Thema
Anselm Oelze
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Vor etlichen Jahren, an einem sonnigen Herbsttag im Mai (ich befand mich auf der Südhalbkugel) saß ich in El Bolsón, einer kleinen Stadt im Süden Argentiniens. Eine Bekannte aus Deutschland hatte mir die Adresse eines Landwirts gegeben. Er war vor einer Weile dorthin ausgewandert. In der Küche seines Hauses tranken wir Kaffee, es gab selbstgebackenes Brot.
»Unglaublich, wie viele Sojafelder man in Argentinien sieht«, sagte ich. Er nickte nur stumm. Erstaunt über sein Schweigen schob ich hinterher: »Diese ganzen Monokulturen, die sind doch nicht gut für die Böden.«
Ein altersweises Schmunzeln umspielte seine Lippen. »Ach«, sagte er, »den Böden ist das egal. Die gibt’s schon seit Millionen Jahren. Und es wird sie auch noch in ein paar Millionen Jahren geben.«
Mit dieser Bemerkung war das Thema für ihn vom Tisch. Mich jedoch beschäftigte es weiterhin, auch dann noch, als ich schon längst wieder zurück in Deutschland war und den Sommer mit Blick über die grünen Täler von Saale und Orla genoss. In seinen Worten, die nachhallten, wähnte ich eine große Gefahr – die Gefahr einer Einladung zur schonungslosen Nutzung natürlicher Ressourcen, die Gefahr eines Freibriefes zum Beackern der Natur. Doch gleichzeitig schwante mir, dass ich ihn damit wohl gründlich missverstanden hätte; dass aus seinen Worten nicht Kurzsicht, sondern Weitsicht sprach.
In Thüringen gibt es eine beträchtliche Anzahl von Orten, die auf ‑roda oder ‑rode enden: Abteroda, Bischofferode, Wernigerode, Zeulenroda. Die meisten zeugen vom menschlichen Eingriff, welcher der Ortsgründung vorausging: der Rodung eines Waldes. Menschliche Siedlungsgeschichte ist per se auch immer die Geschichte einer Zerstörung. Ganz gleich, ob Holz gehauen, Stein gebrochen oder Ton gestochen werden musste, es erscheint geradezu unmöglich, nicht-destruktiv zu leben. Und gilt dies nicht im Grunde für sämtliche Arten? Auch Biber fällen schließlich Bäume, und Regenwürmer bewegen – das stellte schon Charles Darwin in seinem Bestseller über sie fest – eine beträchtliche Masse an Erdreich (Darwin schätzte sie auf mehrere Tonnen pro Jahr und Hektar). So gesehen scheint etwa die Rede von den ›Urwäldern‹ eher ein menschliches Verlangen nach Ursprünglichkeit als einen historischen Zustand widerzuspiegeln. (Böse Zungen mögen gar behaupten, sie sei eine ausgebuffte Marketingstrategie, um Menschen in einen Nationalpark wie den Hainich zu locken.) Und dennoch: Es liegt eine besondere Qualität im menschlichen Tun auf der Erde. Zwar hat es im Laufe der Erdgeschichte immer wieder sogenannte Biodiversitätskrisen gegeben; Zeiten also, in denen eine beträchtliche Zahl von Lebewesen ausstarb. Doch waren diese Krisen, soweit es sich beurteilen lässt, stets ausgelöst durch äußere Faktoren, durch Temperaturschwankungen etwa, durch geologische Geschehnisse oder Veränderungen in der Atmosphäre. Sie kamen also nicht von den Lebewesen selbst. Mit dem Menschen jedoch ist erstmals eine lebende Art Ursache eines Massensterbens. Würde Darwin heute leben, müsste er sein Buch nicht Der Ursprung der Arten nennen, sondern so, wie es der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht getan hat: Das Ende der Evolution.
