurde Welt und die Welt des Absurden
Die Welt ist absurd, das allzu kurze Gedächtnis der Menschheit der verlässlichste Humus, auf dem die dreistesten Lügen gedeihen: Die Supermacht, die so viele Kriege wider das Völkerrecht geführt, Regime unterwandert und gestürzt hat wie keine andere im 20. Jahrhundert, erscheint als Friedensengel, der die Welt Moral lehrt. Der »Westen«, das Imperium des Kapitals, das von der Pariser Commune über die Interventionsfeldzüge gegen das junge Sowjetrussland bis zu Allendes Unidat Popular noch jede Erhebung der Besitzlosen in ihrem eigenen Blut zu ersticken versucht hat, erklärt sich zum alleinigen Verteidiger von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Eine alte Dame, die 70 Jahre lang nichts anderes zu tun hatte, als die Auflösung des einst größten Kolonialreichs der Erde mit anachronistischen Ritualen freundlich lächelnd zu begleiten, wird als Dienerin ihres Volkes mit dem größten Pomp aller Zeiten zu Grabe getragen. Und eine wahre Hoffnungsgestalt, die vormals zu Abrüstung und »Neuem Denken« ermutigt hatte, wird von jenen mit Krokodilstränen betrauert, die ihr Leben lang alles dafür taten, dass sich seine Vision einer sozial gerechteren Welt nicht erfüllt. Während ein Nachfolger dieses »Helden des Rückzugs« (Enzensberger) die Zukunft in der Vergangenheit sucht: in der Zarenherrschaft eines östlichen Imperiums.
Das Absurde ist, abgeleitet vom lateinischen »absurditas«, das »Misstönende«, das »Ungereimte«, das Wider- und Unsinnige. Solange der Aberwitz die Ausnahme von der Regel ist, kann man ihn verlachen. Wie überhaupt der Witz seit Urzeiten die schärfste Waffe der Unterlegenen war. Der Witz als Geheimwaffe: bei Monty Python warf man ihn über die Frontlinien, damit der Feind sich totlache. Doch was tun, wenn der Irrwitz zur Normalität wird. Wenn das Massenschlachten weiter- und weiter geht und wir sehenden Auges in den Abgrund rasen?
1916, mitten im ersten großen Weltgemetzel, brachte Hugo Ball das Offenkundige im Club Voltaire zur Sprache: »jolifanto bambla ô falli bambla«. Wenn die zivilisiertesten Nationen Europas einander mit wehenden Fahnen an die Gurgel gehen, dann sind sie dada. Dabei hatten sich noch 1912 Vertreter aller Arbeiterparteien im Münster von Basel hoch und heilig geschworen, die Waffen wider die Herren im eigenen Lande zu kehren, wenn die einen Weltkrieg entfachen und die Völker gegen einander aufhetzen würden. Doch nur ein gewisser Wladimir Uljanow hielt sich an die Abmachung, der 1916 wie die Dadaisten in der Zürcher Spiegelgasse hauste und dem Augenblick der Entscheidung entgegenfieberte.
Peter Weiss verdichtet dieses Zugleich in seiner Ästhetik des Widerstands zum Bild der »doppelten Revolution«, des politischen Aufbruchs und der Entfesselung der Phantasie. Doch belegen die Realereignisse und die daraus folgende Geschichte nur das Nebeneinander der beiden Revolutionen, aus dem ein Gegeneinader zu beider Schaden erwuchs. Die siegreiche Politik erstarrte zum phantasielosen Machtapparat und die Kunst-Avantgarde zum Spekulationsobjekt für Sammler und Fetisch der Museen. Wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts anders verlaufen, wenn das soziale Aufbegehren sich mit den Form-Experimenten der Künstler verbunden hätte?
Oder ist das Schnee von Gestern, holt uns das Vorgestern ein: das Bewusstsein, dass die Welt schon immer absurd war und das Absurde in den Künsten ein Training, um mit den Widrigkeiten des Daseins fertig zu werden? Wie die Baumeister des Mittelalters, die mit Teufelsfratzen und Monstren als Wasserspeier einst die bösen Geister zu bannen suchten. War das Relief der »Schachspielenden Affen« im Naumburger Dom eine Warnung an die Kleriker, sich nicht dem Spiel hinzugeben, das die Kirche verboten hatte? Oder ein Bild dafür, dass der Mensch auch in der Klugheit nicht aufhört, ein Tier zu sein? Wie es bei Goethe später heißt: »Er nennt‘s Vernunft und braucht‘s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.«
Nicht im Tier lauert das Monster, sondern im Menschen, der maßlos Maßloses begehrend alle Grenzen der Natur missachtet. Je strahlender, desto schrecklicher: wie Phöbus, der Sonnengleiche, in Hugos Der Glöckner von Notre Dame. Das Monströse ist das Unförmige, das verlacht und gefürchtet wird, wie Quasimodo, der Verkannte. Kay Voigtmann, ein heutiger Maler, zeichnet kleine bissige Monster mit überaus scharfen Zähnen, die gerade in ihrer Unvollkommenheit menschlich erscheinen: »Alles Formvollendete hat für mich etwas Fern-Unwirkliches und Unmenschliches«, bekennt er, »alles Ideale etwas Endgültiges, etwas, was also nüscht mehr transportiert und was es so hinieden nicht geben kann …« Ist das absurd – oder weise?
In jedem Kind keimt eine neue Welt, wird die Sprache neu geboren mit jedem lustvollen »da dada dada da …«
Abb.: Covergestaltung Jens-Fietje Dwars unter Verwendung einer Collage von Reinhard Zabka.
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