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Mario Osterland
Thüringer Literaturrat e.V. / Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
die Fahrbahn ist ein graues Band / weiße Streifen, grüner Rand
Kraftwerk
(Aufzeichnungen unabgeschlossener Recherchen)
Ich habe gebinged. Etwas, das ich nur sehr selten tue. Aber Netflix hat es geschafft, mich an eine Serie mit dem schrecklichen Titel Formula 1: Drive to survive zu binden. Im Grunde nichts weiter als eine Dauerwerbesendung für die in der Krise steckende Königsklasse des Motorsports. Dramatischer aufgemacht, als die Formel 1 in den letzten Jahren war, übt die Serie keinerlei Kritik und stellt keine unbequemen Fragen über die Zukunft des Motorsports. Stattdessen seifenopernartige Inszenierungen von Leistung, Macht und Konkurrenz zwischen Fahrern, Konstrukteuren und Sponsoren. Gute Unterhaltung.
Der Formel 1 kam jahrzehntelang eine Pionierfunktion in Sachen technischer Neuentwicklungen zu. Benzin-Direkteinspritzung und Bremskraftrückgewinnung sollen auf die Rennserie zurückgehen. Heute beharrt man auf dem Argument »der Erlangung von Extremwerten«, um »das technisch Machbare auszuloten«. Das klingt wie ein Exposé zu einem Lyrikband. Reichlich abstrakt.
Seit 2014 fährt die Formel 1 mit Hybridmotoren und einem Energierückgewinnungssystem, dass das Treibstofflimit von 105 kg pro Fahrzeug ausgleichen soll. »Immerhin«, denke ich reflexartig, obwohl ich gar nicht weiß, was das für die CO2-Bilanz der Rennserie zu bedeuten hat.
Großer Preis der Emilia-Romagna in Imola. Nach zwanzig Jahren das erste Formel-1-Rennen, das ich mir ansehe. RTL überträgt live. Noch immer. Noch immer Florian König, noch immer Heiko Wasser und Christian Danner, noch immer Kai Ebel. Noch immer Kai Ebel! Vor dem Start hat es angefangen zu regnen, das Rennen verläuft entsprechend turbulent. Unfälle, Safty Car, Reifen- und Boxenstoppstrategien. Verstappen gewinnt vor Hamilton und Norris.
Imola und die Tamburello-Situation. 1989 hatte Gerhard Berger in der legendären Highspeed-Kurve einen schweren Unfall, als bei einer Geschwindigkeit vom 280 km/h der Frontflügel seines Ferrari brach und der unkontrollierbar gewordene Rennwagen in eine Betonabgrenzung raste. Der Wagen fing Feuer, doch Berger überstand den Unfall vergleichsweise leicht verletzt. Fünf Jahre später verunglückte an gleicher Stelle Bergers Freund Ayrton Senna tödlich. Beide hatten zuvor immer wieder die Kurve inspiziert und kritisierten, dass ihr eine angemessene Auslaufzone fehlt. Doch die Betonmauer, in die beide Fahrer einschlugen, lässt sich nicht versetzen, da direkt dahinter der Santerno fließt. Die Natur legt an dieser Stelle die Grenzen des Streckenverlaufs fest. Erst nach Sennas Tod kam man auf den Gedanken, dass man statt der Natur auch die Strecke verändern kann und entschärfte die Tamburello-Kurve durch eine Schikane.
Kurven sind auch nicht für die Ewigkeit gebaut. Die ehemalige Ostkurve des Hockenheimrings ist heute ein Biotop und Brutraum für Heidelerchen. Nur noch ein Erdwall erinnert vage an die Highspeed-Ära der Strecke.
Überhaupt fällt mir die Einbettung der frühen Rennstrecken in die Natur auf. Auffällig auch, wie oft Streckenabschnitte oder ganze Kurse durch Waldgebiete verlaufen. Die AVUS führt schnurgerade durch den Grunewald, Silverstone liegt zwischen drei Waldstücken, in Spa-Francorchamps fuhr man ursprünglich über öffentliche Landstraßen durch Weide- und Waldgebiete und der Hockenheimring ist vollständig integriert in den Schwetzinger Hardt.
