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Thema
Kathrin Groß-Striffler
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Auch an diesem Tag habe ich mich, bevor ich meinen kleinen Laden aufschloss, erst eine Weile auf die Bank gesetzt, die an der Hauswand steht, und der Stille gelauscht. Ein leichter anlandiger Seewind strich durch die Blätter der großen Pappel; ein Feldhase hoppelte heran und zupfte an einem Halm und hoppelte weiter, überlegte es sich dann aber anders und kehrte zurück. Er faltete seine Hinterbeine unter und mümmelte nun eifrig das Gras, ich konnte ihn kauen hören, und gelegentlich sah er auf und zu mir her mit seinen blanken, fast schwarzen Augen. Seine langen Ohren bewegten sich entspannt einmal hierhin, einmal dorthin, zu befürchten hatte er auf der Insel wenig, er wurde weder gejagt, noch hatte er natürliche Feinde, und so war es gekommen, dass es unzählige zahme Hasen hier gab, viel mehr Hasen als Einwohner, doch das störte niemanden, es war eben so. Nur manchmal entschloss sich Mads, der Bauer mit dem größten Hof, einen zu erlegen und draußen über offenem Feuer zu braten; da seine Frau vor langer Zeit gestorben war und die Kinder die Insel längst verlassen hatten, lud er mich und Dan und dessen Frau und Tove und Lars ein, mit ihm zu essen. Doch Mads war alt geworden, und Dan war zu friedfertig, um ein Tier zu töten; also vermehrten sich die Hasen weiter. Sie würden uns überleben, so viel war sicher.
Die Insel ist sechs Quadratkilometer groß und liegt in der dänischen Südsee; von der Halbinsel hierher dauert es eine Stunde mit der Fähre, die nur selten anlegt, stattdessen gleich Kurs auf die größeren Inseln nimmt. Ein Mal pro Woche versorgt uns ein Lieferwagen mit all dem, was wir nicht selber anbauen, hauptsächlich mit Fleisch und Fisch, und auch die Post bringt der Fahrer mit; und an einem weiteren Tag kommt der Mülllaster, um unsere Tonnen zu leeren. Manchmal reden wir hier vor dem Laden über Gott und die Welt und über das Wetter; Mads und Dan schimpfen, wieder kein Regen, die Sommer zu lang und zu dürr, die Winter quasi nicht vorhanden, während Dans Frau Lena und ich über ihre Kinder reden, die abwesenden Kinder, denn sie lassen nur selten von sich hören. Tove und Lars arbeiten in Faaborg in der Fischfabrik, wir bekommen sie selten zu Gesicht; ihre Zwillinge, die mittlerweile zehn sein müssen, leben dort bei einer Tante, um zur Schule gehen zu können.
Ich stand auf, schloss die Ladentür auf und ließ sie offen; ein modriger Geruch schlug mir entgegen. Die Wände waren feucht, und ich musste täglich gut lüften, um ihn zu vertreiben. Fleisch und Fisch lagern in der Tiefkühltruhe. An diesem Tag hatte ich meine Tomaten mitgebracht, die ich am Vorabend geerntet hatte, prächtige, tiefrote Exemplare. Die Kiste stellte ich auf die Treppe; auch noch ein paar Zucchini waren da, und Lena hatte ganz früh Salat gebracht und war wieder gegangen. Mads baute nichts mehr an, er war zu alt und zu gebrechlich dafür. Wir kamen gut zurecht. Wir waren die letzten Überlebenden; eines Tages würden unsere Gebeine auf dem kleinen Friedhof ruhen, vorausgesetzt, jemand war da, um uns zu bestatten. Der Gedanke, man könne allein übrig bleiben, allein auf der Insel wohnen, nur in Gesellschaft der Hasen, schreckte mich an manchen Tagen, an anderen nicht. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken; schließlich stieg der Meeresspiegel immer weiter an, und die Insel würde eines Tages überflutet sein.
An diesem Tag lag etwas in der Luft. Und tatsächlich hörte ich Stimmen. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Es waren vergleichsweise junge, kräftige Stimmen, in denen Unternehmungslust schwang; dann wurde gelacht. Die schmale Straße, die über die Insel führt, ist beidseits von einem Heckenwall gesäumt, sodass ich die beiden erst sehen konnte, als sie an der Einfahrt zu meinem Laden standen. Sie hielten sich an der Hand und schauten und sagten etwas, das ich nicht verstand, das ungläubig klang, aber auch amüsiert. So als würden sie sagen: eiderdaus, was haben wir denn hier. Als wäre ich ein Tier im Zoo und der Laden mein Gehege. So kam es mir zumindest vor. Sie brauchten gar nicht näher zu kommen; sie sollten wieder gehen, und zwar schnell.
