Kathrin Groß-Striffler – »Der Uhrmacher«

Person

Kathrin Groß-Striffler

Ort

Jena

Thema

Schriftsteller lesen

Autor

Kathrin Groß-Striffler

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Ich habe geklin­gelt, unten, doch, bestimmt habe ich geklin­gelt, da war ein Schild mit sehr vie­len Namen dar­auf, es hat ja ein Sum­men gege­ben, also musste ich geklin­gelt haben, ich habe die Tür auf­ge­drückt, eine schwere Glas­tür, ich blieb vor dem Auf­zug ste­hen, ich halte mir meine Arm­band­uhr ganz dicht unter die Augen, schau hin, so geht eine Uhr, rund, zwei Zei­ger, in regel­mä­ßi­gen Abstän­den Stri­che, malen Sie eine Uhr, hat der Arzt gesagt, las­sen Sie sich Zeit, nichts über­stür­zen, ganz ruhig, sie haben mir zuge­se­hen, der Arzt und die Frau
die Frau hat Knöpfe über der Nase, dun­kel­braun wie meine Cordhose
ich könnte auch die Trep­pen hoch­stei­gen, wie es riecht hier, nach gebra­te­nem Fleisch, Zwie­beln, frü­her hat die Frau sonn­tags … Wo ist sie hin? Wir waren beim Arzt, dann hat sie ein paar Kof­fer gepackt, vor der Tür ein schwar­zes Taxi, kein Win­ken, nichts, fährt sie in Urlaub? Ohne mich? Wir haben doch kein Geld mehr, ein Taxi ist doch gar nicht drin, das muss auf­hö­ren, keine wei­te­ren Zah­lun­gen, die Zah­lun­gen müs­sen aufhören
was für Zahlungen
doch, ich habe geklin­gelt, also Auf­zug, wel­che Etage? Zurück vor die Tür, sie fest­hal­ten, Schild anschauen, fünfte Etage, gegen­über ein iden­ti­sches hohes Haus, die Stock­werke auch in ver­schie­de­nen Far­ben, Sah­ne­torte, eine Schicht Teig, hell­braun, eine Schicht Creme, rosa, eine Schicht Sahne, weiß, eine runde sil­berne Scheibe, auf die ich drü­cke, sie bekommt einen flir­ren­den roten Rand, ich höre Auf­zug­seile vibrie­ren, wenn er nun abstürzt und ich drin, dann kann kei­ner mehr zahlen
was du nur hast mit dei­nen Zahlungen
Cheers, Kumpel
Cheers. Heul nicht. Hilft nu auch nüscht mehr
Ich war oben. Ich stand vor dei­ner Tür.  Dein Name. Lang, fremd­län­disch. Hin­ter die­ser Tür warst du viel­leicht, viel­leicht nicht. Mir war heiß, so heiß, Schweiß­trop­fen sam­mel­ten sich in mei­ner Ach­sel­höhle, ran­nen an mei­nen Flan­ken hinab. Sohn, flüs­terte ich. Ich habe Sohn geflüstert
hast du nicht gesagt, du hast keine Kinder?

Dau­ernd stand der Post­bote vor der Tür. So ein Klei­ner, Dicker, immer kurze Hosen, O‑Beine, gel­bes Kuvert, du weißt schon, ver­heißt nichts Gutes, musst du unter­schrei­ben, ob du willst oder nicht, da sind die gna­den­los, gehen ein­fach nicht weg, bis du nicht unter­schrie­ben hast, stel­len den Fuß in die Tür wie frü­her die Hausierer
sagen, wir sind von den Stadt­wer­ken, gehen rein, klauen dir alles unter dem Arsch weg, so schnell schaust du gar nicht
das erste Mal habe ich gar nicht gewusst, Ber­lin, was hab ich mit Ber­lin am Hut, Post aus Ber­lin an mich, muss ein Irr­tum sein, doch da stand mein Name drauf … ich weiß gar nicht, wie mir ist, schwind­lig ist mir, gelbe Ringe wabern in mei­nen Augen herum, ich seh nichts, und die Zunge, fünf Kilo min­des­tens, Schwei­ne­zunge in Wein­sauce hat die Frau gemacht
heul nicht schon wie­der, nützt alles nüscht
ich hab Angst gehabt, wegen dem gel­ben Brief, jetzt will mir einer am Zeug fli­cken, hab ich gedacht, auch weil der Post­bote so komisch geschaut hat, ist vom Gericht, hat er gesagt, hat wohl gedacht, ich hätte was ausgefressen
nu sag schon, was stand drin?
