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Jens-Fietje Dwars
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Jens-Fietje Dwars
Was bleibet?
Laudatio zur Verleihung des Walter Bauer-Preises der Städte Leuna und Merseburg an Daniela Danz am 4. November 2022
Sehr geehrter Herr Staatssekretär für Kultur, Dr. Sebastian Putz,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister von Merseburg, Sebastian Müller-Bahr,
sehr geehrter Herr Bürgermeister von Leuna, Michael Bedla,
sehr geehrter Herr Geschäftsführer der InfraLeuna GmbH, Dr. Christof Günther,
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
liebe Daniela, so fern, so nah,
als Preise noch Orden hießen, wurden sie tatsächlich verliehen: als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft derer, die sich um das, was sie verband, verdient gemacht hatten. Und das war mehr als eine Dienstleistung, die man mit Geld belohnt, es war ihr Fühlen und Denken, ihre ganze Art zu sein. Starb der Ordensträger, die Trägerin, hatten ihre Nach¬kommen das Ehrenzeichen an den Orden zurückzugeben, der sich dann erst wieder einen würdigen Nachfolger aus einem kleinen Kreis von Geeigneten erwählte.
Der Walter Bauer-Preis ist kein Orden, aber eine Art Familie, in deren Vielstimmigkeit sich das Vielstimmige seines Werkes spiegelt. Mit jedem neuen Preisträger erschließt sich eine andere Facette des Namensgebers. Und so wäre zu fragen, welche Seite, welche Klangfarbe im Schreiben Walter Bauers die Bücher von Daniela Danz zum Leuchten bringen?
Ich liebe die Texte dieser Autorin, gerade weil sie sich leichtem Verständnis entziehen, weil sie verstören und zum Widerspruch einladen. Ihr Werk ist schmal, aber reich an Bildern, Perspektiven, Fragen und Problemen. In einer unverkennbar eigenen Sprache, die kraftvoll und zart, einfach und rätselhaft zugleich ist, voller Wohlklang und innerer Fülle, doch nie gefällig. 1976 in Eisenach geboren, hat Daniela Danz Kunstgeschichte und deutsche Literatur in Tübingen, Prag, Berlin, Leipzig und Halle studiert, wurde mit einer Arbeit über den Krankenhauskirchenbau in der Weimarer Republik promoviert und hat vier Gedichtbände und zwei Romane geschrieben.
Wie Walter Bauer schreibt sie nicht, um davon zu leben, sondern lebt in vielerlei Tätigkeiten und den damit verbundenen Rollen, um zu schreiben, schreibend diese Rollenspiele, die uns die Welt zumutet, zu ergründen: sie hat an der Universität Hildesheim gelehrt, war Kopf und Seele des Schillerhauses in Rudolstadt und leitet seit einem Jahr den Bundeswettbewerb »Demokratisch Handeln« für Kinder und Jugendliche. Ich zweifle ein wenig, ob man Demokratie in einem Wettbewerb erlernen kann. Demokratie heißt Aushalten und Austragen des Widerspruchs. Versöhnung, wußte Hölderlin, gibt es nur im Streit, mittendrin, nicht danach, nicht im faulen Kompromiß, in der Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, nicht in der »Aufhebung der Gegensätze«, sondern in der Entgegensetzung selbst, in der Öffnung für den Anderen und das Andere des Ichs, das uns erst die Welt erschließt.
»Komm, ins Offene«, lockt Hölder uns seit 200 Jahren, und Daniela Danz folgt ihm gern, ihrem liebsten Dichter.
Es erdet das eigene Schreiben, wenn man dafür andere Räume durchschreiten muß als das eigene Arbeitszimmer. Hölderlin wußte das oder vielmehr, seine Art in der Welt zu sein, lehrte es ihn: die Räume, die Rollen, in die er sich gedrängt sah, aufzubrechen, auszubrechen aus dem Ich. Hofmeister Hölderlein, dieser exzentrische Dichter, dem Goethe Bescheidenheit empfahl, sich kleiner Gegenstände anzunehmen, die man leicht zu überschauen vermag, statt sich in großen Ideen zu verlieren. Lauf, Hölder, lauf. Im Frühjahr 1795, als er in Jena vergeblich Fuß zu fassen hoffte, lief er zu Fuß nach Halle, Dessau, Leipzig und wieder zurück. Im Winter 1801 seine Wanderung nach Bordeaux, durch Schnee und Eis, und nur drei Monate darauf die Rückreise über Paris nach Nürtingen, wo er als ein anderer heimkam, von seiner Mutter kaum mehr erkannt. Hölderlin ging an Grenzen der Sprache, weil und indem er an gelebte Grenzen rührte, er ging leibhaftig zugrunde, an die Lebensgründe des Sagbaren: letzte Zeichen zu geben vom Dasein in dieser Welt, ausdeutbar für andere.
