Jens-Fietje Dwars – Laudatio zur Verleihung des Walter Bauer-Preises der Städte Leuna und Merseburg an Daniela Danz am 4. November 2022

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Jens-Fietje Dwars

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Lau­da­tio zur Ver­lei­hung des Wal­ter Bauer-Prei­ses der Städte Leuna und Mer­se­burg an Daniela Danz am 4. Novem­ber 2022

 

Sehr geehr­ter Herr Staats­se­kre­tär für Kul­tur, Dr. Sebas­tian Putz,
sehr geehr­ter Herr Ober­bür­ger­meis­ter von Mer­se­burg, Sebas­tian Müller-Bahr,
sehr geehr­ter Herr Bür­ger­meis­ter von Leuna, Michael Bedla,
sehr geehr­ter Herr Geschäfts­füh­rer der InfraLeuna GmbH, Dr. Chris­tof Günther,
sehr geehrte Damen und Her­ren, liebe Freunde,
liebe Daniela, so fern, so nah,

als Preise noch Orden hie­ßen, wur­den sie tat­säch­lich ver­lie­hen: als Zei­chen der Zuge­hö­rig­keit zu einer Gemein­schaft derer, die sich um das, was sie ver­band, ver­dient gemacht hat­ten. Und das war mehr als eine Dienst­leis­tung, die man mit Geld belohnt, es war ihr Füh­len und Den­ken, ihre ganze Art zu sein. Starb der Ordens­trä­ger, die Trä­ge­rin, hat­ten ihre Nach¬kommen das Ehren­zei­chen an den Orden zurück­zu­ge­ben, der sich dann erst wie­der einen wür­di­gen Nach­fol­ger aus einem klei­nen Kreis von Geeig­ne­ten erwählte.

Der Wal­ter Bauer-Preis ist kein Orden, aber eine Art Fami­lie, in deren Viel­stim­mig­keit sich das Viel­stim­mige sei­nes Wer­kes spie­gelt. Mit jedem neuen Preis­trä­ger erschließt sich eine andere Facette des Namens­ge­bers. Und so wäre zu fra­gen, wel­che Seite, wel­che Klang­farbe im Schrei­ben Wal­ter Bau­ers die Bücher von Daniela Danz zum Leuch­ten bringen?

Ich liebe die Texte die­ser Autorin, gerade weil sie sich leich­tem Ver­ständ­nis ent­zie­hen, weil sie ver­stö­ren und zum Wider­spruch ein­la­den. Ihr Werk ist schmal, aber reich an Bil­dern, Per­spek­ti­ven, Fra­gen und Pro­ble­men. In einer unver­kenn­bar eige­nen Spra­che, die kraft­voll und zart, ein­fach und rät­sel­haft zugleich ist, vol­ler Wohl­klang und inne­rer Fülle, doch nie gefäl­lig. 1976 in Eisen­ach gebo­ren, hat Daniela Danz Kunst­ge­schichte und deut­sche Lite­ra­tur in Tübin­gen, Prag, Ber­lin, Leip­zig und Halle stu­diert, wurde mit einer Arbeit über den Kran­ken­haus­kir­chen­bau in der Wei­ma­rer Repu­blik pro­mo­viert und hat vier Gedicht­bände und zwei Romane geschrieben.

Wie Wal­ter Bauer schreibt sie nicht, um davon zu leben, son­dern lebt in vie­ler­lei Tätig­kei­ten und den damit ver­bun­de­nen Rol­len, um zu schrei­ben, schrei­bend diese Rol­len­spiele, die uns die Welt zumu­tet, zu ergrün­den: sie hat an der Uni­ver­si­tät Hil­des­heim gelehrt, war Kopf und Seele des Schil­ler­hau­ses in Rudol­stadt und lei­tet seit einem Jahr den Bun­des­wett­be­werb »Demo­kra­tisch Han­deln« für Kin­der und Jugend­li­che. Ich zweifle ein wenig, ob man Demo­kra­tie in einem Wett­be­werb erler­nen kann. Demo­kra­tie heißt Aus­hal­ten und Aus­tra­gen des Wider­spruchs. Ver­söh­nung, wußte Höl­der­lin, gibt es nur im Streit, mit­ten­drin, nicht danach, nicht im fau­len Kom­pro­miß, in der Eini­gung auf den kleins­ten gemein­sa­men Nen­ner, nicht in der »Auf­he­bung der Gegen­sätze«, son­dern in der Ent­ge­gen­set­zung selbst, in der Öff­nung für den Ande­ren und das Andere des Ichs, das uns erst die Welt erschließt.
»Komm, ins Offene«, lockt Höl­der uns seit 200 Jah­ren, und Daniela Danz folgt ihm gern, ihrem liebs­ten Dichter.