Im Dezember 1777 berichtete Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein von seinem innigen Wunsch, den Brocken zu besteigen. Der Förster in Torfhaus habe ihm jedoch davon abgeraten. Es sei unmöglich um diese Jahreszeit, jeglicher Versuch sei »leichtfertig«. Als es ihm bei günstigem Wetter schließlich doch gelingt, mit dem Förster hinaufzugehen, ist er beglückt. »Ich habs nicht geglaubt biss auf der obersten Klippe«, schreibt er. Was wie ein bloßer Reisebericht anmutet, offenbart etwas, das symptomatisch für den menschlichen Blick auf die Welt ist: Die Natur – in diesem Falle der höchste Berg des Harzes – wird dargestellt als etwas, das es zu bezwingen gilt. Sie ist ein Gegenüber, dem sich der Mensch mal hilflos ausgeliefert, mal herrlich überlegen fühlt. Das Begriffspaar, auf den dieser Gegensatz oft gebracht wird, ist jenes von Natur und Kultur. Die menschliche Kultur, so heißt es gerne, sei, was den Menschen als Art von anderen Lebewesen unterscheidet. Sie sei der Grund, weshalb nicht eine Giraffe, sondern ein Mensch den Computer erfand; durch sie könne erklärt werden, weshalb ein Mensch und nicht ein Regenwurm die Harzreise im Winter schrieb. Dass es zugleich auch die Kultur ist, die – man siehe das Massensterben – nicht nur erschafft, sondern zerstört, ist dem Menschen durchaus bewusst. Doch in diesem Bewusstsein schwingt trotzdem die Wahrnehmung der Natur als etwas Anderem mit. Dementsprechend ist, wenn es um die Frage geht, was eigentlich geschützt und wer eigentlich gerettet werden müsse, meist die Rede vom Naturschutz, vom Umweltschutz, vom Artenschutz, vom Klimaschutz. Nicht jedoch vom Menschenschutz.
In seinem Buch The World Without Us (dt. Die Welt ohne uns: Reise über eine unbevölkerte Erde) entwirft der Autor und Journalist Alan Weisman das Szenario einer Erde ohne Menschen. Wie sähe die Welt aus, so fragt er, wenn es keine Menschen mehr auf ihr gäbe? Schon anderthalb Tage nach Verschwinden der Menschen würden die New Yorker U‑Bahn-Schächte geflutet, weil die Pumpen nicht mehr laufen. Nach einem Jahr würde der Straßenasphalt aufbrechen, Tiere würden die Städte durchstreifen, Kletterpflanzen begännen zu wachsen. Dreihundert Jahre später wären nicht nur Brücken eingestürzt, sondern auch küstennahe Großstädte weggespült. Kurz: Menschliche Spuren würden früher oder später verschwinden. Die Erde aber würde sich weiterdrehen, ganz gleich, ob Menschen auf ihr lebten, bis schließlich – in geschätzten fünf bis sieben Milliarden Jahren – jegliches Leben auf ihr unmöglich geworden sein wird. Dann nämlich wird den gängigen Theorien zu Folge der Wasserstoffvorrat der Sonne aufgebraucht sein. Die Energie der sich ausdehnenden Heliumkugel, die dann noch übrig bleibt, wird die Oberfläche der Erde in flüssiges Gestein verwandeln. So gesehen stimmt es, was der Landwirt in El Bolsón einst zu mir sagte: Den Böden ist es egal, wie wir mit ihnen umgehen. Doch folgt daraus, dass es uns ebenfalls gleich sein kann?
In Paragraph 1 des Bundesnaturschutzgesetzes heißt es, Natur und Landschaft seien »auf Grund ihres eigenen Wertes« zu schützen. Er beantwortet die Frage nach menschlicher Gleichgültigkeit gegenüber der Natur also mit einem Nein. In der Moralphilosophie wird in dieser Hinsicht auch vom intrinsischen Wert der Natur gesprochen. Die Natur habe, so wird argumentiert, nicht nur einen instrumentellen Wert für den Menschen, indem sie Lebensraum ist sowie Nahrung und Rohstoffe liefert. Sie habe auch einen Wert in sich selbst oder von sich aus. Dieses Argument mag korrekt sein und in manchen Fällen sogar zu entsprechendem Handeln bewegen. Nichtsdestotrotz ist auch an dieser Stelle wieder die Handschrift jener Tradition zu erkennen, die Mensch und Natur zu einem vermeintlichen Gegensatz erklärt. Dabei war und ist der Mensch als Lebewesen, das sich im Laufe der Evolution herausgebildet hat, immer Teil der Natur. Freilich, er mag das erste Lebewesen sein, das die eigene Lebensgrundlage nicht nur in großem Maße zerstört, sondern sie auch genetisch verändert, ganz gleich ob zum Besseren oder zum Schlechteren. Und zugegeben: Der Hinweis auf den Menschen als Teil der Natur ist trivial. Er scheint so offenkundig zu sein, dass er gar nicht eigens gemacht werden muss. Gleichzeitig ließe sich aber auch behaupten, dass die menschliche Spezies an einer Art ›Menschvergessenheit‹ leidet. Weshalb? Nun, womöglich um einer unbequemen Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen.