Auch Walter Bauer hat seinen Lebensraum verlassen, um neu zu beginnen: 1952 brach er, mit 48 Jahren, nach Kanada auf, angewiedert von dem einen Teil Deutschlands, der sein Gewissen mit einem Wirtschaftswunder betrog, und nicht bereit, sich in dem anderen vor den Karren einer Illusion spannen zu lassen. Als Schriftsteller zog er in ein Land, dessen Sprache er nicht beherrschte, sich für den geringsten Job nicht zu schade, als Tellerwäscher und Hilfsarbeiter. Im Gepäck die Mahnung der Toten, die er in Ost und West nicht erhöhrt sah: »Schafft eine menschliche Erde dem Menschen.« (Jedermanns Botschaft) So fand er neue Freunde und erneut Halt in seiner Muttersprache, die er wie fremdes Material zu behandeln lernte, als Student und später Lektor für Deutsch in Toronto.
Aus der Ferne schuf er Erinnerungen an die Region seiner Herkunft und gewann an Weite und Nähe des Blicks. Zweifellos: Die Stimme aus dem Leunawerk, sein stärkster Gedichtband von 1930, beschrieb das Werk wie ein lebendiges Wesen, indem er expressiv zur Sprache brachte, wie es die Kräfte der Arbeiter verschlang. Auch deren Alltag kam plastisch zum Ausruck, der dunkle Lebensgrund und darin leuchtend kleine Freuden wie das Anziehen eines weißen Hemdes nach Dienst. Nun aber, drei Jahrzehnte später, weitet sich sein Blick zeitlich und räumlich: Bauer erinnert einen abendlichen Gang ins Freie, in die mitteldeutsche Ebene, die wie ein Meer vor ihm liegt, ein Meer, auf dessen Grund er untergegangene Wälder sieht, versunken vor 30 Millionen Jahren, zu Braunkohle verwandelt, zwischen Salz- und Kaliflözen, aus deren Abbau eine gigantische Industrie erwächst. Er hört »das Fieber der Gruben und Werke« pochen, sieht die »tiefen Wunden, um des Fortschritts willen der Erde geschlagen«, aber auch wie aus der Völkermischung an der Grenze zwischen Slawen und Germanen ein Typus erwächst, der zur Musik neigt, zur Ausdruckskraft, die in den Merseburger Zaubersprüchen aufscheint, beim Naumburger Meister, in den Liebesliedern des Heinrich von Morungen, bei den Mystikerinnen im Kloster Helfta, in Luther und Nietzsche. So habe ihn dieses »Land der Unruhe« aufgeschlossen und begierig gemacht nach den Erscheinungen des Lebens.
Daniela Danz’ erster Gedichtband ist der gleichen Region gewidmet, nur Serimunt genannt, nach einer alten Bezeichnung, die sie in Zedlers Universallexikon, ihrem »etymologischen Hausschatz« aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, fand: »Serimunt sey der Strich gewesen zwischen der Saale und Mulde, wo sie sich in die Elbe ergiessen«. Das Mansfelder Land taucht bei ihr auf, und in ihm der Berghauptmann Friedrich von Hardenberg, Novalis, der Neulandbesteller, der die Braunkohle freilegt, und als Dichter die Nacht- und Traumseite des Lebens erschließt. In Morungen sucht sie nach Spuren Heinrichs. Aber Serimunt ist keine Ortsbegehung, der sagenhafte Name eher ein Verfremdungseffekt, kein Brecht’scher, sondern wie ihn Novalis fordert: »Die Welt muss romantisiert werden. (…) Indem ich (…) dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten (…) gebe, so romantisiere ich es.«
Das ist das Gegenteil dessen, was heute als romantisch gilt: keine Verklärung, sondern Schärfung der Sinne, um das große Ganze im Kleinsten wahrzunehmen, im Fragment eine Welt zu erfassen, in der alles mit allem zusammengehört. Eine Poesie des Spröden, das sich jeder Vereinnahmung entzieht: »abweisend wie falter / flügel öffne ich mein / gesicht« (am abend eines darauf folgenden tages). Empfindsam wie die Landschaft der geschundenen Provinz.
