Porträts
11 : Anke Engelmann – »›Lesen‹ ist ein Tätigkeitswort – Der Kritiker Hans-Dieter Schütt«

Personen

Hans-Dieter Schütt

Anke Engelmann

Thema

Porträts und Podcasts

Autor

Anke Engelmann

Thüringer Literaturrat e.V.

 

Man stelle sich einen Kri­ti­ker vor, der sich einem künst­le­ri­schen Werk mit Demut nähert. Hans-Die­ter Schütt ist so einer: »Ich staune, was Exis­tenz auch alles ist. Das hält mich davon ab, ver­nich­tende Urteile zu fällen.«

Hans-Die­ter Schütt mag man oder oder man mag ihn nicht. Ein gro­ßer Fan­kreis schwört auf seine Lite­ra­tur- und Thea­ter­kri­ti­ken und seine etwa 35 Inter­view- und Por­trät­bü­cher über Schau­spie­ler, Regis­seure und Schrift­stel­ler. Andere ver­wei­sen auf seine DDR-Ver­gan­gen­heit als Chef­re­dak­teur der Zei­tung »Junge Welt«. Vie­len, deren Wur­zeln in der DDR lie­gen, gilt Schütt, neben Karl-Edu­ard von Schnitz­ler mit sei­nem »Schwar­zen Kanal«, als das Sym­bol für Indok­tri­na­tion und Hetze.

Nach der Wende schrieb Schütt 20 Jahre lang als Redak­teur für das »Neue Deutsch­land« (ND, heute: nd), eine Zei­tung, bei der jeder, der aus dem Osten kam, fragte: »Was, die gibt’s noch?« Und die aus dem Wes­ten miss­trau­isch guck­ten, sodass man schnell ver­si­cherte: »Der Titel ist nicht deutsch-natio­nal und die Zei­tung keine Nazi-Pos­tille.« Ich weiß das, weil ich von 2003 bis 2008 selbst beim ND erst ein Volon­ta­riat absol­viert und dann als Redak­teu­rin gear­bei­tet habe.

Vor Schütti, so hieß er bei den Kol­le­gen, hatte ich einen Hei­den­re­spekt. Eine Edel­fe­der, nannte ich ihn bei mir, »ein Beses­se­ner«, dachte ich. Er schrieb eine Kri­tik nach der ande­ren, lange Texte mit klu­gen Gedan­ken und blit­zen­den For­mu­lie­run­gen, saß oft noch, wenn ich mich in den Fei­er­abend ver­ab­schie­dete. Den Kon­takt scheute ich. Seine Arti­kel las ich nur kurz an, wenn über­haupt. Die zweite Frage im Bekann­ten­kreis galt näm­lich meist ihm: »Beim ND arbei­tet doch auch der Schütt?« Auch ein Grund dafür, dass mich fortan einige mei­ner frü­he­ren Weg­ge­fähr­ten nicht mehr grüßten.

Der Name Schütt war in mei­nen Krei­sen ein rotes Tuch. Für mich sah er mit sei­ner Fri­sur und dem Bart aus wie einer von uns. Inzwi­schen spie­gelt sein Lebens­weg auch das selt­same Spiel der Geschichte: Man­cher, der Schütt in der DDR als ewig Gest­ri­gen anpran­gerte, wurde mit den Jah­ren selbst zu einem, der seine Vor­ur­teile wuchern lässt und ande­ren nicht zuge­steht, dass sie aus Feh­lern ler­nen. Schütt ver­kör­pert Gegen­sätze, die man aus­hal­ten, einen Lern­pro­zess, den man jeman­dem zuge­ste­hen muss.