Dem deutschen Wald geht es schlecht. So lautet ein Mantra der letzten Jahre, das immer dann besonders laut erklingt, wenn gerade die Ergebnisse der jüngsten Waldzustandserhebung veröffentlicht wurden. Natürlich gibt es nicht den deutschen Wald, sondern viele verschiedene Wälder in Deutschland. Ihr Zustand ist teils sehr unterschiedlich. Doch im Mittel sind nur noch knapp ein Fünftel aller für den Report des Jahres 2020 untersuchten Bäume ohne Kronenschaden. In Thüringen sind es gar nur noch fünfzehn Prozent aller Bäume, die als gesund eingestuft werden, Tendenz sinkend. Entsprechend schreibt der zuständige Minister in seinem Vorwort zum Thüringer Bericht, »dass der Wald von den Auswirkungen des Klimawandels stärker betroffen ist als noch bis vor Kurzem erwartet«. Diese Feststellung ist sicherlich richtig. Doch lenkt auch sie wie so oft den Fokus auf etwas Nichtmenschliches, das den Schaden trägt. Menschen finden im genannten Bericht nur Erwähnung, insofern sie Wald besitzen und Entschädigungszahlungen erhalten sollen. Was aber ist mit denen, die im Wald, etwa auf dem Rennsteig, schlicht Erholung suchen und dabei gerne in sattgrüne Baumkronen blicken? Was mit denen, die von diesem Waldtourismus leben? Was mit denen, die überhaupt die Bäume als CO2-Speicher, als Sauerstofflieferant, als Kühlaggregat und Feuchtigkeitsspender benötigen? Was also ist mit uns allen?
Die begriffliche Trennung zwischen menschlicher Kultur und Natur hat es leicht gemacht, Schädigende und Geschädigte auseinanderzuhalten. Der Mensch schadet, die Natur wird geschädigt. Dass aber die Schädigung der Natur am Ende eine menschliche Selbstschädigung ist, lässt sich dabei gut und gerne übersehen. In The Uninhabitable Earth: Life After Warming (dt. Die unbewohnbare Erde: Leben nach der Erderwärmung) schildert der Autor David Wallace-Wells, wie die Erde in einigen Jahrzehnten aussehen wird, wenn sich das menschliche Verhalten nicht drastisch ändert. Unerträglich heiße Sommer mit (Trink-)Wasserknappheit, Waldbränden, Ernteausfällen und Tausenden von Hitzetoten in derzeit gemäßigten Breiten gehören dabei noch zu den harmloseren Szenarien. Zumal die Folgen sehr ungleich verteilt sein werden. Während in vielen südlichen Gebieten eine wortwörtliche Verwüstung einsetzt, die jegliche Landwirtschaft unmöglich macht, wird in nordischen Ländern plötzlich der Anbau von Arten möglich sein, für die es bis dato zu kalt war. Das menschliche Tun wird also nicht nur bestehende Ungleichheiten vertiefen, sondern auch neue Formen der Ungleichheit schaffen. Die einen werden davon profitieren, andere darunter leiden. Es wird die politischen Gemeinschaften dieser Welt vor Herausforderungen und Entscheidungen stellen, die jene des Schutzes der nichtmenschlichen Umwelt weit übersteigen. Es werden Menschen sein, die sich um Menschen zu kümmern haben.
Und so lautet jene unbequeme Wahrheit, der es ins Auge zu blicken gilt, am Ende wohl, dass nicht so sehr die Natur, die Umwelt oder das Klima diejenigen sind, die der Rettung bedürfen, sondern dass es vor allem die Menschheit selbst ist, die sich retten muss. Denn: Den Böden ist es egal.
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