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Franziska Wilhelm
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Meine Großmutter hieß Irmgard Perpetua und wurde 1932 geboren. Den seltsamen Zweitnamen bekam sie von ihrer Patentante, Tante Petchen, die natürlich auch Perpetua hieß. Es lässt sich nicht mehr herausfinden, warum Tante Petchen den Namen Perpetua erhielt. Man kann nur mutmaßen, dass es sich um katholische Gründe handelte, denn dieser Teil meiner Familie stammt aus dem Eichsfeld.
Meine Großmutter wurde in der Nähe von Worbis geboren. Ihr Vater Karl war Gastwirt und Metzgermeister, ihre Mutter Sophie, die gleichzeitig strengste und mildeste Person weit und breit. Das fand zumindest mein Onkel Ulrich, von dem ich das meiste über das Eichsfeld und meine Familie dort erfahren habe. Mein Onkel Ulrich hatte ein großes Talent, sich auch an die kleinen Dinge zu erinnern. Außerdem konnte er hervorragend erzählen. Seine Geschichten waren immer eine Mischung aus Wahrheit und Dichtung. Deshalb sind sie auch so schön. Aber man muss eben auf der Hut sein.
In der Literatur würde man meinen Onkel vielleicht einen unzuverlässigen Erzähler nennen. Trotzdem war er der beste Informant, den ich hatte. Von ihm weiß ich, dass meine Oma als Wirtstochter in einem Gasthof aufwuchs, der Schützenhaus hieß. Das Gebäude gibt es bis heute. Inzwischen ist es allerdings eine Großraumdisco. In den Nullerjahren war ich einmal mit meinen Cousinen zum Tanzen dort. Es war Schaumparty.
Als meine Oma noch im Schützenhaus lebte, gab es noch keine Schaumpartys. Dafür wurde der große Saal vom örtlichen Turnverein mitgenutzt. Es standen Schwebebalken und Recks darin, an denen meine Oma als Kind so viel turnen durfte, wie sie wollte. Das wiederum legte den Grundstein für ihre zahlreichen Siege bei DDR-Sportfesten. Jahrelang war sie die sportlichste Frau des Betonwerks, in dem sie arbeitete. Auch als ich einmal mit ihr in ein FDGB-Ferienheim fuhr, räumte sie – inzwischen schon Rentnerin – beim Urlaubssportfest gleich mehrere Medaillen ab. Ich ging wie immer leer aus, denn ich bin bisher nie besonders erfolgreich bei sportlichen Wettkämpfen gewesen. Aber ich bin auch nicht im Schützenhaus aufgewachsen.
Nochmal zum Namen Perpetua. Von der Wortbedeutung her steht er für das Ewige, das Beständige. Ein bisschen kann man sich das von Perpetuum mobile herleiten. Außerdem gibt es gleich zwei heilige Perpetuas. Die eine soll von Petrus selbst getauft worden sein. Sie kam allen Bedürftigen mit Barmherzigkeit entgegen, tröstete die Betrübten und begrub mit Sorgfalt die Leiber der heiligen Märtyrer. Reich an Verdiensten starb sie im Frieden. Die andere Perpetua wurde mit ihrer Sklavin Felicitas selbst zur Märtyrerin. Außerdem war sie die Schutzpatronin der Fleischer. Letzteres passt wiederum gut, weil mein Uropa ja Metzger war und das Essen im Eichsfeld schon immer eine besondere Rolle gespielt hat.
Mein Onkel Ulrich fand, das hängt mit der Kargheit der Böden zusammen. Im Eichsfeld gibt es sehr viel Kalkstein. Neben den Feldern sah man oft größere Steinhaufen. Auch meine Urgroßeltern hatten einen Acker gepachtet. Hauptsächlich um Futter für ihre zwei Schweine anzubauen. Doch bevor etwas ausgesät werden konnte, musste man die Kalksteine vom Feld sammeln und auf den Steinhaufen werfen. Jedes Jahr aufs Neue, denn immer kamen welche aus der Erde nach. Weil das alles so mühselig war, schätze man das, was am Ende rauskam umso mehr und dankte Gott dafür, dass es nicht noch weniger war. So wurde Essen im Eichsfeld gewissermaßen etwas Heiliges. Zumindest erklärte es sich mein Onkel so, der allerdings in Nordthüringen aufwuchs, weil meine Oma Irmgard Perpetua das Eichsfeld schon als junge Frau verließ.