Wer Schütt heute über seine Arbeit befragt, spürt Dank­bar­keit und Demut. Dank­bar sei er für die neuen Denk­wel­ten, die sich mit der Wende eröff­net hät­ten, sagt er. Mit Demut nähert er sich den Künst­le­rIn­nen und ihren Wer­ken, er wolle »nicht Gott sein in einer Welt, die ich nicht geschaf­fen habe«. Seine Hal­tung als Kri­ti­ker sehe ich aus einer schmerz­haft gewon­ne­nen Erfah­rung gewach­sen und aus dem, was er sich selbst ver­ord­net hat: Sich nie wie­der einer Dok­trin unter­zu­ord­nen, die, ent­ge­gen eige­ner Emp­fin­dung, vor­schreibt, was gut und was schlecht sein soll. Als hätte seine Ver­gan­gen­heit Schütt beschei­den gemacht.

Schütt selbst bringt sie offen ins Gespräch, zum Bei­spiel zum Fach­tag Lite­ra­tur 2020 in Erfurt, als er von dem Publi­zis­ten Jens-Fietje Dwars zu sei­ner Arbeit als Lite­ra­tur­kri­ti­ker befragt wird. Schütts Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­ner Geschichte kann, wer will, auch in sei­nem Essay-Band »Glück­lich beschä­digt« nach­le­sen, der 2009 beim wjs ver­lag erschie­nen ist und der sich 30 Jahre nach der Wende jedem, der die DDR ver­ste­hen will, zur Lek­türe emp­fiehlt – wenn man ihn ergat­tern kann.

In sei­ner Selbst­kri­tik, die nichts beschö­nigt, und durch die, bei aller Scham und Reue, nie Selbst­mit­leid schim­mert, hat mich die­ses Buch beein­druckt. Obwohl ich aus einem ande­ren Umfeld komme, haben die Essays viel mit mir und mei­nem Leben in der DDR zu tun. Genau das ist die For­de­rung, mit der Hans-Die­ter Schütt selbst an Bücher und Thea­ter­in­sze­nie­run­gen her­an­tritt. Seine Aus­gangs­frage lau­tet: Woher weiß der Dich­ter das von mir?

Kein Abha­ken schein­bar all­ge­mein­gül­ti­ger Kri­te­rien. Nicht Plot, Spra­che, Sujet bestim­men: Ist das gute Lite­ra­tur? Auf einer Skala von eins bis zehn? Mit sei­ner Frage an das Werk befragt Schütt auch sich selbst, zeigt sich, öff­net sich, macht sich angreif­bar und ent­zieht sich doch jedem Angriff, denn Erfah­run­gen las­sen sich nicht in die Schub­la­den »rich­tig« und »falsch« sortieren.

Diese sub­jek­tive Her­an­ge­hens­weise kann nur Wir­kung ent­fal­ten, wenn der Kri­ti­ker zum Medium wird, in dem sich die Ver­fasst­heit der Gesell­schaft mit dem Aus­druck mischt, den der Künst­ler, die Künst­le­rin, gefun­den hat. Wenn die Wel­ten, die die Künst­le­rIn­nen öff­nen, Anlass bie­ten, eigene Rei­bungs­punkte zu reflek­tie­ren. Wenn die Lese­rIn­nen bei der Lek­türe der Rezen­sion fra­gen: Woher weiß der Schütt das von mir?

Es gehört Mut dazu, Schmerz zuzu­las­sen und trotz­dem den Abstand zu suchen, der vor Zynis­mus oder pein­li­cher Selbst­be­spie­ge­lung bewahrt. Und dies den Lese­rIn­nen vor­zu­le­ben, die in der Lek­türe ihre eige­nen schmerz­haf­ten Erfah­run­gen wie­der­fin­den und neu bewer­ten wol­len. »Anna Kare­nina will sich umbrin­gen, ich will mich umbrin­gen, da sind wir schon zwei.« Stell­ver­tre­tend lotet Lite­ra­tur Lebens­mög­lich­kei­ten aus und der Kri­ti­ker bie­tet Über­set­zungs­hil­fen. »Lesen ist ein Tätig­keits­wort«, sagt Schütt. »Diese Anstren­gung macht einen Teil des Wer­tes aus.«

Das erfor­dert viel Refle­xion und ist doch weni­ger ego­zen­trisch als das, was in der Lite­ra­tur­kri­tik all­ge­mein üblich ist. Er habe den Ein­druck, so Schütt, viele Kri­ti­ker sähen nicht die Wege, die der Dich­ter gewählt, son­dern die, die er ver­wor­fen habe. Ein hand­fes­ter Ver­riss gehört für viele Autoren zum Lite­ra­tur­ge­schäft, doch oft fragt man sich, was Rezen­sen­ten dazu bringt, eine schlecht lek­to­rierte Bana­li­tät als DAS Non­plus­ul­tra zu fei­ern, das den Geist unse­rer Zeit auf bis­her nie dage­we­sene Art erfasse.