Es erdet das eigene Schrei­ben, wenn man dafür andere Räume durch­schrei­ten muß als das eigene Arbeits­zim­mer. Höl­der­lin wußte das oder viel­mehr, seine Art in der Welt zu sein, lehrte es ihn: die Räume, die Rol­len, in die er sich gedrängt sah, auf­zu­bre­chen, aus­zu­bre­chen aus dem Ich. Hof­meis­ter Höl­der­lein, die­ser exzen­tri­sche Dich­ter, dem Goe­the Beschei­den­heit emp­fahl, sich klei­ner Gegen­stände anzu­neh­men, die man leicht zu über­schauen ver­mag, statt sich in gro­ßen Ideen zu ver­lie­ren. Lauf, Höl­der, lauf. Im Früh­jahr 1795, als er in Jena ver­geb­lich Fuß zu fas­sen hoffte, lief er zu Fuß nach Halle, Des­sau, Leip­zig und wie­der zurück. Im Win­ter 1801 seine Wan­de­rung nach Bor­deaux, durch Schnee und Eis, und nur drei Monate dar­auf die Rück­reise über Paris nach Nür­tin­gen, wo er als ein ande­rer heim­kam, von sei­ner Mut­ter kaum mehr erkannt. Höl­der­lin ging an Gren­zen der Spra­che, weil und indem er an gelebte Gren­zen rührte, er ging leib­haf­tig zugrunde, an die Lebens­gründe des Sag­ba­ren: letzte Zei­chen zu geben vom Dasein in die­ser Welt, aus­deut­bar für andere.

Auch Wal­ter Bauer hat sei­nen Lebens­raum ver­las­sen, um neu zu begin­nen: 1952 brach er, mit 48 Jah­ren, nach Kanada auf, ange­wie­dert von dem einen Teil Deutsch­lands, der sein Gewis­sen mit einem Wirt­schafts­wun­der betrog, und nicht bereit, sich in dem ande­ren vor den Kar­ren einer Illu­sion span­nen zu las­sen. Als Schrift­stel­ler zog er in ein Land, des­sen Spra­che er nicht beherrschte, sich für den gerings­ten Job nicht zu schade, als Tel­ler­wä­scher und Hilfs­ar­bei­ter. Im Gepäck die Mah­nung der Toten, die er in Ost und West nicht erhöhrt sah: »Schafft eine mensch­li­che Erde dem Men­schen.« (Jeder­manns Bot­schaft) So fand er neue Freunde und erneut Halt in sei­ner Mut­ter­spra­che, die er wie frem­des Mate­rial zu behan­deln lernte, als Stu­dent und spä­ter Lek­tor für Deutsch in Toronto.

Aus der Ferne schuf er Erin­ne­run­gen an die Region sei­ner Her­kunft und gewann an Weite und Nähe des Blicks. Zwei­fel­los: Die Stimme aus dem Leuna­werk, sein stärks­ter Gedicht­band von 1930, beschrieb das Werk wie ein leben­di­ges Wesen, indem er expres­siv zur Spra­che brachte, wie es die Kräfte der Arbei­ter ver­schlang. Auch deren All­tag kam plas­tisch zum Aus­ruck, der dunkle Lebens­grund und darin leuch­tend kleine Freu­den wie das Anzie­hen eines wei­ßen Hem­des nach Dienst. Nun aber, drei Jahr­zehnte spä­ter, wei­tet sich sein Blick zeit­lich und räum­lich: Bauer erin­nert einen abend­li­chen Gang ins Freie, in die mit­tel­deut­sche Ebene, die wie ein Meer vor ihm liegt, ein Meer, auf des­sen Grund er unter­ge­gan­gene Wäl­der sieht, ver­sun­ken vor 30 Mil­lio­nen Jah­ren, zu Braun­kohle ver­wan­delt, zwi­schen Salz- und Kaliflö­zen, aus deren Abbau eine gigan­ti­sche Indus­trie erwächst. Er hört »das Fie­ber der Gru­ben und Werke« pochen, sieht die »tie­fen Wun­den, um des Fort­schritts wil­len der Erde geschla­gen«, aber auch wie aus der Völ­ker­mi­schung an der Grenze zwi­schen Sla­wen und Ger­ma­nen ein Typus erwächst, der zur Musik neigt, zur Aus­drucks­kraft, die in den Mer­se­bur­ger Zau­ber­sprü­chen auf­scheint, beim Naum­bur­ger Meis­ter, in den Lie­bes­lie­dern des Hein­rich von Mor­un­gen, bei den Mys­ti­ke­rin­nen im Klos­ter Helfta, in Luther und Nietz­sche. So habe ihn die­ses »Land der Unruhe« auf­ge­schlos­sen und begie­rig gemacht nach den Erschei­nun­gen des Lebens.