dass ich zah­len soll, über tau­send Euro, sonst hab ich nichts ver­stan­den, kein Wort hab ich ver­stan­den, wegen einer Woh­nung, wel­cher Woh­nung, ich habe nur die­ses eine kleine Haus und keine Woh­nung, ver­dammte Scheiße, habe ich gedacht, ich hab den Brief ver­steckt, ich hab aber das Ver­steck nicht wie­der gefun­den, wie­der ein gel­ber Brief, wie­der der Post­bote, der schräg geguckt hat, Unter­schrift, rein, der Fern­se­her lief, eine Mah­nung, ich soll noch mehr zah­len, weil ich nicht bezahlt hatte, ich also zur Bank, die Appa­rate drau­ßen hat­ten sie abge­baut, keine Ahnung, wie viel noch auf dem Konto war, wenn sie aber auch alles abbauen müs­sen, frü­her hast du die Karte rein­ge­steckt und fer­tig, drin so ein Robo­ter, der auf mich zuge­schwebt ist … Ich habe eine Spar­dose gehabt, ein Kro­ko­dil mit Schlitz oben, ich hab Pfen­nige rein­ge­steckt und mal nen Fünf­zi­ger, fünf­zig Pfen­nige bekam ich, wenn ich alle Schuhe geputzt habe, das war unten im Kel­ler, die Schuh­wichse brachte der Hau­sie­rer, roch so lecker nach, nach Schuh­wichse eben, es ist komisch, Kum­pel, manch­mal bin ich ganz klar und dann wie­der ist alles weg … wir könn­ten den Pas­san­ten doch die Schuhe put­zen, ich mach das gern, weißt du, erst schmierst du sie ein mit der Creme, dann wird gebürs­tet, bis alles glänzt, im McGeiz gibt’s sicher die Schuh­wichse und die Bürste
Schwach­sinn, ich putz kei­nem seine Schuhe nich
vor mir eine junge Frau, war die echt? habe sie genau gemus­tert, trug einen engen schwar­zen Anzug und eine weiße Bluse und hatte die Haare abra­siert und rie­sige runde Din­ger an den Ohren, ob sie Krebs hatte? dann weiß ich nicht mehr, wie es wei­ter­ging, habe ich gezahlt, habe ich nicht gezahlt, habe ich was unter­schrie­ben, ich wie­der daheim und die Bude leer und kein Mit­tag­essen auf dem Tisch und kalt war es, kalt, drin­nen und drau­ßen, ich setzte mich an den Tisch, mit Stift und Papier bewaff­net, ich würde eine ver­dammte Uhr malen und dann zu ihr gehen und sie käme wie­der zurück, ihr habt mich damals nur völ­lig meschugge gemacht alle beide, wenn man mir auf die Fin­ger schaut, geht gar nichts, also ich fange oben an, ein Kreis muss es wer­den, schön rund, ohne Abset­zen, ein Kin­der­spiel,  tick tack macht es aus der Küche, ganz laut, weil es so still ist, nur das Ticktack und mein Schnau­fen, ich nehme Papier und Stift mit, kein Platz zum Able­gen, alles vol­ler ver­krus­te­ter Tel­ler und unge­spül­ter Tas­sen und auf­ge­ris­se­ner Joghurts, ich hock mich auf den Küchen­stuhl und heule
ganz schön nah am Was­ser gebaut, was, Kumpel
hock da und denke, ich muss zu dir, jetzt gleich muss ich zu dir, Geld­beu­tel ein­ste­cken nicht ver­ges­sen!, ich also zum Bahn­hof, so viele Züge! So viele Men­schen! Den Namen der Stadt hab ich mir auf­ge­schrie­ben, ich schaue nach, Zet­tel vor Ort, Woh­nungs­adresse drauf, stand immer wie­der in den Brie­fen, muss also stim­men, da wohnst du, das hab ich schließ­lich kapiert, du wohnst dort und ich zahle, weil du nicht zahlst, eigent­lich logisch, wenn der eine nicht kann, greift der andere ihm unter die Arme, das haben wir zwei schon immer so gemacht, damals warst du am Arsch, jetzt bin ich am Arsch, falsch, du zahlt ja nicht, also bist du am Arsch und nicht ich, brauch ich mir gar nicht ein­zu­re­den, dass ich am Arsch bin, ich straffe die Schul­tern, weißt du noch, du hast gesagt „ich bin nichts“ und ich habe dir bewie­sen, dass du was bist, so haben wir das gehän­delt, wie Vater und Sohn eben … Ich nehm den Zet­tel in die Hand und suche einen Schaff­ner im Gewühl, die sind, wenn