Schütt fei­ert nichts, ver­reißt nichts. Schütt ver­steht sich als Ver­mitt­ler, als Kri­ti­ker fühlt er sich als »Sekun­där­ta­lent«. Wah­res Talent zeig­ten die Künst­ler, die Dich­ter, die Schau­spie­ler. »Das dür­fen wir nicht ver­ges­sen und nicht mei­nen, wir seien selbst Schöp­fer.« Fest steht: Gute Lite­ra­tur wird nicht vom Feuil­le­ton gemacht. Doch das Feuil­le­ton dik­tiert die Mode und damit das, was gekauft wird. Dass Schütt Best­sel­ler­lis­ten ver­ab­scheut, liegt auf der Hand, so wie die Dinge lie­gen. Lie­ber folgt er dem Goe­the-Ver­dikt, dass Neu­erschei­nun­gen wie guter Wein rei­fen müs­sen, und greift, wenn mög­lich, zu Büchern, die älter als fünf Jahre sind.

Doch was zeich­net gute Lite­ra­tur aus? Ein Pro­blem, das der Schrift­stel­ler mit sich und der Welt hat, erwi­dert Schütt. Das ihn zum Schrei­ben treibt. Bei einem guten Autor ver­knüpfe sich das Per­sön­li­che mit der Zeit. »Sein Pro­blem muss so groß sein, dass er nicht anders kann, als zu schrei­ben. Doch er muss so schrei­ben, dass seine Geschichte auch ande­ren etwas zu sagen hat.« Wenn das pas­siert, ent­steht Kunst. Sie ent­steht nicht, wenn die Moti­va­tion allein von außen kommt, aus dem Bedürf­nis nach Gesell­schafts­kri­tik erwach­sen ist.

Wer wie Schütt die­sen Anspruch hat, den trägt auch ein gesun­der Opti­mis­mus, dass Lite­ra­tur und Lek­türe eine Zukunft haben. Schütt ist sich sicher: Jede Genera­tion wird ihre Form suchen und fin­den, Gefühls­la­gen zum Aus­druck zu brin­gen. Viel­leicht sitzt Kohl­haas längst in Guan­ta­namo ein? Viel­leicht kauft Woy­zeck seine Erb­sen bei Lidl? Zudem sei die Gesell­schaft, was die Lite­ra­tur angeht, wun­der­bar ein­ge­rich­tet: »Für jedes Emp­fin­den, jedes Gemüt, gibt es ein Seg­ment.« Das sei der ein­fa­che Friede und dass jeder alles fin­den könne, das eigent­lich Schöne. »Und«, fügt er hinzu: »man soll jeden Tag ein Gedicht lesen«: als Mit­tel der Ent­schleu­ni­gung gegen das »Über­for­de­rungs­in­stru­men­ta­rium«, das »Dahin­ge­plät­schere«, dem man per­ma­nent aus­ge­setzt ist.