Daniela Danz’ ers­ter Gedicht­band ist der glei­chen Region gewid­met, nur Seri­m­unt genannt, nach einer alten Bezeich­nung, die sie in Zed­lers Uni­ver­sal­le­xi­kon, ihrem »ety­mo­lo­gi­schen Haus­schatz« aus der Mitte des 18. Jahr­hun­derts, fand: »Seri­m­unt sey der Strich gewe­sen zwi­schen der Saale und Mulde, wo sie sich in die Elbe ergies­sen«. Das Mans­fel­der Land taucht bei ihr auf, und in ihm der Berg­haupt­mann Fried­rich von Har­den­berg, Nova­lis, der Neu­land­be­stel­ler, der die Braun­kohle frei­legt, und als Dich­ter die Nacht- und Traum­seite des Lebens erschließt. In Mor­un­gen sucht sie nach Spu­ren Hein­richs. Aber Seri­m­unt ist keine Orts­be­ge­hung, der sagen­hafte Name eher ein Ver­frem­dungs­ef­fekt, kein Brecht’scher, son­dern wie ihn Nova­lis for­dert: »Die Welt muss roman­ti­siert wer­den. (…) Indem ich (…) dem Gewöhn­li­chen ein geheim­nis­vol­les Anse­hen, dem Bekann­ten die Würde des Unbe­kann­ten (…) gebe, so roman­ti­siere ich es.«

Das ist das Gegen­teil des­sen, was heute als roman­tisch gilt: keine Ver­klä­rung, son­dern Schär­fung der Sinne, um das große Ganze im Kleins­ten wahr­zu­neh­men, im Frag­ment eine Welt zu erfas­sen, in der alles mit allem zusam­men­ge­hört. Eine Poe­sie des Sprö­den, das sich jeder Ver­ein­nah­mung ent­zieht: »abwei­send wie fal­ter / flü­gel öffne ich mein / gesicht« (am abend eines dar­auf fol­gen­den tages). Emp­find­sam wie die Land­schaft der geschun­de­nen Provinz.

Pon­tus heißt der zweite Band und wie­der hilft Zed­ler nur schein­bar auf die Sprünge: Pon­tus hät­ten die Deut­schen das Schwarze Meer »genen­net«, im Osten Kol­chis umfas­send, im Wes­ten die Mol­dau und Tra­kien, im Süden Klein-Asien und im Nor­den das »Euro­päi­sche Sar­ma­tien«. 2009, als die Gedichte erschie­nen, galt diese Region den Deut­schen eher als Idyll, das man bes­ten­falls von Post­kar­ten kannte. Obwohl sie schon damals von jenen Span­nun­gen vibrierte, die fünf Jahre dar­auf zur rus­si­schen Anne­xion der Krim führ­ten. In dem Band wird die­ses seis­mi­sche Zit­tern bereits fühl­bar, indem er den Pon­tus als Schmelz­tie­gel euro­päi­scher Geschichte durch­sich­tig macht: Schicht um Schicht wird wie bei einer Gra­bung frei­ge­legt. Hier bestand Odys­seus seine Aben­teuer, hier segelte Iason mit sei­nen Argo­nau­ten, um das Gol­dene Fließ zu rau­ben. Hier lag Tau­ris, die Insel der Iphi­ge­nie, und unter dem Tau­ris­berg der größte Atom­bun­ker Stalins.

