Es wächst, dachte er, als er es das erste Mal sah, das erste Mal wahrnahm, daß da etwas wuchs, wucherte, jeden Ast des Gesträuchs hatte es mit gelb-grünen Flecken überzogen, als hätte das Gewächs einen Ausschlag. Ein schorfartiges Gebilde, das die Rinde zu befallen schien, seine Haut, sie umschließend, bis sie erstickt war, ausgetrocknet, ein brüchiges Skelett mit halb verdorrten Blättern, die mitten im Sommer schon abfielen, als sei Herbst und peitschten die Stürme den kahlen Strauch, der wie ein alter Mann mit schlohweißem Haar am Hochufer stand.
Das wird der Wind sein, dachte er, der den Atem der Stadt übers Meer trägt, die Ausdünstungen der Fabriken, die Rauchwolken, die er aus einem Kühlturm am Horizont pausbäckig in den Himmel aufsteigen sah. Der Sanddorn, hieß es, sei schon auf rätselhafte Weise verschwunden. Tatsächlich: etwas hatte sich verändert, ohne daß sie es vermißt hätten beim ersten Gang zum Ufer, wie an jedem Abend ihrer Ankunft. Erst als ihr Vermieter davon sprach, bemerkten sie das Fehlende: Das dornige Gestrüpp säumte noch immer den Weg, doch die Beeren, die sich sonst zu dieser Zeit leuchtend orange zu färben begannen, waren nicht mehr auffindbar. Nirgends, an der ganzen Küste keine Spur von den sauren Früchten, die doch ein Markenzeichen der Halbinsel waren. Eine Sanddorn-Manufaktur gab es noch im nächsten Dorf, doch die bezog ihren Rohstoff aus Polen und die Arbeiter gleich mit.
Es wächst, es stirbt. Wir sehen, was wir wissen. Von nun an sah er es überall, dieses Wuchern, diese grindigen Auswüchse. Nicht nur an der Küste, nicht nur im Westwind der Fabriken. Inmitten des Waldes sah er es im nächsten Frühjahr, hoch über der Stadt, auf einer Lichtung, die voller Kirschbäume stand. Vor zwanzig Jahre hatten sie das letzte Mal dort gesessen, mit den Kindern, die noch tagelang davon schwärmten, von diesem Meer aus Blüten, in dem es brummte und summte. Jetzt waren die Bäume nicht wiederzuerkennen, die Äste dürr, das Blattwerk kahl, die Früchte klein und knorpelig, als hätten sie sich vor Scham in sich selbst verkrochen. Nur an den Stämmen schimmerte etwas, das wuchs und wuchs.
Vielleicht war sie zu alt, diese heruntergekommene Plantage auf der Lichtung, die man vor zweihundert Jahren schon das Luftschiff nannte, wo einst ein Gasthof zu Ausflügen lockte. Aber auch in den Gärten der Stadt kroch der grüngelb blühende Ausschlag den Stamm hinauf in die ausgelichteten Kronen kräftiger Kirsch- und Apfelbäume. Je mehr er darauf acht gab, desto häufiger sah er nun dieses wuchernde Etwas, das auch von ihm selbst Besitz zu ergreifen, in sein Innerstes hinein zu wachsen drohte. Sah denn keiner, was da geschah? Daß die Blätter der Kastanie, die eben noch mit ihrem Blütenkerzen wie barocke Kandelaber prangten, schon Ende Juni braune Flecken bekamen und spätestens im August, gespenstisch verformt in einem letzten Sichaufbäumen, zu Rost zerfielen, daran hatte man sich gewöhnt. Man sprach von der Miniermotte, die in den achtziger Jahren aus Mazedonien über den Balkan nach Österreich kam und seitdem ganz Europa erobert hatte. Das Wort, das Wissen um eine naturgegebene Ursache einer widernatürlich häßlichen Erscheinung wirkte beruhigend, man hatte eine Erklärung für das Unerklärliche. Und man hatte die Hoffnung, auch der unscheinbare Falter werde einen Feind finden, der ihn vertilge, weil die Natur dafür sorge, daß ein jedes Wesen von einem anderen verschlungen werde, um das Gleichgewicht der Kräfte zu wahren. Nur der Mensch, dachte er, hat keinen Feind, außer sich selbst.
Auch das Wort „Fichtensterben“ hatte etwas Sanftes, etwas Besänftigendes. Sterben, sagten die Leute, gehöre zum Leben. Und man sprach von der Trockenheit der Sommer, vom Streß der Bäume, als seien sie Großstadtbewohner, vom Schwinden ihrer Widerstandskräfte und von den Folgen der Monokultur, dem Wahn einer schnell wachsenden Forstwirtschaft, die nun zum Festmahl für den Borkenkäfer verkam. Mischwald hieß die neue Hoffnung, an der Vielfalt der Arten werde das Leben gesunden. Aber wenn er auf seinen morgendlichen Spaziergängen die Stadt sich im Tal räkeln sah, dann konnte er nicht darüber hinwegsehen, daß auch der Mischwald ringsum zu rosten begann. Immer mehr rotbraune Leerstellen zeichneten sich ab, wo Kiefern ihre Nadeln verloren, obwohl das regenreiche Frühjahr alles grünen und die jungen Triebe lustvoll aufschießen ließ.
Es wächst, es stirbt, es wächst. Du mit deiner Schwarzmalerei, sagte seine Frau, als er auf die Wundmale des Waldes wies. Wundmale, sagte sie, und das Wort klang lächerlich aus ihrem Mund, so edel, gesucht und hilflos. So sieh doch, sagte er, und sie nahm sein Gesicht in beide Hände, sie sähe genug, sagte sie. Mein Weltenretter, und lief lachend davon, das ellenlange Haar zu einem Zopf geflochten.