Das All­ge­mein­gül­tige zu erken­nen und aus­zu­spre­chen, dafür muss man den Künst­le­rIn­nen nahe­kom­men, in ihre Denk­wel­ten ein­tau­chen, viel­leicht bis zur Ver­schmel­zung, zur Über­tra­gung – anders als viele Kri­ti­ker, die prin­zi­pi­ell ableh­nen, mit denen zu spre­chen, deren Werke sie bewer­ten. Ihm werde oft über­große Nähe zu sei­nem Gegen­stand vor­ge­wor­fen, sagt Schütt. Bis dahin, dass er in sei­nen Rezen­sio­nen man­ches aus­spre­che, was den Schöp­fe­rIn­nen selbst nicht bewusst war, so bis­wei­len deren erstaun­tes Feed­back. »Ich ent­wickle ein Ver­ständ­nis für das, was der­je­nige tut. Das stimmt auch milde.«

Stets spüre ich in sei­nen Arti­keln ein Suchen, ein Abwä­gen. Als würde er etwas in die Hand neh­men, es wert­frei betrach­ten und dann bei­sei­te­stel­len, um nach dem nächs­ten Punkt zu grei­fen. Dabei denkt er beim Schrei­ben wenig an die Lese­rIn­nen, wie alle AutorIn­nen, die ein Her­zens­thema ver­fol­gen. Wenn mich etwas nei­disch macht, dann die­ses Pri­vi­leg: Das Glück einer Arbeits­stelle, die ihm erlaubte, dass er sich seine The­men weit­ge­hend selbst suchen und sein Talent ent­wi­ckeln konnte. Dass er nicht des Gel­des wegen schlecht bezahlte Arbei­ten von igno­ran­ten Auf­trag­ge­bern anneh­men musste.

Wen er gern noch por­trä­tie­ren wolle?, frage ich. Handke. Immer wie­der Handke. Bei Peter Handke finde er bis heute seine »bio­gra­fi­sche Grun­die­rung«. Der Handke-Leser sei jemand, »dem das von Wis­sen star­rende Ich abhan­den kam«, schreibt Hans-Die­ter Schütt in »Drau­ßen Daheim«. Bei Handke macht er die »Such­be­we­gung des Autors nach sich selbst« aus. Und vor Handke emp­fin­det Schütt so viel Respekt, dass er, der aus­ge­fuchste Inter­viewer, sich scheut, die­ses Anlie­gen an ihn heranzutragen.

 

Lite­ra­tur:

  • Hans-Die­ter Schütt: Glück­lich beschä­digt. Repu­blik­flucht nach dem Ende der DDR. wjs ver­lag, Ber­lin, 2009, 220 Seiten
  • Hans-Die­ter Schütt: Drau­ßen daheim. Wahr­neh­mun­gen. Edi­tion Orna­mente, quar­tus-Ver­lag, Bucha bei Jena, 2015. 130 Sei­ten. Her­aus­ge­ge­ben und mit einem Nach­wort ver­se­hen von Jens-Fietje Dwars.

 Porträts:

  1. Michael Knoche – »Große Kleinigkeiten. Der Dichter Wolfgang Haak«
  2. Daniela Danz – »Aus Gegensätzen Funken schlagen. Der Verleger, Ausstellungsmacher und Historiker Jens Henkel«
  3. Wulf Kirsten – »Hölderlin auf dem thüringischen Olymp«
  4. M. Kruppe & Tristan Rosenkranz – »Die ›Edition Outbird‹ und der Verleger Tristan Rosenkranz«
  5. Anke Engelmann – »Ich bin eine echte Arnstädter Frau«
  6. Mario Osterland im Gespräch mit Peter Hermann Braun
  7. Annerose Kirchner – »Andrea Schneider. Bibliothekarin aus Zella-Mehlis«
  8. »Wir hatten eine geile Zeit« - Podcast von Tristan Rosenkranz und Marko Kruppe über das Wirken Corina Gutmanns
  9. Stefan Petermann – »15 Jahre hEFt. Ein Gespräch mit Alexander Platz und Thomas Putz«
  10. Doris Weilandt – »Die Provinz greift nach den Sternen«
  11. Anke Engelmann – »›Lesen‹ ist ein Tätigkeitswort – Der Kritiker Hans-Dieter Schütt«
  12. Die Jenaer Bücherstube – ein guter Ort
  13. Nancy Hünger – »Auf dem Weg zu einem Du - Über Martin Straub«
  14. »Himmel und Hölle, aber vorwiegend Hölle« – Ein Tableau weiblichen Schreibens vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart
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