Wir sehen »auf- und nie­der­gang der rei­che«, aber ver­ste­hen sie nicht: »wir sehen in den spie­gel des pon­tus erfin­den geschich­ten trei­ben die klei­nen räder der inter­pre­ta­tion und die grö­ße­ren unse­rer geschicke.«

Was andere mit Sonn­tags­re­den beschwö­ren, das löst diese Lyri­ke­rin ein: die »Auf­ar­bei­tung« genannte Erkun­dung von Geschichte, indem sie ihre ding­hafte Gestalt auf­löst, die Kon­tu­ren des­sen ver­wischt, was wir zu besit­zen glau­ben. Geschichte ist das, was mit und durch uns selbst geschieht. Sie ist immer gegen­wär­tig, nie ver­gan­gen, die Toten vor uns sind nicht tot, wenn wir sie als Lebende wahr­neh­men, ihre Ener­gien, ihr laby­rin­thi­sches Suchen, ihr Auf­bäu­men gegen die Wid­rig­kei­ten ihrer Zeit, das alles ist noch heute abruf­bar, wenn wir es leben­dig erin­nern, wenn wir selbst uns in die fort­wir­kende Zeit hin­ein­be­ge­ben, wie in ein offe­nes Meer: »Wir die wir Land­kar­ten sehen / statt Meere wir ken­nen die Küs­ten«, wir ken­nen die Gren­zen, die uns in Sicher­heit wie­gen, die wir absi­chern vor den ande­ren, die auf dem Floß der Medusa trei­ben (Fes­tung). »tap­fer wer­den wir sein / von nun an und ste­chen in See«, heißt es am Ende des Gedich­tes Nach dem Meer und es klingt ein wenig nach Pfei­fen im fins­te­ren Wald.

Genau da setzt der dritte Band von 2014 ein. Mit der Stimme des­sen, was wir ver­las­sen haben, was uns zurück­ruft und wie­der ein­holt in den schlaf­lo­sen Nächten:

Das ist das Land von dem man sagt
daß alles hier auf­hört und alles anfängt
das sind die Dör­fer die im Schlaf
über mich krie­chen mit schwe­ren Sockeln
der Kir­chen und bel­len­den Hunden
das sind die Dör­fer in deren Leere
ich mor­gens stehe wenn ich erwache
(…)
Das ist das Land der kal­ten Dörfer
das sind die bel­len­den Dörfer
die sagen: wie lebst du bequem
wäh­rend wir drei­mal aufhören
(…)
das ist das leere Land das mich
mor­gens bekniet und abends verbellt
(…)

Das ist die Hei­mat, die nicht nur Halt ver­leiht, die uns auch Fes­seln anlegt, von der wir uns los­rei­ßen müs­sen, wenn wir nicht ersti­cken, wenn wir eine eigene Stimme aus­bil­den wol­len, drau­ßen in der Fremde, aus der wir, fremd gewor­den, heimkehren.

Für mich hat der ganze Band etwas von Heim­kehr, aber das liegt an mir, an mei­ner eige­nen Her­kunft. Auf dem Schutz­um­schlag sind die Kon­tu­ren einer stein­zeit­li­chen Kreisgraben¬anlage zu sehen, ange­deu­tet wie im Nebel oder blas­sem Mor­gen­licht. Der Ring­wall von Gos­eck, bewor­ben als das älteste Son­nen­ob­ser­va­to­rium Euro­pas, vor 7.000 Jah­ren errich­tet. Doch die tou­ris­ti­sche Auf­wer­tung die­ses Land­strichs, in dem ich vor 62 Jah­ren gebo­ren wurde, den ich mit Schul­freun­den durch­wan­dert habe, inter­es­siert die Lyri­ke­rin nicht. Auch nicht die fach­wis­sen­schaft­li­che Gra­bung der Archäo­lo­gen. Sie berich­tet wie eine Chro­nis­tin vom All­tag der archai­schen Sied­lung, in der Fremde als Hel­den ver­ehrt wer­den und die Gemein­schaft ihre Kraft an eine Stele ver­liert, die sie auf­rich­ten, um alles darin aufzuschrei¬ben was in ihren Tagen geschah.
Die mythen­schaf­fende Vor­zeit erscheint in ihrer All­täg­lich­keit und im nächs­ten Gedicht der heu­tige All­tag mythisch: in Hier blickt ein Wir von Schloß Gos­eck auf die Ebene von Eula hinab, wo Dresch­ma­schi­nen die Schä­del von 13 Toten bar­gen, einer Fami­lie der Jung­stein­zeit, und sie sehen im Tal, auf der ICE-Stre­cke zwi­schen Mün­chen und Stock­holm, einen Zug ver­har­ren, nicht ahnend, daß sich »zwei aus die­ser Gegend« zwi­schen Leiß­ling und Weißen¬fels auf die Gleise gelegt hat­ten. Durch diese Unter­bre­chung aber nimmt ein Rei­sen­der in der »mit­tel­deut­schen Leere« mit einem Mal die Land­schaft wahr, sieht er einen Unter­schied im Weiß der Häuser.