Flechten, schoß es ihm durch den Kopf, Flechten nennt man die Wucherungen, die ihm jüngst schon im Traum begegnet waren, die ihn wie weiches Moos umhüllt und verschlungen hatten. Er gab das Wort in die Suchmaschine seines Rechners ein. Bilder in grün und gelb erschienen, halbverdorrte Äste, Stämme mit Fleckenbesatz. Er war auf der richtigen Spur. Die dazugehörigen Texte belehrten ihn, Flechten seien keine Pflanzen, eine Lebensgemeinschaft aus Pilzen und Algen, die sich nicht nur auf Bäumen fände, auch Steine, Felsen, sandige Böden überzogen sie mit einer hauchdünnen Schicht. Der Pilz speichere das Wasser, die Alge erzeuge Nährstoffe durch Photosynthese. So lebten sie zusammen Hunderte von Jahren, zuweilen mehr als ein Jahrtausend lang. Eine Lebensform, deren Effizienz der menschlichen weit überlegen war, ohne die anderer zu gefährden. Niemandem seien sie schädlich, auch den Bäumen nicht, die sie besiedelten, versicherte gleich der erste Kommentar. Sie seien keine Parasiten, beteuerte der zweite, und der dritte erklärte, sie entzögen ihren Trägern auch keine Stoffe, seien nicht Symptome einer Krankheit, sondern vielmehr Zeichen einer gesunden Luft, frei von Schwermetallen und Schadstoffen, die das Wachstum dieser seltsamen Gebilde behindern würden.
Sollte er sich so getäuscht haben, hatte sein Gefühl, seine Sehnsucht nach Schönheit ihn üppig gedeihende Formen des Lebendigen als Boten des Todes verkennen lassen? Merkwürdig war nur, daß er den immer gleichen Text über diese seltsamen Gebilde auf einem Dutzend verschiedener Seiten jenes Netzes fand, das mit seinen Tentakeln die ganze Erde umspannte, das Wissen der Welt aufsaugte, Tag für Tag sich vermehrend, und auf jede Frage eine Antwort parat hatte, die es mit rasender Geschwindigkeit in den einsamsten Winkel entsandt. Wer hatte da von wem abgeschrieben? Ein ungutes Gefühl beschlich ihn …
Zufall ist das allzu Fällige, hatte er gelesen. Und einer dieser Zufälle wollte es, daß er um einen Beitrag für ein Buch gebeten wurde. Wasser, Wald, Asphalt – der Titel klang harmlos, ein Stabreim, der die Bitternis der Botschaft versüßte: die Wüste wächst, draußen wie drinnen. So schrieb er auf, was ihn umtrieb, indem er die Bilder, die ihn heimsuchten, zu einem Spaziergang in den Morgen montierte, ein Panorama des Kommenden: die rostigen Wälder, die Schrift der Balkanmotten auf den Blättern der Kastanie, das strahlende Gelb der Orientalischen Zackenschötchen, die, weit hergeweht aus den Tiefen Sibiriens, seit drei Jahrzehnten an Wegrändern wurzeln, auf Wiesen und Weiden. Die geheimnisvollen Flechten, dieses Wachsende am Sterbenden, wo kam es her, wo führe es hin?
Drei Tage nach Erscheinen des Bandes, klingelte sein Telefon. Eine der großen Zeitungen erbat ein Interview. Er sei da etwas auf der Spur, das interessiere die Öffentlichkeit. Er mochte die Zeitung nicht, die ihm zu bunt war, zu laut, zu schrill. Wahrheiten, die man Lesern ins Gesicht schrie, glaubten sich selber nicht. Nur leise Worte hallen im Traum nach, nur in der Stille wächst, was bleibt. Das wußte er, und dennoch sagte er zu, siegte seine Neugier auf dieses Stück Wirklichkeit, das sich freilich als so banal erwies wie jedes andere Gespräch mit Vertretern des Nachrichtenbetriebs. Sie trafen sich in einem Café, ein Fotograf bat ihn, das Buch in die Kamera zu halten, dreimal tippte er auf den Auslöser und verschwand. Die Fragenstellerin, schlank, einem Modekatalog entstiegen, stellte ihre Fragen, sie lächelte, was den bitteren Zug um ihre schmalen Lippen noch betonte, notierte ein paar seiner Worte, lächelte noch einmal und bestand darauf, die Rechnung zu bezahlen.
Am nächsten Tag las er in der bilderreichen Zeitung die Schlagzeile: Invasion aus dem Osten. Darunter stand sein Foto. Er sah es nicht gern, er sah sich nicht gern, er las den Kommentar: Ein empfindsamer Schriftsteller, ließ man die Leser wissen, öffne ihnen die Augen für eine Bedrohung, deren Spuren wohl mancher schon, vereinzelt, begegnet sei, deren ganzes Ausmaß aber erst durch die Phantasie eines Dichters greifbar werde. Die Gefahr komme aus dem Osten, wie lange wolle die Politik noch tatenlos zusehen, wie die heimische Flora und Fauna von fremden Lebensformen verdrängt werde.
Er rief die Zeitung an, das habe er nicht gesagt. So habe er es nicht gesagt. Aber doch wohl gemeint, entgegnete ein Redakteur. Es herrsche Meinungs- und Pressefreiheit im Lande, noch gäbe es sie, sagte der Redakteur, und er könne gern eine Entgegnung schreiben, die sie gewiß drucken würden.
Im Briefkasten fand er zwei Zettel: das Beitrittsformular einer Partei, die er nicht mochte, und ein Papier, auf dem in ungelenken Großbuchstaben stand WIR BEOBACHTEN DICH.
Es wächst. Es stirbt. Es wächst.
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