ich mich recht erin­nere, blau ange­zo­gen, wie Poli­zis­ten, wie schön das klingt, „wenn ich mich recht erin­nere“, ja, ich kann auch schön, hab mir die Frau mit sol­chem Gerede um den Fin­ger gewi­ckelt, hab ihr sogar einen Pelz­man­tel gekauft, nicht daran den­ken, nicht daran den­ken, einen Schaff­ner suchen, da, schau dir das an, ein Kof­fer ist auf­ge­platzt, Inhalt liegt auf dem Bahn­steig, Leute stei­gen drü­ber, BHs sehe ich und ton­nen­weise Kla­mot­ten und die junge Frau am Ende und kei­ner hilft, doch, ich helfe, Wasch­beu­tel wie­der rein, Knirps, Schuhe mit rie­sen­ho­hen Absät­zen, die Frau am Handy, kein Blick auf mich, kein Danke, kein gar nichts, bin ich durch­sich­tig oder was?, sie wirft sich an den ein­zi­gen Schaff­ner weit und breit, der just für sie des Weges kommt, er macht den von mir gepack­ten Kof­fer zu, ern­tet ihren pap­pi­gen Dank, ertrinkt in ihrem Lächeln, schiebt mei­nen Zet­tel weg, den ich ihm hin­halte, schiebt mich weg, tippt auf sei­nem Handy rum, hält es ihr hin, ich warte. Über mir eine Uhr, rie­sig, ich lerne sie aus­wen­dig, irri­tie­rend ist, dass die Zei­ger immer wei­ter­ru­ckeln, kön­nen die nicht mal kurz für mich still­ste­hen, wenn schon um mich herum alles wogt und braust und schreit und pfeift und mich mit­zer­ren will … Ich reiße den Zet­tel hoch, ein generv­ter Seuf­zer, ja und, was soll ich damit, las­sen Sie mich vor­bei, ich bin in Eile, ich deute auf den Namen der Stadt, da muss ich hin, sage ich, laut und deut­lich, wann geht der nächste Zug?, der Typ schaut mich an, als wär ich ein Irrer, hat dann doch Mit­leid, Gleis 13, in zehn Minu­ten, packt den Kof­fer der jun­gen Frau, Auf­zug kaputt, Roll­treppe kaputt, geht alles den Bach run­ter, sagt er düs­ter, weil die da oben zu bekloppt sind, jemand hört das und brüllt, stell dir vor, es ist Demo­kra­tie und kei­ner macht mit, lau­tes Grö­len, Bier­fla­schen klir­ren, Hit­ler­gruß, schnell weg­schauen, wenn die über­neh­men, denke ich, ist es aus mit dir, Sohn … Unten ist es ziem­lich dun­kel, fast, als gäbe es einen Strom­aus­fall, stelle mir einen ganz gro­ßen vor, nichts geht mehr, alles tot, end­lich Ruhe, keine Uhr tickt, Ende der Fah­nen­stange, alle glot­zen sich betre­ten an…  Stu­fen hoch, kom­plett außer Atem, alter Mann, hast schon mal bes­sere Zei­ten gese­hen, da steht ein Zug, lang, weiß glän­zend, edel, beson­ders die Lok, so fein strom­li­ni­en­för­mig, ich krame nach dem Auto­schlüs­sel, Mün­zen klin­geln, ein Taschen­tuch, wo ist das ver­dammte Ding, warum stehe ich vor einem Zug, ich bin immer mit dem Wagen gefah­ren, ich lasse mir das nicht bie­ten, dass die Frau mir die Schlüs­sel weg­nimmt, ich mach kehrt, ich geh jetzt zu ihr und sag ihr klipp und klar die Mei­nung und hol mir den Schlüs­sel zurück, jemand rem­pelt mich an, was nun, schreit eine erboste Stimme, rein oder raus?, hin­ter mir eine junge Frau mit Zwil­lings­buggy, war sie es, die geschrien hat?, ihr steht der Schweiß auf der Stirn, die Tür ist zu eng, flugs nimmt ein jun­ger Mann eins der Babys auf den Arm, sie drückt mir das zweite in den Arm, fal­tet den Buggy zusam­men, als wäre es ein Regen­schirm, mir fällt die Kinn­lade run­ter, steh plötz­lich im Zug, es piept lange und anhal­tend, dann ein lei­ser Knall und die Tür ist zu, die junge Frau, völ­lig außer Atem, lehnt sich erschöpft gegen die Wand und lächelt uns an, ihr seid meine Ret­ter, sagt sie, danke, da fängt mein Baby zu schreien an, auch das noch, sie nimmt es mir ab, lässt das T‑Shirt run­ter und drückt es an ihre Brust, ein­fach so, mit­ten im Gewühl, und Baby schmatzt, als