Mag sein, daß die Nen­nung mei­ner Vater­stadt mich sen­ti­men­tal berührt, das Gedicht ist es nicht: es mon­tiert nüch­tern Ebe­nen der Wahr­neh­mung und zeigt exem­pla­risch, wie unsere Welt­sicht, unser Welt­erle­ben sich wei­tet und ver­tieft, je mehr Par­ti­kel, Frag­mente von Wirk­lich­keit wir auf­zu­neh­men, zusam­men-zuschauen ver­mö­gen. Wie Wal­ter Bauer es auf seine Art mit dem Essay über das »Land der Unruhe« ver­sucht hat, aus Kanada zurück bli­ckend auf seine Mer­se­bur­ger Heimat.

Aber der Band heißt ja gar nicht Hei­mat, son­dern V. und das steht für Vater­land. Ein schwie­ri­ges, ein ver­brauch­tes Wort. Daniela Danz zitiert Zed­lers Lexi­kon, Vater­land sei der Ort, an dem man gebo­ren wurde, dem man Bür­ger­rechte ver­danke und des­halb auch mit Pflich­ten ver­bun­den sei. Es ist die Hei­mat, die uns in die Pflicht nimmt.
Für Füh­rer, Volk und Vater­land wurde einst Wal­ter Bauer zur Wehr­macht ein­ge­zo­gen. Fürs Vater­land star­ben Mil­lio­nen Deut­sche in zwei Welt­krie­gen. Für Bauer blieb es seine größte Schmach, sich dem nicht ent­zo­gen zu haben, was heute leich­ter gesagt ist, als damals gelebt wer­den konnte.

Daniela Danz erzählt in ihrem Roman Lange Fluch­ten von einem Sol­da­ten, der sich in einem Trauma ver­liert, dem sich die Welt und sein Ich auf­lö­sen, aber nicht infolge eines traumati¬schen Kriegs­ein­sat­zes, son­dern genau umge­kehrt: weil er eben nicht in den Kosovo durfte. Er durfte sich nicht bewäh­ren, seine Pflicht nicht erfül­len, sein Ideal einer »inne­ren Füh­rung« nicht ver­wirk­li­chen. Schon in Pon­tus gibt es ein gleich­na­mi­ges Gedicht – gegen den heil­lo­sen Sol­da­ten, der mit dum­men Waf­fen irgendwo hin­ge­schickt werde. Dage­gen steht im Roman das Bild vom »Staats­bür­ger in Uni­form«, der »eigent­lich ein Künst­ler« sei: immer das Ganze im Blick müsse er »auf Mes­sers Schneide« das Rich­tige abwä­gen und selb­stän­dig handeln.
Das klingt befremd­lich und erin­nert an Ernst Jün­gers Ästhe­ti­sie­rung des Frontsoldaten.
Bei Wal­ter Bauer heißt es im jüngst erschie­ne­nen Nach­laß­band Phönixlied:

Ich tue meine Pflicht, sagte der Pilot,
Für das Vaterland,
Für die Demokratie,
Für die Ver­tei­di­gung der Freiheit,
Für meine Lie­ben daheim;
So sagte der Pilot.

Aber das alles sagte er ja gar nicht.
Er liebte das Fliegen,
Er liebte sei­nen Beruf,
Genug­tu­ung emp­fand er, wenn
Die Bom­ben sich lös­ten, und
Befrie­di­gung über die Prä­zi­sion des Abwurfs;
Und wie von gut geta­ner Arbeit
Kehrte er heim, und nach
Ruhi­gem Schlaf
Schrieb er sei­nen Lie­ben: Ich bin gesund.«

Gibt es einen grö­ße­ren Gegen­satz zur Künst­ler-Ver­klä­rung des Sol­da­ten als die­ses Gedicht auf einen Mas­sen­mör­der, der nur sei­nen Job macht, ver­faßt im Stile Brechts oder eines Erich Fried?
Aller­dings: mit­ten im Krieg schlug auch Wal­ter Bauer ganz andere Töne an. In sei­nen Tage­buch­blät­tern aus Frank­reich von 1941 notiert er, als Sol­dat aus sei­nem alten Leben geris­sen sei er emp­find­sa­mer gewo­ren, als wüchse er »in eine neue Schau der Dinge hin­ein«, als spüre er durch die Nähe des dro­hen­den Todes ein »hin­ter­grün­di­ges Dasein«, vor dem alles in eigen­ar­ti­gem Glanz erscheine.