Pontus heißt der zweite Band und wieder hilft Zedler nur scheinbar auf die Sprünge: Pontus hätten die Deutschen das Schwarze Meer »genennet«, im Osten Kolchis umfassend, im Westen die Moldau und Trakien, im Süden Klein-Asien und im Norden das »Europäische Sarmatien«. 2009, als die Gedichte erschienen, galt diese Region den Deutschen eher als Idyll, das man bestenfalls von Postkarten kannte. Obwohl sie schon damals von jenen Spannungen vibrierte, die fünf Jahre darauf zur russischen Annexion der Krim führten. In dem Band wird dieses seismische Zittern bereits fühlbar, indem er den Pontus als Schmelztiegel europäischer Geschichte durchsichtig macht: Schicht um Schicht wird wie bei einer Grabung freigelegt. Hier bestand Odysseus seine Abenteuer, hier segelte Iason mit seinen Argonauten, um das Goldene Fließ zu rauben. Hier lag Tauris, die Insel der Iphigenie, und unter dem Taurisberg der größte Atombunker Stalins.
Wir sehen »auf- und niedergang der reiche«, aber verstehen sie nicht: »wir sehen in den spiegel des pontus erfinden geschichten treiben die kleinen räder der interpretation und die größeren unserer geschicke.«
Was andere mit Sonntagsreden beschwören, das löst diese Lyrikerin ein: die »Aufarbeitung« genannte Erkundung von Geschichte, indem sie ihre dinghafte Gestalt auflöst, die Konturen dessen verwischt, was wir zu besitzen glauben. Geschichte ist das, was mit und durch uns selbst geschieht. Sie ist immer gegenwärtig, nie vergangen, die Toten vor uns sind nicht tot, wenn wir sie als Lebende wahrnehmen, ihre Energien, ihr labyrinthisches Suchen, ihr Aufbäumen gegen die Widrigkeiten ihrer Zeit, das alles ist noch heute abrufbar, wenn wir es lebendig erinnern, wenn wir selbst uns in die fortwirkende Zeit hineinbegeben, wie in ein offenes Meer: »Wir die wir Landkarten sehen / statt Meere wir kennen die Küsten«, wir kennen die Grenzen, die uns in Sicherheit wiegen, die wir absichern vor den anderen, die auf dem Floß der Medusa treiben (Festung). »tapfer werden wir sein / von nun an und stechen in See«, heißt es am Ende des Gedichtes Nach dem Meer und es klingt ein wenig nach Pfeifen im finsteren Wald.
Genau da setzt der dritte Band von 2014 ein. Mit der Stimme dessen, was wir verlassen haben, was uns zurückruft und wieder einholt in den schlaflosen Nächten:
Das ist das Land von dem man sagt
daß alles hier aufhört und alles anfängt
das sind die Dörfer die im Schlaf
über mich kriechen mit schweren Sockeln
der Kirchen und bellenden Hunden
das sind die Dörfer in deren Leere
ich morgens stehe wenn ich erwache
(…)
Das ist das Land der kalten Dörfer
das sind die bellenden Dörfer
die sagen: wie lebst du bequem
während wir dreimal aufhören
(…)
das ist das leere Land das mich
morgens bekniet und abends verbellt
(…)
Das ist die Heimat, die nicht nur Halt verleiht, die uns auch Fesseln anlegt, von der wir uns losreißen müssen, wenn wir nicht ersticken, wenn wir eine eigene Stimme ausbilden wollen, draußen in der Fremde, aus der wir, fremd geworden, heimkehren.