Ich selbst bin in Erfurt geboren. Ein absolutes Stadtkind also. Doch mir wurde immer viel von der Großartigkeit der Eichsfelder Wurst berichtet. Als ich meine erste Stracke dann endlich probieren durfte, war ich fast ein bisschen enttäuscht. In meinen Augen war es einfach nur eine große, weiche, fettreiche Salami. Meine Großmutter Irmgard Perpetua, mein Onkel Ulrich und auch mein Vater konnte sich dagegen über Fleisch aus dem Eichsfeld immer wieder auf eine ganz besondere Weise freuen. Sie schnitten sich dicke Scheiben Wurst ab und aßen frisches Brot dazu. Oder sie brieten sich Bauchspeck in der Pfanne. Es wurde weder das gute Geschirr aus dem Schrank geholt noch eine Kerze angezündet. Dennoch konnte ich die feierliche Stimmung im Raum deutlich spüren. Auch wenn ich es nicht schaffte, sie geschmacklich nachzuempfinden. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch nie eine große Fleischesserin gewesen bin. Vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass ich nie bei einer Schlachtung im Eichsfeld dabei war.
Wie gesagt, der Metzgeropa Karl besaß bis ins hohe Alter immer mindestens zwei Schweine. Für seine Enkel, zumindest für meinen Onkel Ulrich, war es immer die Party des Jahres, wenn eines davon geschlachtet wurde. Alle Cousinen und Cousins, alle Tanten und Onkels kamen zum Helfen vorbei. Wenn es soweit war, führte Urgroßvater Karl das Tier auf den Hof, setzte ihm das Bolzenschussgerät an den Kopf und drückte ab. Dann knallte es und das Schwein fiel um. Sobald es leblos auf der Seite lag, stach ihm Karl mit einem langen, großen Messer in die Achsel. So wurde die Schlagader geöffnet. Es ging darum, dass das Schwein ausblutete. Doch es blutete nicht einfach nur so aus. Genau genommen wurde es leergepumpt. Großvater Karl nahm dazu das Vorderbein des Tieres in die Hand und bewegte es immer wieder rauf und runter.
Das hervorquellende Blut wurde sorgfältig aufbewahrt. Es war ein wertvoller Stoff. Allerdings klumpte es schnell, wenn es an die Luft kam. Deshalb musste es immer in Bewegung gehalten werden. Oft war es meine Großmutter, die diese Aufgabe übernahm, denn sie galt als die beste Blutrührerin der Familie. Irmgard Perpetua rührte also mit der nackten Hand im Blut, bis sich das Rot immer dunkler verfärbte und am Ende wurde Blutwurst daraus gemacht.
Schon als Kind beeindruckte es meinen Onkel Ulrich immer, was alles von so einem Schwein verwertet werden konnte. Neben dem Blut und dem Fleisch waren auch die Innereien sehr gefragt. Das Hirn wurde gegessen, die Nieren ebenfalls, die Därme wurden für Wurstpellen gebraucht und die Blase für die Schale der Blutwurst. Außerdem musste die Haut abgezogen und an eine offizielle Stelle abgegeben werden, weil das in der DDR so Vorschrift war. Alle Bestandteile wurden fein säuberlich auseinandergenommen, behandelt und verarbeitet. Neben der Party war das Schlachten deshalb auch eine Riesenarbeit. Und wie es im Leben so ist, das, was man sich hart und aufwändig erarbeitet hat, schätzt man wert. Man behandelt es achtsam. Man lässt es nicht gammelig werden. Man schmeißt es nicht weg.
Darin liegt der Unterschied zu der Welt, die ich heute kenne. Laut einer Studie des WWF* werden in Deutschland pro Jahr über 18 Millionen Tonnen an Lebensmitteln weggeworfen. Das ist fast ein Drittel dessen, was wir an Nahrung verbrauchen. Gut zehn Millionen Tonnen dieser Lebensmittelabfälle seien vermeidbar, lautet ein Ergebnis der Untersuchung. Keine Ahnung wie so etwas genau erhoben wird. Klar ist nur, dass zehn Millionen Tonnen eine ganze Menge sind. Wenn man das Zahlenspiel weiterführen möchte, bedeuten zehn Millionen Tonnen weggeworfenes Essen, dass jährlich zweieinhalb Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche umsonst bewirtschaftet werden. Das sind die Flächen von Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland zusammen. »Uff«, würde Uropa Karl da vielleicht sagen. Dabei wüsste er noch nicht einmal, dass man da eigentlich noch die 48 Millionen Tonnen unnötig freigesetzte Treibhausgasemissionen hinzurechnen muss.