Doch sie gingen nicht. Sie ließen einander los und setzten ein Lächeln auf, das mir berechnend vorkam. Ich spürte, wie in mir eine Tür zuging, und ich zog vor meinen Augen einen Vorhang zu und lugte vorsichtig dahinter hervor. Sie trugen beide eine enge Jeans und ein T‑Shirt und weiße Turnschuhe. Sie mochten Anfang dreißig sein. Ich sagte nichts; es hatte mir irgendwie die Sprache verschlagen. Ich fand es plötzlich sehr eng hier, als ob die Wände, deren Modergeruch mir heute noch bissiger in die Nase stieg als sonst, zusammenrückten. Es war einfach nicht genügend Platz für so viele Leute. Und auf der Insel war auch kein Platz. Dumm war nur, dass die Fähre erst gegen Abend zurückfahren würde. So lange würden sie sich hier herumtreiben und wer weiß was tun und uns stören. Sie würden uns allein durch ihre Anwesenheit stören. Uns und die Stille.
Natürlich fragte ich mich, was sie hier wollten. Auf die Insel verirren sich keine Touristen. Sie wirkten, als hätten sie einen Plan; einen Plan, der nichts Gutes bedeutete. Und dann begannen sie tatsächlich, mich auszufragen. Wie viele Menschen auf der Insel lebten; was sie taten, wovon sie lebten. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vielleicht: bitte gehen Sie, es ist ein Irrtum, verstehen Sie doch, dass es ein Irrtum ist. Es kann durchaus sein, dass ich das oder etwas Ähnliches gesagt habe. Der junge Mann zog die rechte Augenbraue hoch, lächelte aber dabei. Dann hatten sie es plötzlich eilig. Erst sah der Mann auf seine Armbanduhr, dann die Frau auf ihre; dabei würde die Fähre ja erst viele Stunden später wieder anlegen. Ehe ich mich versah, waren sie verschwunden. Verzweifelt sah ich ihnen hinterher; das Unheil war nun nicht mehr aufzuhalten, es würde über die Insel kommen wie ein Fluch.
Am Abend waren sie immer noch da. Die letzte Fähre hatte längst angelegt, hatte den Mülllaster eingeladen und war wieder abgefahren, Richtung Festland. Ich wusste, dass sie noch da waren, weil sie an meinem Laden hätten vorbeikommen müssen. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich war den ganzen Tag auf meiner Bank gesessen und hatte Wache gehalten. Es war still und doch nicht still. Ein kaum hörbares Sirren lag in der Luft, wie ich es nicht kannte. Als glühten unsichtbare Drähte. Schließlich hörte ich Stimmen, viele Stimmen; und ein paar Minuten später saßen alle bei mir im Garten um den Tisch. Die Inselbewohner wirkten gleichzeitig skeptisch und aufgeregt, was mir gar nicht gefiel. Die junge Frau stand schließlich auf, dankte allen, dass sie gekommen waren, und entwickelte ihren Plan. Die Insel sollte touristisch erschlossen werden. Ferienwohnungen würden gebaut. Was Gäste heutzutage suchen, ist Ruhe und Abgeschiedenheit, verkündete sie, und für Sie – hier hoben sich ihre Mundwinkel leicht – ist es ein Ausweg aus der Misere. Und ein bisschen Leben und Abwechslung können ja nicht schaden, nicht wahr? Beifall heischend sah sie in die Runde. Lena nickte. Tove und Lars nickten ebenfalls. Tove beugte sich zu ihrem Mann und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er grinste. Wir werden günstige Kredite für Sie aushandeln, sagte nun der junge Mann, der ebenfalls aufgestanden war. Sie werden sie ratzfatz abzahlen können. Denn wir haben schon Interessierte an der Hand. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Ich erhob mich und sagte, das ist der Ausverkauf eurer Seelen, merkt ihr das nicht? Verdattert schauten sie mich an. Noch nie hatte ich so große Worte in den Mund genommen. Da sagte Dan, du hast gut reden, du hast den Laden. Und der alte Mads nickte dazu. Ich setzte mich wieder. Ich hätte nie gedacht, dass sie mir in den Rücken fallen würden. Niemals. Tove beugte sich zu mir herüber. Schau, flüsterte sie, dann müssen wir nicht mehr in die Fabrik. Für uns wäre das ein Segen. Wir könnten die Kinder holen. Die Fähre, haben sie uns erklärt, führe dann häufiger, dann könnten sie von hier aus in die Schule gehen. Und Lena rief, vielleicht käme unser Sohn zurück und könnte hier arbeiten und wir hätten unsere Enkel bei uns! Sie strahlte bei dem Gedanken. Die jungen Leute hatten offenbar ganze Arbeit geleistet. Nur ich war dagegen. Mads und Dan sahen aus, als würden Zahlenkolonnen durch ihre Gehirne rattern. Man müsste natürlich – und jetzt fiel der Blick des jungen Mannes auf mich – auch den Laden etwas aufhübschen. Modernisieren. Da steckt der Schimmel drin. Das stimmt, rief Mads, aber sie will ja nicht. Wir haben ihr schon vor Jahren gesagt, dass er renoviert werden muss. Sie stellt sich quer. Der junge Mann hatte wieder dieses Lächeln auf den Lippen. Das kriegen wir schon hin, sagte er, halb freundlich, halb von oben herab. Ich sah sie der Reihe nach an, alle. In meinem Kopf drehte sich ein Gedanke in Endlosschleife. Ein einziger Gedanke. Hoffentlich steigt das Wasser schnell. Hoffentlich, hoffentlich steigt das Wasser schnell.