hätte es seit Jah­ren nichts mehr gekriegt, und ich, ich starre auf die­ses Schau­spiel, schließ die Augen, ich mach sie erst wie­der auf, wenn diese junge Frau meine Frau ist, da hält der Zug ruck­ar­tig an und ich falle auf sie drauf, rie­che Haut und Schweiß und Baby und Milch und Kacke und weiß nicht mehr ein noch aus, bin das Baby und bin der junge Mann dane­ben und bin der alte Mann und bin nichts von alle­dem, bin ein Nichts, sag­test du, habe alles ver­lo­ren, Hei­mat, Frie­den, Fami­lie, Arbeit, du hast die Hände aus­ge­brei­tet, Hand­flä­chen nach oben, ich habe dir gesagt, ich helfe dir, und ich habe dir gehol­fen, ein­mal im Leben für jeman­den da sein … ich rapple mich hoch, Ent­schul­di­gung, mur­mele ich, ach, an der ande­ren Brust lie­gen, aus der Milch tropft, was für ein Über­fluss, sie fand das eklig, all das in der Öffent­lich­keit, dass die jun­gen Din­ger sich nicht schä­men, wider­lich, da drückt sie mir das Kind erneut auf den Arm, nimmt das andere, das zu schreien begon­nen hat, legt es flugs, schwupp, an die andere Brust, lass es ein Bäu­er­chen machen, sagt sie non­cha­lant, ein­fach über die Schul­ter legen und auf den Rücken klop­fen, Kopf dabei hal­ten, bitte … ich weiß nicht, wie mir geschieht, geb mir Mühe, schon stößt Baby auf, sie lächelt, gut gemacht, lobt sie, kannst es jetzt rein­le­gen und weist auf den Buggy, den sie oder sonst jemand wie­der auf­ge­fal­tet hat, mache ich, alles würde ich für sie machen, da über­nimmt der junge Mann, zeigt mir einen freien Sitz­platz im Abteil, ich tau­mele dar­auf zu und denke: Arsch­loch. Arsch­loch. Hab’s kapiert. Ich lass mich auf den Sitz fal­len, neben mir schnarcht ein Typ in Uni­form, Bun­des­wehr, ich habe keine Ahnung, wo wir hin fah­ren, warum ich hier bin, Nebel im Hirn, rutsch ein wenig näher an ihn ran, der weiß sicher Bescheid im Leben, wenn er auf­wacht, frag ich ihn, wo wir sind, drau­ßen saust ein Gewer­be­ge­biet vor­bei, dann kom­men aus­ge­dörrte Wie­sen, eine ein­zelne Kuh drauf, sieht aus, als würde sie muhen, hat die der Bauer aus Ver­se­hen zurück­ge­las­sen, das arme Tier, mir kom­men die Trä­nen, Schlie­ren vor den Augen, die ich weg­wi­sche, der Zug fährt lang­sa­mer, kommt auf einem Bahn­hof zum Ste­hen, wo kein Mensch steht und war­tet, der Name des Ortes ist mir völ­lig unbe­kannt, auch die Schrift, eine Uhr hängt da, ste­hen geblie­ben, gleich geht es wei­ter, noch ein paar her­un­ter­ge­kom­mene Häu­ser, dann ein rie­si­ges Hotel, min­des­tens fünf­zig Stock­werke hoch, außen­rum ein tief­grü­ner Park, ein blau glän­zen­der Pool, wei­ter. Der Sol­dat bewegt sich, ich rut­sche ordent­lich auf mei­nen Platz zurück, ist er an einer Grenze sta­tio­niert und weiß nicht in wel­chem Land und wo sie beginnt und wo sie auf­hört, hockt er mut­ter­see­len­al­lein dort rum und war­tet, dass aus dem Mor­gen Abend wird, fragt sich, wie lange er das noch aus­hal­ten soll, hofft auf einen Angrei­fer, nur dass irgend­was pas­siert … Der Gang neben mir ist vol­ler Leute, Kof­fer, Kin­der, der Zug hält tief unter der Erde, nach den Mas­sen zu schlie­ßen, die sich drau­ßen am Zug ent­lang schie­ben, müs­sen alle aus­ge­stie­gen sein, auch der Sol­dat bit­tet mich höf­lich, ihn durch­zu­las­sen, packt seine Tarn­far­ben­ta­sche und geht, bevor ich ihn fra­gen kann, ob ich auch raus soll, sind wir in der Stadt, wo du wohnst? Eine kräch­zende Stimme über den Laut­spre­cher, bitte alle aus­stei­gen, dann Lachen, als hätte jemand einen Witz gemacht, dann ein Kli­cken. Ich stol­pere den ande­ren hin­ter­her. Ich bin da. Bin ich da? Ein Mann, Hose run­ter­ge­zo­gen, hängt