Der Nürburgring natürlich. Die Nordschleife. 21 km legendärer Asphalt durch die bergige Eifel. Keine Rennstrecke ist so stark geprägt von der Landschaft, in die sie gebaut wurde. 73 Kurven und 300 Meter Höhenunterschied machen sie zur wahrscheinlich anspruchsvollsten Rennstrecke der Welt. Jackie Stewart gab der Nordschleife den Beinamen »die grüne Hölle«. Unzählige schwere Unfälle endeten zwischen den Bäumen des Adenauer Forstes, in den die Rennwagen und ihre Fahrer geschleudert wurden. Nicht selten fanden Wanderer rund um die Nürburg noch sehr viel später Trümmerteile verunglückter Fahrzeuge. Trotz des Asphalts bleibt die Nordschleife ein Gelände.
»Der Rennwagen ist ein prähistorisches Ungeheuer, das aufgehört hat zu schlafen: ein Fossil, das von Neuem beginnt und das hunderttausend in der Sekunde machen möchte, um die verlorene Zeit nachzuholen.« (Saint-Pol-Roux)
Wald und Asphalt. Natur und Geschwindigkeit. Wenn ich davon ausgehe, dass Geschwindigkeit eine spezifische Menschenzeit erzeugt (individuelle Fortbewegung durch Beschleunigung), die nicht mit einer Naturzeit identisch ist (Pflanzenwachstum, Werden und Vergehen), dann ist Geschwindigkeit also widernatürlich? Wo schlummern meine Aufzeichnungen über »Verschwinden und Geschwindigkeit« von vor Jahren?
Die belgische Rennsport-Legende Jacky Ickx betonte in einem Interview, dass es ursprünglich nicht seine Absicht war, Rennfahrer zu werden. Vielmehr konnte er sich in seiner Jugend vorstellen, als Gärtner oder Wildhüter zu arbeiten. »Also taten Sie im Grunde genau das Gegenteil von dem, was sie sich eigentlich wünschten.« – »Ja, so könnte man es ausdrücken.«
Ich bin unzählige Runden auf der Nordschleife gefahren. Auf der Xbox, auf YouTube, auf Google Maps. Der Mythos hat mich. Unzählige Runden und unzählige Versuche, die Stelle von Niki Laudas Feuerunfall von 1976 nachzuvollziehen, doch irgendwie rase ich immer vorbei. Wehrseifen, Breidscheid, Bergwerk und schon wieder weiter Richtung Karussell. Ein anspruchsvoller Abschnitt, aber Laudas Unglück hing nicht am Tempo oder der Strecke, sondern wahrscheinlich an einem technischen Defekt. Dennoch läutete der Unfall das Ende der »grünen Hölle« als Grand-Prix-Strecke ein.
»Rasen: es mit dem Tod treiben.« (Saint-Pol-Roux)
All das mit Verbrennungsmotoren, angetrieben durch fossile Brennstoffe. Was in Millionen von Jahren entstand, wird in Sekunden verbrannt.
Der ehemalige Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg hat sich nach seinem Abschied aus dem aktiven Rennsport ganz der Elektromobilität verschrieben und fordert auch von der Formel 1 den Umstieg auf E‑Motoren. Zwischenzeitlich warb er auch für den Einsatz synthetischer Kraftstoffe als eine Möglichkeit, weiterhin Verbrennungsmotoren im Rennsport einzusetzen.
Unter synthetischen Kraftstoffen habe ich mir zunächst im Labor erzeugte Flüssigkeiten vorgestellt, künstlich eingefärbt wie z. B. Heizöl. Allerdings sind die synthetischen Kraftstoffe meiner Vorstellung nicht pink, sondern blau. Heute weiß ich, dass mit synthetischen Kraftstoffen in Verbrennungsmotoren meist der Einsatz von Methanol gemeint ist. Methanol würde die Leistungsfähigkeit eines Verbrennungsmotors sogar steigern, hat jedoch nur die Hälfte des Heizwerts von Benzin. Der Wirkungsgrad einer methanolbetriebenen Brennstoffzelle liegt sogar nur bei 25 %. Zudem ist die Herstellung von Methanol sehr energieaufwändig, was den Kraftstoff verteuert.
Warum stelle ich mir synthetische Kraftstoffe blau vor? Wahrscheinlich wegen BlueMotion und BlueEFFICIENCY. Modellbezeichnungen, mit denen sich Volkswagen und Mercedes-Benz in den 2000er-Jahren einen umweltfreundlichen Anstrich verpassen wollten. Blauer Planet und so. Trotzdem heißt es Greenwashing.