Für mich hat der ganze Band etwas von Heimkehr, aber das liegt an mir, an meiner eigenen Herkunft. Auf dem Schutzumschlag sind die Konturen einer steinzeitlichen Kreisgraben¬anlage zu sehen, angedeutet wie im Nebel oder blassem Morgenlicht. Der Ringwall von Goseck, beworben als das älteste Sonnenobservatorium Europas, vor 7.000 Jahren errichtet. Doch die touristische Aufwertung dieses Landstrichs, in dem ich vor 62 Jahren geboren wurde, den ich mit Schulfreunden durchwandert habe, interessiert die Lyrikerin nicht. Auch nicht die fachwissenschaftliche Grabung der Archäologen. Sie berichtet wie eine Chronistin vom Alltag der archaischen Siedlung, in der Fremde als Helden verehrt werden und die Gemeinschaft ihre Kraft an eine Stele verliert, die sie aufrichten, um alles darin aufzuschrei¬ben was in ihren Tagen geschah.
Die mythenschaffende Vorzeit erscheint in ihrer Alltäglichkeit und im nächsten Gedicht der heutige Alltag mythisch: in Hier blickt ein Wir von Schloß Goseck auf die Ebene von Eula hinab, wo Dreschmaschinen die Schädel von 13 Toten bargen, einer Familie der Jungsteinzeit, und sie sehen im Tal, auf der ICE-Strecke zwischen München und Stockholm, einen Zug verharren, nicht ahnend, daß sich »zwei aus dieser Gegend« zwischen Leißling und Weißen¬fels auf die Gleise gelegt hatten. Durch diese Unterbrechung aber nimmt ein Reisender in der »mitteldeutschen Leere« mit einem Mal die Landschaft wahr, sieht er einen Unterschied im Weiß der Häuser.
Mag sein, daß die Nennung meiner Vaterstadt mich sentimental berührt, das Gedicht ist es nicht: es montiert nüchtern Ebenen der Wahrnehmung und zeigt exemplarisch, wie unsere Weltsicht, unser Welterleben sich weitet und vertieft, je mehr Partikel, Fragmente von Wirklichkeit wir aufzunehmen, zusammen-zuschauen vermögen. Wie Walter Bauer es auf seine Art mit dem Essay über das »Land der Unruhe« versucht hat, aus Kanada zurück blickend auf seine Merseburger Heimat.
Aber der Band heißt ja gar nicht Heimat, sondern V. und das steht für Vaterland. Ein schwieriges, ein verbrauchtes Wort. Daniela Danz zitiert Zedlers Lexikon, Vaterland sei der Ort, an dem man geboren wurde, dem man Bürgerrechte verdanke und deshalb auch mit Pflichten verbunden sei. Es ist die Heimat, die uns in die Pflicht nimmt.
Für Führer, Volk und Vaterland wurde einst Walter Bauer zur Wehrmacht eingezogen. Fürs Vaterland starben Millionen Deutsche in zwei Weltkriegen. Für Bauer blieb es seine größte Schmach, sich dem nicht entzogen zu haben, was heute leichter gesagt ist, als damals gelebt werden konnte.
Daniela Danz erzählt in ihrem Roman Lange Fluchten von einem Soldaten, der sich in einem Trauma verliert, dem sich die Welt und sein Ich auflösen, aber nicht infolge eines traumati¬schen Kriegseinsatzes, sondern genau umgekehrt: weil er eben nicht in den Kosovo durfte. Er durfte sich nicht bewähren, seine Pflicht nicht erfüllen, sein Ideal einer »inneren Führung« nicht verwirklichen. Schon in Pontus gibt es ein gleichnamiges Gedicht – gegen den heillosen Soldaten, der mit dummen Waffen irgendwo hingeschickt werde. Dagegen steht im Roman das Bild vom »Staatsbürger in Uniform«, der »eigentlich ein Künstler« sei: immer das Ganze im Blick müsse er »auf Messers Schneide« das Richtige abwägen und selbständig handeln.
Das klingt befremdlich und erinnert an Ernst Jüngers Ästhetisierung des Frontsoldaten.
Bei Walter Bauer heißt es im jüngst erschienenen Nachlaßband Phönixlied:
Ich tue meine Pflicht, sagte der Pilot,
Für das Vaterland,
Für die Demokratie,
Für die Verteidigung der Freiheit,
Für meine Lieben daheim;
So sagte der Pilot.
Aber das alles sagte er ja gar nicht.