»Ziemlich miese Bilanz«, sage ich, die früher mal in einem Klimaprojekt gearbeitet hat. Nachhaltige Ernährung war damals zwar nicht mein Schwerpunkt, doch Essen bleibt immer ein spannendes Thema für mich. Vor allem weil es so widersprüchlich ist. »Ernährung ist die neue Religion«, las ich mal irgendwo in einem Artikel. Es ging darum, dass sich immer mehr Menschen dem Thema so intensiv widmen, dass es kultische Ausmaße annimmt. Da wird auf Zucker verzichtet. Und auf Gluten. Da wird kein rotes Fleisch gegessen, dafür aber umso mehr rote Beeren. Da wird heil- oder intervallgefastet. Da wird auf Meersalz geachtet. Da werden Smoothies mit Blattspinat getrunken. Da wird Kuhmilch gemieden und die Barista-Version eines Haferdrinks bestellt.
Einerseits machen wir das totale Brimborium um unser Essen und widmen uns seiner Zusammensetzung mit unglaublich viel Beachtung und Hingabe. Andererseits landen am Ende zehn Millionen Tonnen genießbare Lebensmittel im Müll. Das ist schon ein bisschen schizophren, finde ich. Aber vielleicht ist es gerade deshalb auch so ein typisches Zeichen der Zeit, in der wir leben. Wir sind so globalisiert, so überspezialisiert, so optimum-orientiert, dass wir den steinigen Boden unter den Füßen verloren haben, auf dem meine Urgroßeltern noch felsenfest standen – neben ihren Schweinen, ihren Hühnern und Enten, ihren Gemüsebeeten und Obstbäumen. Sophie und Karl mussten sich nicht stundenlang belesen, was genau in ihrem Essen enthalten war, einfach weil sie es selbst anbauten, fütterten, pflegten und verarbeiteten.
So, jetzt muss ich aufpassen, dass ich mit diesem Text nicht in die Früher-war-alles-besser-Schiene abdrifte. Früher war auch nicht alles besser, selbst was das einfache Landleben betraf. Uropa Karl aß zwar immer schön regional und saisonal, wie es die Klimaschutzorganisationen von heute empfehlen, doch seinen Fleischkonsum hätte er sicher nie freiwillig eingeschränkt. Auch wenn ihm Greta Thunberg höchst persönlich erklärt hätte, dass ein Brätel einen wesentlich höheren CO2-Fußabdruck hat als ein Teller Bohnen. Uropa Karl hätte so wenig auf sein Fleisch verzichtet, wie auf seine Zigarren und seinen Schnaps, den er brauchte, um die fettreiche Wurst zu verdauen. Alt ist er trotzdem geworden. Genau wie meine Großmutter Irmgard Perpetua, die vergangenes Jahr friedlich auf ihrer Couch einschlief. Mein Onkel Ulrich ist noch vor ihr gegangen. Vermutlich weil sein wirkliches Leben doch so wild war, wie seine Geschichten, vielleicht sogar noch etwas wilder. Was bleibt, ist die Frage, wie man es richtig macht. Wie man den Boden unter den Füßen behält, in seiner eigenen Zeit.
Es wird mir leicht fallen, weniger Fleisch zu essen als Uropa Karl. Allerdings sind die Lebensmittel, die ich bisher zu mir genommen habe, meist weiter transportiert und länger gekühlt wurden. Außerdem habe mich dafür nicht auf einem Acker abgemüht, sondern sie bequem im Supermarkt eingekauft. Vielen von Ihnen, die Sie diesen Text gerade lesen, wird es vermutlich ebenso gehen. Ich denke, die Herausforderungen unserer Zeit liegen auch nicht mehr so sehr im Steine-vom-Feld-sammeln oder im Blutrühren. Die Herausforderungen unserer Zeit liegen eher darin, zu entscheiden, was wir konsumieren, wie wir konsumieren und auch welchen Preis wir bereit sind, dafür zu zahlen. Außerdem werden wir lernen müssen, genügsamer zu sein. Trotz aller Verlockungen und Schnäppchenangebote. Das ist auf eine andere Weise anstrengend.
Ich gebe zu, da ist auch bei mir noch Luft nach oben, da kann ich auf jeden Fall noch eine Nachhaltigkeits-Schippe drauflegen. Nicht nur für mich, sondern auch für meine kleine Tochter, die, während ich das hier schreibe, in einer leinengrauen Trage an meinem Bauch schläft. Die Kleine konnte mein Oma leider nicht mehr kennenlernen. Was ich mir aber für sie wünsche, ist ein bisschen Perpetua-Beständigkeit, ein Wurzelwerk, dass sie mit ihrer Urgoßmutter und ihren Ururgroßeltern über die Jahrhundertgrenzen hinweg verbindet. Ich möchte, dass sie ihre Füße – zumindest gefühlt – immer noch irgendwo auf einem steinigen Acker hat, der ihr Halt gibt. Und ich hoffe, dass das irgendwie klappt.
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