Welche Farbe hat Klima- und Umweltschutz? Welche Farbe hat CO2-Neutralität? Blau oder Grün? Reines Wasser, reine Luft und Harmonie vs. Natur, Pflanzen, Ökologie und Hoffnung. Marketingfragen.
Als erster deutscher Autobauer kündigt Audi das Ende seiner Produktion von Verbrennungsmotoren an. Ab 2026 werden in Ingolstadt nur noch Fahrzeuge mit Elektroantrieb gebaut. Selten bekam eine Nachricht aus der Wirtschaft von mir so viel Aufmerksamkeit. Das Ende der Verbrenner findet statt. Und ausgerechnet Audi wird zum Vorreiter. Ausgerechnet Audi, die seit Jahrzehnten zu den großen Marken im Motorsport zählen. Seit dem Jahr 2000 allein 13x Gesamtsieger beim 24-Stunden-Rennen in Le Mans. Zuletzt 2014 mit dem hybridgetriebenen R18 E‑Tron Quattro, ein 4,0 Liter V6 Turbodiesel mit 395 kW (537 PS) Leistung plus 170 kW Elektromotor.
Wo die deutsche Politik noch immer auf der Bremse steht, schafft die Autoindustrie Fakten. Die Neuerfindung der individuellen Mobilität ist ein globales Geschäft, das aus einem globalen Problem resultiert. Kein weltweites Wirtschaftsunternehmen kann es sich leisten, auf nationale Verordnungen und Beschlüsse zu warten.
»Denn es ist die Bewegung des Individuums, die die Veränderung der Welt in sich trägt.« (Oliver Grajewski / Kathrin Röggla – tokio, rückwärtstagebuch)
Wenn ich bedenke wie viele Audis ich auf meinen Spaziergängen zähle, lässt mich der Gedanke nicht los, dass all diese Fahrzeuge die neuen Pferde sind, die aus dem Stadtbild, dem Alltag der Menschen verschwinden werden.
Audi kündigt an, auch seine Motorsport-Abteilung umzustrukturieren. Bereits 2016 zog man sich aus der Langstrecken-Weltmeisterschaft (und damit auch von den 24-Stunden-Rennen von Le Mans) zurück. Die Ausstiege aus DTM und Formel E sollen folgen. Stattdessen will man 2022 als erster Hersteller mit einem vollelektrischen Prototyp an der berühmten Rally Dakar teilnehmen.
Das Team Rosberg X Racing gewinnt auch das zweite Rennen der in diesem Jahr gestarteten Offroad Rennserie Extreme E, bei der mit rein elektrisch angetriebenen SUVs gestartet wird. Die Rennen findet an Orten statt, die vom Klimawandel besonders betroffen sind. Ausgetragen werden je ein Desert‑, Ocean‑, Arctic‑, Amazon- und Glacier-Grand-Prix in Saudi-Arabien, dem Senegal, Grönland, Brasilien und Argentinien. Jedes der zehn startenden Teams besteht aus einem Fahrer und einer Fahrerin, die sich während des Rennens abwechseln müssen.
Nach Audi gibt auch Volkswagen den Zeitpunkt für das Ende ihrer Verbrennungsmotoren bekannt. 2035 ist Schluss. Volkswagen. Zweitgrößter Automobilkonzern der Welt. Die Pionierzeit der Elektromobilität ist vorbei.
Apropos Pionierzeit. 1898 wurde die Duchess d’Uzès, Anne de Rochechouart de Mortemart, im Bois de Boulogne von einer Polizeistreife angehalten. Sie fuhr mit ihrem Motorenwagen 15 km/h, obwohl nur zwölf km/h erlaubt waren. Sie musste fünf Franc Strafe zahlen und löste damit eine Mode aus. Der Pariser Adel beging reihenweise Temposünden, um zu zeigen, dass man sich die Strafe leisten konnte. Die Duchess war die erste Frau, die einen Führerschein besaß, gründete den ersten Frauenautomobilklub der Welt und gilt als erste Kundin des französischen Autopioniers Émile Delahaye. Das von ihr gefahrene Modell type 1 war mit einem 2,5 Liter Zweizylinder-Motor und einem 3‑Gang-Getriebe ausgestattet. Laut Hersteller brachte es der Wagen bei einer Leistung von sechs bis acht PS auf bis zu 30 km/h.