vorn­über geneigt über einem Roll­stuhl, weiße schwab­be­lige Haut mit roten Punk­ten an den Bei­nen, er ver­sucht mit zit­tern­den Hän­den, sich einen Gummi um den Arm zu legen, er stöhnt leise vor sich hin, der Gummi win­det sich, amorph wie ein rohes zer­bro­che­nes Ei, man kann es ums Ver­re­cken nicht auf­wi­schen, wozu macht er das, ich steh da und glotze und um mich her wogt und schiebt es wei­ter, reißt mich mit, eine junge Frau liegt auf dem Boden, Augen geschlos­sen, ein Insel­chen im Strom, der sich kurz teilt und dahin­ter gleich wie­der schließt, Frauen mit Kopf­tuch, Frauen ohne Kopf­tuch, Hunde mit ein­ge­knif­fe­nem Schwanz und brei­ten nie­ten­be­setz­ten Hals­bän­dern, über­all Täto­wie­run­gen auf nack­ter schweiß­glän­zen­der Haut, wir sind drau­ßen, eine weiße blen­dende Sonne am Him­mel, die sich in einem hohen Glas­haus spie­gelt, viel zu hell, ich kriege gleich eine Migräne, eine Gruppe aus­län­di­scher jun­ger Män­ner auf einer Bank, ich schaue genauer hin, bist du dabei? Ich bete, dass du nicht dabei bist, dass du dei­nen Weg gemacht hast, aber warum zahlst du deine Miete nicht? So viele Briefe, ich hab sie irgend­wann nicht mehr auf­ge­macht, ich hab sie irgendwo ver­steckt, ein­mal hat das Handy geklin­gelt, das sonst nie klin­gelt, das Fens­ter stand offen, hef­tige Wind­böen bausch­ten die Vor­hänge, ein pene­tran­tes, beun­ru­hi­gen­des Klin­geln, das den Anfang vom Ende ankün­digte, ich könnte das Ding drau­ßen im Gar­ten ver­schar­ren, so tief, dass man kein Klin­geln mehr hören könnte, dachte ich – da hörte das Klin­geln auf, ich bin in mei­nen Ses­sel gefal­len, die Stille im Raum hallte, nur gele­gent­lich das Knur­ren des Win­des, der wie ein bös­ar­ti­ger Hund ums Haus schlich, ich hoffte fast, es möge wie­der klin­geln, war auch so, dies­mal flehte mich das Tele­fon regel­recht an, abge­nom­men zu wer­den, weinte und wim­merte, dass mein Herz schmolz, ich nahm es zur Brust, eine weib­li­che Stimme, im Hin­ter­grund Marsch­mu­sik, Ihr Name war falsch geschrie­ben, des­halb ver­zö­gert sich das Ganze, sagte die Stimme, der Gerichts­voll­zie­her wei­gert sich, die Zwangs­räu­mung anzu­ord­nen, so lange Ihr Name nicht kor­rekt auf dem Doku­ment erscheint, ich fürchte, es wird dau­ern, die Marsch­mu­sik wurde lau­ter, zog da gerade ein gan­zes Regi­ment an den geöff­ne­ten Fens­tern der Behörde vor­bei? Aber die Miete, stam­melte ich, wer kommt dafür auf, wenn sich das noch län­ger hin­zieht, Sie kön­nen doch nicht von mir ver­lan­gen … Hören Sie, ich habe nur eine äußerst beschei­dene Rente … Ich war Uhr­ma­cher, ich hatte ein klei­nes Geschäft … Ich bin nur die Sekre­tä­rin, kam die Ant­wort, ich kann Ihnen dazu nichts sagen – ein Tusch, ein Kli­cken, Stille. Eine blei­erne Stille, wie kurz vor einem Gewit­ter, wenn sich die Haut der Erde zusam­men­zieht. Der bös­ar­tige Hund war wei­ter­ge­zo­gen. Die Briefe. Ich würde sie nach Datum ord­nen und ruhig durch­le­sen. Ganz ruhig. Dass mir nichts ent­ging. Um eine Hand­habe zu fin­den, wie ich mich weh­ren könnte. Es gab doch Gesetze in die­sem Land! Anders als in dei­nem, dachte ich, in dei­ner Hei­mat herrsch­ten Will­kür, Gewalt und Angst, und dich hat­ten sie ein­ge­locht und gefol­tert, du hast nicht gesagt, warum, du woll­test mich sicher scho­nen, der­lei erzählt man einem alten Mann nicht, dann hast du meine Hand ergrif­fen und geküsst, weil ich dir meine Hilfe ange­bo­ten hatte, ich werde alles tun, was in mei­ner Macht steht, hab ich gesagt und mir dein Land vor­ge­stellt in sei­ner Weite und Karg­heit und Geset­zes­lo­sig­keit, nach­ge­rade