Was Bauer hier beschreibt, ist der Augen­blick, die Sphäre des Ästhe­ti­schen: her­aus­ge­ris­sen aus dem Gewohn­ten, dem All­täg­li­chen, lösen sich die Kon­tu­ren des­sen auf, was wir Wirk­lich­keit nen­nen. Gren­zen wer­den durch­läs­sig, Sicher­hei­ten ver­schwin­den, Welt und Ich stür­zen inein­an­der. Das allei­nige Ich kann die­sen Augen­blick als abso­lute Ver­lo­ren­heit emp­fin­den und sich im Nichts ver­lie­ren, es kann aber auch das All-Einige des Seins wahr­neh­men und sich im Uni­ver­sum, in einer uni­ver­sel­len, all­um­fas­sen­den Kraft auf­ge­ho­ben spü­ren. Die Mys­ti­ker spra­chen von Gott, Höl­der­lin vom Gött­li­chen, Peter Weiss nannte es die Lebens­kraft, die uns Hoff­nung gebe.
Der späte Wal­ter Bauer spricht vom »Zwi­schen­reich / Tiefs­ter Ent­rü­ckung: eh du stirbst – / Du weisst es, dass du stirbst« öffne sich die Welt: »Ich sah die Erde neu, alles / Wie neu geschaf­fen und in Licht getaucht«.
Es braucht für diese »Erleuch­tung«, die­ses Auf­schei­nen des Schö­nen im Augen­blick des dro­hen­den Ich-Ver­lus­tes, im Ein­ge­den­ken, im Wahr­neh­men der eige­nen Ver­gäng­lich­keit, nicht der Todes­ge­fahr des Sol­da­ten. Kunst kann sie bewir­ken, wenn sie an die Gren­zen von Ich und Welt geht.

Genau das macht Daniela Danz in ihrem jüngs­ten Band von 2020: Wild­niß genannt, nimmt er den Unter­gang der bis­her gewohn­ten Indus­trie-Gesell­schaft vor­weg. Die Aus­beu­tung der Natur reißt nicht nur, wie Bauer es sah, die Haut der Erde auf, sie gräbt sich selbst wort¬wörtlich den Boden ab, sie stürzt in die Höh­len, mit denen sie das Land unter­mi­niert. Wie in Beres­niki, der eins­ti­gen »Stadt der Avant­garde«, dem Sitz des welt­größ­ten Kali­pro­du­zen­ten im Ural. Die schein­bar unter­le­gene, die beherrschte Natur kehrt wie­der: als Wild­nis. Als die »unbe­hol­fene Wild­niß« Höl­der­lins: unschul­dig wuchernd in ihrer anar­chi­schen Lebendigkeit.

»… du sahst im Schlaf / wie der Wald näher kam und hör­test ihn flüs­tern: / zer­fal­len wird das Haus in dem du schläfst …« Diese Wild­nis hat etwas Tröst­li­ches. Sie ist keine Gefahr, son­dern Heim­kehr ins Ursprüngliche:
»KOMM WILDNIS IN UNSERE HÄUSER / zer­brich die Fens­ter komm / mit Wur­zeln und Wür­mern / über­wu­chere unsere Wün­sche / Müll­tren­nungs­sys­teme Pro­the­sen / und Zahlungsverpflichtungen …«

Es ist gut und rich­tig, wenn die Wild­nis diese Schein­welt der Pro­the­sen auf­frißt, ihr Ster­ben kennt­lich macht. Ster­ben-Kön­nen ist ein Zei­chen von Leben­dig­keit im Kreis­lauf von Wer­den und Ver­ge­hen. Nur was ver­geht, bleibt in der Erin­ne­rung, kann neues Leben befruch­ten, birgt die Hoff­nung auf Wie­der­ge­burt in ande­rer Gestalt.
(…)

Liebe Daniela, herz­lich will­kom­men in der Bauer-Fami­lie. Wir alle freuen uns auf das Treib­gut, das du vom Bos­po­rus mit­brin­gen wirst, von der Grenze zwi­schen Europa und Asien, wo West und Ost sich ver­men­gen, wo Neues ent­ste­hen – könnte.

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