Etwa zehn Jahre zuvor hatte die Maschinenfabrik A. Flocken in Coburg das erste Elektrofahrzeug der Welt gebaut. Elektrisch angetriebene Wagen waren in der Anfangszeit der Kraftfahrt sehr beliebt, da sie wesentlich leichter zu steuern waren als vergleichbare Dampfkraftwagen oder Wagen mit Verbrennungsmotor. Dennoch waren Elektrowagen ab ca. 1910 fast vollständig von den Straßen verschwunden.
»Wenn wir mit dem Auto bremsen, sehen wir mit den Augen unserer Vorfahren ein Pferd, das sich auf den Hinterbeinen aufbäumt.« (Saint-Pol-Roux)
Das Auto hat man also neu erfunden, die Elektroantriebe wiederentdeckt wie einen Kontinent, der jahrhundertelang von Eis bedeckt war. Jetzt fantasiere ich kurz von einer Renaissance der Pferde. Denn dass das Auto die Neuerfindung des Pferdes gewesen sein soll, ist eine Analogie, die ich nie ganz gelten lassen konnte. Trotz Pferdestärken etc. Und trotz logischer, trotz ständiger Weiterentwicklungen gibt es eindeutige Zäsuren. Das Ende der Pferde war so eine. Das Ende der Verbrenner ist so eine. Sie führt vielleicht zu einer Renaissance, zu einer Erholung, zumindest aber zu einer Unterbrechung, einer Zäsur im weiter so.
Falls nicht, bleibt immer noch der Trost, dass die Natur nach uns sich alles zurückholt. Echter Trost.
In einem Fernsehinterview mit Thomas Gottschalk sagte Niki Lauda bereits 1985, dass man langsam auch mal was für die Umwelt tun müsse und dass er Geschwindigkeitsbegrenzungen auf deutschen Autobahnen für sinnvoll hält, wenn die Situation es erfordert.
Wo schlummern meine Aufzeichnungen über »Die Rückkehr der Natur an von Menschen verlassenen Orten« von vor Jahren? (Sie wären jetzt zu ergänzen durch aufgegebene Rennstrecken. Hockenheimring Ostkurve etwa.) Ein vor Monaten gescheiterter Essay darüber ist allenfalls noch als Ideensteinbruch zu gebrauchen. Die reale Krise führte ein Nachdenken über (Post-)Apokalyptisches ad absurdum. Seit der Pandemie habe ich kein Interesse mehr am Weltuntergang.
Das Unbehagen der Sehnsüchte. »Alle wollen zurück zur Natur, aber niemand will dahin laufen«, hab ich irgendwo einmal aufgeschnappt.
Mein Kurzschluss zu Jim Clark. Der zweimalige Formel-1-Weltmeister war eigentlich Landwirt und Schäfer und sehnte sich laut Jackie Steward stets auf die Felder Schottlands zurück. Er starb 1968 auf dem Hockenheimring.
»Das Rennen entsteht aus (ist der Ausdruck) einer Gleichgültigkeit gegenüber sich selber.« (Saint-Pol-Roux)
Großer Preis von Ungarn auf dem Hungaroring. Das Rennen, das von einer Unterbrechung mit kuriosem Neustart geprägt wurde, gewinnt überraschend Esteban Ocon vor Sebastian Vettel und Lewis Hamilton. Vettel wird nach dem Rennen disqualifiziert, da sich nach den 70 Rennrunden angeblich zu wenig Benzin in seinem Tank befindet, um eine Probe zu entnehmen. Problem eines Wettkampfs mit Verbrennungsmotoren.
Notieren. Die Verpflichtung zum Kontext ignorieren. »Sätze, die nur im Gehirn bleiben, sind verlorene Sätze«, heißt es am Ende der Poetikvorlesungen von Wolfgang Hilbig. Und außerdem: »Ich halte die Werbung für den Verkauf von Automobilen für Anstiftung zum Mord. – Den Rest kann man selber weiterdenken […]«
Mario Osterland, April – August 2021
Abb.: Foto Jens Kirsten.
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