ein Wun­der, wie ein jun­ger Mann sei­nen Charme, seine Lie­bens­wür­dig­keit hier­her geret­tet hat, mitt­ler­weile lagst du auf den Knien vor mir, sie wer­den mir keine Woh­nung geben, ich bin Aus­län­der, ich bin ein Nichts, er hat sto­cken­des Eng­lisch mit mir gespro­chen, ich habe es eini­ger­ma­ßen ver­stan­den, das aller­meiste sagt sich eh ohne Worte, von Herz zu Herz, end­lich ein­mal konnte ich es schla­gen füh­len, ich würde mich um ihn küm­mern, ich strich über seine schwar­zen locki­gen Haare und zog ihn hoch, how old are you, fragte ich, twenty-two, kam die Ant­wort, you want to see the wounds on my back? Er hob sein T‑Shirt hin­ten ein wenig an, ich schüt­telte schnell den Kopf, er lächelte, küsste mir erneut die Hand. Not good for you, sagte er. Wie rück­sichts­voll er war! Wie lieb, wie hübsch, diese war­men brau­nen Augen! Und jetzt, heute, ein­ein­halb Jahre spä­ter – wie geht es dir jetzt? Dir muss etwas zuge­sto­ßen sein! Dir muss etwas Schlim­mes zuge­sto­ßen sein! Die Frau: was hängst du dich an so einen, der ist es doch gar nicht wert, ich habe in ihr fal­ti­ges Gesicht geschaut, in ihre mit­leid­lo­sen Augen, und ich schwöre, mein Herz hat kei­nen ein­zi­gen Schlag getan, lag reg­los in mei­ner Brust wie ein aus­ge­wrun­ge­ner Putz­lap­pen, ich schaute mich um in mei­nem Haus, alles peni­bel abge­staubt und geboh­nert und gewischt und dra­piert für den Besuch, der nie kam, ein Gefäng­nis, ich sah deine auf­ein­an­der geleg­ten Hand­ge­lenke vor mir, ich schnitt mei­nen Brust­korb auf und holte den Putz­lap­pen raus und warf ihn in eine Ecke und nähte mich wie­der zu und fühlte es pochen dort drin, hatte sich die­ser Mus­kel nur ver­steckt unter dem Scheiß­ding, war da und pochte, wenn er Lust dazu hatte, ich streckte die Hand aus, er könnte unser Sohn sein, sagte ich leise, doch sie fuhr ent­setzt zurück, schüt­telte den Kopf, es wird immer schlim­mer mit dir, du bringst alles durch­ein­an­der, jetzt soll so ein Flücht­ling also unser Sohn sein, du weißt nicht ein­mal, was du da sagst. Ich starrte auf die große Pen­del­uhr hin­ter ihr, ihr müt­ter­li­ches Erbe, sie tickte laut wie eine Dampf­lok, auch der rie­sige Barock­schrank war von der Mut­ter und das hell­gelb-weiß gestreifte Sofa mit den gedrech­sel­ten Füßen, und die Wände um mich her beweg­ten sich auf mich zu, schnür­ten mir die Luft ab, wo war ich, wer war ich, dein Gesicht ver­schwamm, hast du ein Bärt­chen oder hast du kein Bärt­chen, fehlt unten wirk­lich ein Zahn, der Tep­pich, auf dem ich stand, buckelte, wie um mich abzu­wer­fen, wie hieß diese Frau mit ihren brau­nen Cord­ho­sen­au­gen, die mich unver­wandt ansa­hen, Spei­chel­bläs­chen tröp­fel­ten aus ihrem Mund, jedes ein Wort, er-wird-dir-Unglück-brin­gen, meine Hände öff­ne­ten sich, bereit, sich um ihren alten dün­nen Hals zu legen – da schlug die Uhr die volle Stunde, ich saß mit einem Mal wie­der fest im Sat­tel, wandte mich ab, ging raus, holte tief, tief Luft, ich würde einen Sohn haben, sie aber nicht, sie hatte ja nie Kin­der gewollt, war mir egal, alles war mir egal, das Haus und sie drin inmit­ten ihrer gehä­kel­ten Deck­chen und sil­ber­nen Löf­fel und Mes­ser und Gabeln, ihren im Rhyth­mus des Uhr­ti­ckens klap­pern­den Strick­na­deln, war mir egal, egal, egal. Du warst mir nicht egal, und für dich würde ich als Zweit­mie­ter eine Woh­nung in der Groß­stadt mie­ten, hier in die­sem Kaff hat­test du keine Chance, dir ein Leben auf­zu­bauen, aber dort, du hast gelacht, mil­li­ons of chan­ces, thank you, thank you so much, I will never for­get that, you are like a father to me.
