Thüringer Anthologie Nr. 149 – Benjamin-Immanuel Hoff über Steffen Mensching

Thema

Die »Thüringer Anthologie«

Autor

Benjamin-Immanuel Hoff

Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 21.01.2017.

Steffen Mensching

Weltanfang

 

Dach­de­cker tor­keln trun­ken übers Dach,
Die Sturm­flut ist, wohin? Verflossen,
Die aus­ge­plan­ten Toten haben nicht geschossen
Und spie­len, auf den Bom­ben sit­zend, Schach.

Aero­plane fal­len auf die spitze Erde,
Unzer­kratzt, die neue Zei­tung kennt man schon.
Staats­se­kre­täre hüp­fen über Zirkuspferde.
Ein Nach­rich­ten­ver­le­ser beißt ins Mikrophon.


aus: Erin­ne­rung an eine Milch­glas­scheibe, Halle und Leip­zig 1984.

 

Benjamin Immanuel Hoff

Kein Weltenende oder –anfang, sondern Jetzt.

 

Ein jedes hat seine Zeit. So auch die Annahme der nahen­den Kata­stro­phe, der unre­gu­lier­ba­ren Beschleu­ni­gung von Kom­mu­ni­ka­tion, der Ent­frem­dung von Arbeit, der Auf­lö­sung von Nor­men. Jüngst wurde Joa­chim Rad­kaus »Das Zeit­al­ter der Ner­vo­si­tät«, 1998 erst­mals im Han­ser-Ver­lag erschie­nen, neu auf­ge­legt. Nahe­lie­gend in einer Zeit, in der »post­fak­tisch« zum Wort des Jah­res 2016 avan­ciert,  die Mit­tel­schicht empi­risch schrumpft und die »Arbeit­neh­mer­mitte« sor­gen­voll auf die abge­stie­gene Unter­schicht schaut, bei der ein zu gerin­ger Min­dest­lohn auch mit mehr als einem Job das Haus­halts­ein­kom­men nicht sichert. Soge­nannte Social Bots – Com­pu­ter­pro­gramme, die ohne huma­no­ide Inter­ak­tion in sozia­len Netz­wer­ken kom­mu­ni­zie­ren, sol­len wahl­ent­schei­dende Dis­kurs­in­ter­ven­ti­ons­macht zu ent­fal­ten in der Lage sein. Die Auf­zäh­lung ist eklek­ti­zis­tisch und bewusst unab­ge­schlos­sen. Rad­kau beschreibt in sei­nem Buch die Sozi­al­ge­schichte des psy­chi­schen Krank­heits­bil­des der Neur­asthe­nie, gemein­hin Ner­ven­krank­heit genannt. Von der ZEIT inter­viewt, zieht er eine Ana­lo­gie vom Spät­herbst des Wil­hel­mi­ni­schen Zeit­al­ters zu unse­rer Zeit: »Elek­tri­sche Revo­lu­tion, ner­vöse Lei­den und Natur­sehn­sucht um 1900. Digi­tale Revo­lu­tion, Burn-out und neu erwachte ‚Land­lust‘ heute.«

Mit die­sem Blick soll­ten wir die im Abstand von 70 Jah­ren ver­öf­fent­lich­ten zwei­mal zwei Vier­zei­ler »Welt­ende« (Jakob van Hod­dis, 1911) und »Wel­ten­an­fang« (Stef­fen Men­sching, 1983) lesen. Die es in sich haben. Die befürch­tete Natur­ka­ta­stro­phe »Hal­ley­scher Komet« des frü­hen 20. Jahr­hun­derts war in den 1980er Jah­ren in Form von SDI und ato­ma­rem Wett­rüs­ten mensch­ge­macht. Beide sind aus­ge­blie­ben. Steht van Hod­dis »Welt­ende« für den Anfang des kur­zen 20. Jahr­hun­derts, von Eric Hobs­bawm als das »Zeit­al­ter der Extreme« bezeich­net, mar­kiert Men­schings »Welt­an­fang« des­sen lang­sa­mes Aus­lau­fen bis zum Ende des real­exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus 1990. Ein jedes hat seine Zeit. So auch »Men­schen, die vor­wärts in den Stra­ßen ste­hen und alle Dächer sind voll Ster­ne­deu­ter« (Ste­fan Heym). Wer nicht meint, dass es kein rich­ti­ges Leben im Fal­schen gäbe, dem bleibt nicht viel als »schwe­ren Schlaf von müden Lidern« zu strei­fen – kurz: Opti­mist zu sein.

 

Bio­gra­phi­sche Angaben

  • Stef­fen Men­sching, gebo­ren 1958 in Ber­lin, ist Kul­tur­wis­sen­schaft­ler, Schrift­stel­ler, Schau­spie­ler und Regis­seur; seit 2008 ist er Inten­dant des Thea­ters Rudol­stadt. Seine jüngs­ten Lyrik­bände: Mit Haut und Haar, Xenien für X, Ber­lin 2005, Das gewisse Etwas, Ber­lin 2009.
  • Prof. Dr. Ben­ja­min Imma­nuel Hoff, gebo­ren 1976 in Ber­lin, stu­dierte Sozi­al­wis­sen­schaf­ten an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin; seit Dezem­ber 2014 ist er Minis­ter für Kul­tur, Bun­des- und Euro­pa­an­ge­le­gen­hei­ten und Chef der Staats­kanz­lei des Frei­staats Thüringen.
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