Bald war es mit der Stille vorbei. Dachböden, Scheunen, alte Ställe wurden ausgebaut; aus dem Sirren der Drähte war unerbittliches Hämmern und Bohren geworden, das die Hasen verschreckte, sie verbargen sich in Gräben und Feldrainen, die Ohren flach angelegt duckten sie sich nervös ins Erdreich oder ins Gras. Ich konnte mich nicht verstecken wie sie, ich musste Waren ordern, denn die Menschen waren hungrig und wollten essen, sie zwängten sich rücksichtslos in meinen Laden, bis kein Durchkommen mehr möglich war. Die Kasse sprang auf und wieder zu, ein aufgerissenes Maul, das zu stopfen war, das mehr schrie, mehr, und schneller, schneller, und kaum versah ich mich, waren alle schon wieder draußen im Garten, Papiertüten raschelten, Lachsalven brandeten auf, und wenn sie dann gegangen waren, blieb ich erschöpft und ratlos zurück. Ich setzte mich auf meine Bank und schloss die Augen und öffnete sie wieder und sah leere Jogurtbecher und einen angebissenen Keks und eine Zigarettenschachtel und stand müde auf, um alles einzusammeln und wieder Ordnung zu schaffen, dabei wusste ich, dass ich sie nie mehr würde wiederherstellen können, genau so gut könnte ich dem Wind befehlen, heftiger zu blasen, was nun kommen würde, lag nicht in meiner Hand.
Die Insel krümmte sich unter dem Ansturm wie ein Tier, auf dessen Rücken Peitschenhiebe herabprasseln, ich war mir sicher, dass das Gewicht der Maschinen und Laster und Menschen sie ein wenig mehr ins Wasser drückte, nicht genug, dachte ich; auch, als die Touristen kamen, war es nicht genug. Da es nur eine Straße gibt und von ihr nur Feldwege abgehen, krabbelten die Menschen wie Ameisen vor bis zum Hafen und wieder zurück zu ihrem Haus; sie lobten lautstark die Stille und die Abgeschiedenheit. Sie ergossen sich auf die Strände, doch das Meer war ihnen zu kalt, nur die Kinder sprangen ins Wasser, bis ein paar Feuerquallen brennende Fäden um ihre Beine gewickelt hatten; dann war es mit dem Baden vorbei. Irgendwann wurde es allen langweilig, dasselbe Sträßlein entlang zu gehen; sie bestiegen die Fähre, die nun tatsächlich öfter kam und Toves Zwillinge mit nach Faaborg nahm, und sie besichtigten die Halbinsel und kamen am Abend wieder zurück, um nach einer Woche die Koffer zu packen und zu fliehen. Immer wieder brachte das Schiff nun neue Grüppchen; immer wieder hielten sie es nur für kurze Zeit auf der Insel aus. Wenn ich früh die Tür meines Ladens aufschloss, standen die ersten schon da und wollten frische Brötchen und schimpften, weil es keine gab; wahllos griffen sie dann nach Knäckebrot oder Toast und verschwanden wieder, der Tag schien ihnen schon am Morgen verdorben, da half es auch nichts, dass sie auf ihren Handys herumdrückten und den Daheimgebliebenen ihr Leid klagten. Ich hätte ihnen gern von der Insel erzählt, die es in meinem Kopf und in meinem Herzen gab; denn ich wusste längst, dass sie eine andere Insel bewohnten als ich. Sie sahen sie mit anderen Augen; nein, sie sahen sie im Grunde gar nicht, sie waren unfähig zu sehen, sie waren unfähig zu hören. Da war nichts zu machen.
Dann kam die Seuche, und die Touristen blieben aus. Mads hatten sie noch angesteckt; er starb kurz darauf. Es dauerte nicht lange, und alles war wieder wie vorher. Die Stille kehrte zurück. Die Hasen hoppelten wieder in unseren Gärten herum; der Wind raschelte in den Blättern, und wenn die Fähre anlegte, brachte sie nur den Mülllaster und ein Mal pro Woche den Lieferwagen, der mich mit Waren eindeckte. Doch wenn ich Dan oder Lena oder Tove oder ihren Mann traf, senkten wir den Blick und hielten Abstand. Wir schämten uns, glaube ich. Alle.
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