Er liebte das Fliegen,
Er liebte seinen Beruf,
Genugtuung empfand er, wenn
Die Bomben sich lösten, und
Befriedigung über die Präzision des Abwurfs;
Und wie von gut getaner Arbeit
Kehrte er heim, und nach
Ruhigem Schlaf
Schrieb er seinen Lieben: Ich bin gesund.«
Gibt es einen größeren Gegensatz zur Künstler-Verklärung des Soldaten als dieses Gedicht auf einen Massenmörder, der nur seinen Job macht, verfaßt im Stile Brechts oder eines Erich Fried?
Allerdings: mitten im Krieg schlug auch Walter Bauer ganz andere Töne an. In seinen Tagebuchblättern aus Frankreich von 1941 notiert er, als Soldat aus seinem alten Leben gerissen sei er empfindsamer geworen, als wüchse er »in eine neue Schau der Dinge hinein«, als spüre er durch die Nähe des drohenden Todes ein »hintergründiges Dasein«, vor dem alles in eigenartigem Glanz erscheine.
Was Bauer hier beschreibt, ist der Augenblick, die Sphäre des Ästhetischen: herausgerissen aus dem Gewohnten, dem Alltäglichen, lösen sich die Konturen dessen auf, was wir Wirklichkeit nennen. Grenzen werden durchlässig, Sicherheiten verschwinden, Welt und Ich stürzen ineinander. Das alleinige Ich kann diesen Augenblick als absolute Verlorenheit empfinden und sich im Nichts verlieren, es kann aber auch das All-Einige des Seins wahrnehmen und sich im Universum, in einer universellen, allumfassenden Kraft aufgehoben spüren. Die Mystiker sprachen von Gott, Hölderlin vom Göttlichen, Peter Weiss nannte es die Lebenskraft, die uns Hoffnung gebe.
Der späte Walter Bauer spricht vom »Zwischenreich / Tiefster Entrückung: eh du stirbst – / Du weisst es, dass du stirbst« öffne sich die Welt: »Ich sah die Erde neu, alles / Wie neu geschaffen und in Licht getaucht«.
Es braucht für diese »Erleuchtung«, dieses Aufscheinen des Schönen im Augenblick des drohenden Ich-Verlustes, im Eingedenken, im Wahrnehmen der eigenen Vergänglichkeit, nicht der Todesgefahr des Soldaten. Kunst kann sie bewirken, wenn sie an die Grenzen von Ich und Welt geht.
Genau das macht Daniela Danz in ihrem jüngsten Band von 2020: Wildniß genannt, nimmt er den Untergang der bisher gewohnten Industrie-Gesellschaft vorweg. Die Ausbeutung der Natur reißt nicht nur, wie Bauer es sah, die Haut der Erde auf, sie gräbt sich selbst wort¬wörtlich den Boden ab, sie stürzt in die Höhlen, mit denen sie das Land unterminiert. Wie in Beresniki, der einstigen »Stadt der Avantgarde«, dem Sitz des weltgrößten Kaliproduzenten im Ural. Die scheinbar unterlegene, die beherrschte Natur kehrt wieder: als Wildnis. Als die »unbeholfene Wildniß« Hölderlins: unschuldig wuchernd in ihrer anarchischen Lebendigkeit.
»… du sahst im Schlaf / wie der Wald näher kam und hörtest ihn flüstern: / zerfallen wird das Haus in dem du schläfst …« Diese Wildnis hat etwas Tröstliches. Sie ist keine Gefahr, sondern Heimkehr ins Ursprüngliche:
»KOMM WILDNIS IN UNSERE HÄUSER / zerbrich die Fenster komm / mit Wurzeln und Würmern / überwuchere unsere Wünsche / Mülltrennungssysteme Prothesen / und Zahlungsverpflichtungen …«
Es ist gut und richtig, wenn die Wildnis diese Scheinwelt der Prothesen auffrißt, ihr Sterben kenntlich macht. Sterben-Können ist ein Zeichen von Lebendigkeit im Kreislauf von Werden und Vergehen. Nur was vergeht, bleibt in der Erinnerung, kann neues Leben befruchten, birgt die Hoffnung auf Wiedergeburt in anderer Gestalt.
(…)
Liebe Daniela, herzlich willkommen in der Bauer-Familie. Wir alle freuen uns auf das Treibgut, das du vom Bosporus mitbringen wirst, von der Grenze zwischen Europa und Asien, wo West und Ost sich vermengen, wo Neues entstehen – könnte.
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