Es sind wei­tere Briefe gekom­men, der Blick des Post­bo­ten immer schrä­ger, was hat der bloß mit dem Gericht zu tun, hat ganz offen­sicht­lich Dreck am Ste­cken, er wurde zuneh­mend unge­dul­di­ger, erst klin­geln, dann war­ten, dann noch­mal war­ten auf die Unter­schrift, als hätte er nicht genug zu tun, ich nahm die Briefe in Emp­fang wie heiße Kar­tof­feln und tat sie unge­schält an einen Ort, wo die Frau nicht ran­kam, nur an wel­chen Ort, heute hatte ich mir einen Ruck gege­ben, leg sie vor dich hin und mach sie auf, und nun fand ich sie nicht, lächer­lich, wir hat­ten doch nur ein klei­nes Häus­chen und einen Schup­pen, eine böse Ahnung ver­kno­tete mei­nen Magen, wenn sie sie doch gefun­den hatte und nun über alles Bescheid wusste, hat sie des­we­gen einen Ter­min beim Arzt aus­ge­macht, wollte sie mich dort mit ihnen kon­fron­tie­ren, das sähe ihr ähn­lich, hatte sie doch etwas von einer Katze, die stun­den­lang vor dem Mau­se­loch sitzt und war­tet und dann, zack, drauf­springt, Kral­len im Mäus­chen ver­senkt, es dann wie­der los­lässt, ihr fie­ses Spiel mit ihm treibt, malen Sie bitte eine Uhr, hier ist Papier und ein Stift, las­sen Sie sich Zeit, aber den Gefal­len würde ich ihnen nicht tun, die Frau hat die Kof­fer gepackt und war weg, und immer noch kamen Briefe, theo­re­tisch könnte ich sie irgendwo hin­ge­legt haben, wo sie sie leicht fin­den könnte, ich kehrte das Unterste zuoberst, unterm Sofa, unterm Bett nur Staub­flu­sen, ich, hämisch, jawohl, hier macht kei­ner mehr sau­ber, ich fand sie nicht, ich musste sie aber fin­den, viel­leicht gab es Neu­ig­kei­ten über dich, die ich wis­sen musste, ich fand eine Unter­hose in der Spüle, musste wohl gewa­schen wer­den, aber die Briefe fand ich nicht. Und doch waren sie da, sie sta­pel­ten sich im Raum, Brief auf Brief, ver­ström­ten einen toxi­schen Duft, der mir das Atmen schwer machte, sie wür­den mich krie­gen, irgend­wann, die Zim­mer­de­cke hing so nied­rig herab, dass mein Kopf fast anstieß, sie woll­ten mir Böses, das roch und schmeckte ich doch, ich war doch nicht blöd, oder, ein her­ri­sches Pochen an der Tür, ich würde nicht auf­ma­chen, oh nein, so leicht krieg­ten sie mich nicht, der Brief­schlitz klap­perte, ein Brief wurde durch­ge­scho­ben, ein Mann drau­ßen fluchte, Schritte ent­fern­ten sich, ich kroch hin, nahm den Brief, fuhr mit dem Zei­ge­fin­ger am Falz ent­lang, fal­tete ihn auf, starrte auf eine fett­ge­druckte Zahl, die mir nichts sagte und doch etwas sagte, eine immens hohe Summe war ange­zeigt, wenn ich die bezah­len müsste, wäre es aus mit mir, aus Amen, die Frau weg, der Mann in der Gosse, wie nied­lich, und der Sohn? Ich würde hin­fah­ren zu ihm, ich wusste plötz­lich, es steht schlecht um dich, sehr schlecht, du brauchst meine Hilfe.
Sie bewe­gen sich auf mich zu, die Briefe, halb über­ein­an­der­ge­legt wie Fisch­schup­pen, von einer schlei­mi­gen Schicht über­zo­gen, wie eklig, ruft die Frau schau­dernd, komm mir nicht schon wie­der damit, mein Kopf dehnt sich, mein Maul öff­net und schließt sich gemäch­lich, ich fächle die Kie­men, auf dem Weg durch die Kana­li­sa­tion wer­den meine Schup­pen far­bi­ger und glän­zen­der, und dann, bei dir, werde ich dir meine schönste Schuppe schen­ken als Talis­man, der dich unan­greif­bar und unbe­sieg­bar macht, wenn dein Vater stirbt, wirst du leben, wie sich das gehört, mein Herz pocht laut, lau­ter, pocht gegen die Tür, sie sind zu zweit, ganz in Blau, vier Augen mus­tern streng die Schup­pen, die schlapp an mir her­ab­hän­gen, Sie haben zwei Wochen Zeit, sagen zwei schmal­lip­pige Mün­der, Ihre Wert­sa­chen und Möbel außer Haus zu brin­gen, dann wird es gepfän­det, hin­ter ihnen plötz­lich die Frau, eilig her­ein­schlüp­fend, mein Sil­ber­be­steck, ruft sie, 24teilig, ein Erb­stück, auch der Schrank gehört mir, die Tep­pi­che, eigent­lich fast alles, klä­ren Sie das unter sich, sagt einer der Blauen gelang­weilt, hier ist der Voll­stre­ckungs­be­scheid, ich habe ihm doch gesagt, ruft die Frau erregt, dass der ihm Unglück brin­gen wird, die Blauen wen­den sich ab, riecht nach Fisch, sagt der eine noch, nach ver­gam­mel­tem Aqua­rium riecht es, der andere schnüf­felt, kommt vom Haus, stellt er fest, trei­ben sicher tote Fische auf dem Was­ser, so, wie das stinkt, abrei­ßen sollte man die Bude, ich nicke, mein Maul stößt gegen die Glas­scheibe, gute Idee, Glas weg, alles weg, dann ein Bag­ger, der eine tiefe Grube schau­felt, schmeißt alles rein, rufe ich, dann ein Beton­man­tel außen­rum, dass die Gifte nicht aus­strö­men kön­nen! Ich gleite durchs unter­ir­di­sche Was­ser, ich habe ein Ziel …
War er nu drinne? Der Kerl? Dein Sohn oder dein Stief­sohn oder was weiß denn ich, bin schon ganz wirr im Kopf, geht alles kreuz und quer
viel­leicht liegt er mit auf­ge­schnit­te­nen Pulsadern
hör uff!
warum ist es so still da drin, er muss sich was ange­tan haben, warum macht er nicht auf? Ich setz mich auf den Trep­pen­ab­satz gegen­über und warte, ich muss nach­den­ken, mir eine Blume suchen, ein Blatt nach dem ande­ren aus­rei­ßen, er ist drin, er ist nicht drin, auch der Frau hab ich frü­her oft Blu­men gekauft, sah selbst aus wie ein Veil­chen, herz­för­mi­ges Gesicht, hell­blaue Augen
hast du nicht gesagt, sie waren braun?
ist er drin, ist er nicht drin, warum hab ich als Zweit­mie­ter kei­nen Schlüs­sel, da stimmt doch was nicht, sie hauen mich übers Ohr, sein Name steht auf dem Schild, mei­ner nicht, ein Kom­plott ist das
denk ich schon die ganze Zeit
das letzte Blatt: er ist drin, ich muss den Haus­meis­ter suchen, der hat doch einen Schlüs­sel für alle Woh­nun­gen, auf­sper­ren soll er, gibt es hier einen Haus­meis­ter?, ich wie­der im Auf­zug, ein Spie­gel, war der vor­hin auch da, kenne die­sen Men­schen nicht, eng ist es und der Mann im Spie­gel so nahe, irgendwo hab ich den schon mal gesehen
sehr witzig
Tür schmatzt auf, Mann han­tiert in einer Art Putz­kam­mer, lau­ter Eimer und Mops und Lap­pen, sind Sie der Haus­meis­ter? Der Mann dreht sich lang­sam um, hat da, wo das Gesicht sein müsste, lange dichte Haare, die andere Seite! stam­mele ich ent­setzt, er rührt sich nicht, ich bin der Zweit­mie­ter der Woh­nung von Herrn F, er öff­net nicht, bitte schlie­ßen Sie mir auf …
darf nur der Gerichts­voll­zie­her, wenn er eine Zwangs­räu­mung ange­ord­net hat
aber wenn er sich was ange­tan hat?
der nicht!
ich starre auf seine schup­pi­gen Haare, wis­sen Sie, sage ich leise, er ist mein Sohn
der nicht!
ich nestle an mir herum, all die schup­pi­gen Haare, all die haa­ri­gen Schup­pen, die Spiegel
mal eine Uhr, erst malst du eine Uhr
dann schlie­ßen Sie mir auf?
Was um alles in der Welt soll ich dir denn aufschließen?
Das Herz

Du weißt also nicht, ob er drin war oder nicht? Auch gut, trink, Freund, und halt die Hand auf, viel­leicht legt einer was rein
mein Sohn legt was rein, ver­re­cken lässt er mich nicht …
Klar doch! Rol­len wir schon mal den roten Tep­pich aus! Prost!

 

(ver­öf­fent­licht am 15.10.2025)

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