Literatur und Landschaft – Texte zum Wandern
6 : Kathrin Schmidt – Ich bin übern Berg…

Person

Kathrin Schmidt

Orte

Waltershausen

Bad Tabarz

Thema

Literatur und Landschaft

Autor

Kathrin Schmidt

Begleitbuch zur Ausstellung »Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies« / Thüringer Literaturrat e.V.

Der Mensch wan­dert, wenn er meh­rere Stun­den lang eine recht weite Stre­cke zurück­legt, per pedes. Wan­der­rau­pen, Wan­der­fal­ken und Wan­der­bie­nen etwa bewe­gen sich auf andere Art vor­wärts, auch die zurück­ge­leg­ten Stre­cken dürf­ten sich von jenen mensch­li­chen Wan­derns enorm unter­schei­den. (Die Wan­der­niere, schlanke Men­schen sind häu­fi­ger von ihr betrof­fen, braucht nur ein wenig ihre Lage zu ver­än­dern, sich ein paar Zen­ti­me­ter­chen absin­ken, gar fal­len zu las­sen, und schon macht sie ihrem Namen alle Ehre…) Aber blei­ben wir beim Men­schen. Es ist nicht immer Her­zens­lust, die ihn zum Wan­dern bringt, wie man an mei­nem Bei­spiel sehen kann.

Die klei­nen Spa­zier­gänge, die ich heut­zu­tage unter­nehme und die nur in sel­te­nen Fäl­len die Stun­den­marke kna­cken, erfül­len den Tat­be­stand des Wan­derns nicht, wie ich geste­hen muss. Frü­her war das anders. Frü­her, als ich noch mei­nen Erzie­hungs­be­rech­tig­ten unter­stand, war es mein Vater, der mich zum Wan­dern mit­nahm. Meine Eltern habe ich nie anders als berufs­tä­tig erlebt, so dass zum Wan­dern nur Wochen­end- oder Feri­en­tage in Frage kamen. Das Rad­wan­dern im Wei­den­korb an der Lenk­stange fand ich noch sehr bequem. Auch lernte ich viel dabei. Zum Bei­spiel, wie man ein Loch im Schlauch repa­riert. Noch heute sehe ich die Hand­griffe vor mir und beherr­sche sie aus dem Eff­eff. Aber das Rad­wan­dern bil­dete nicht den Regel­fall. In der Regel hieß Wan­dern, den Wan­der­stock, Kin­der­größe, im letz­ten Moment doch lie­ber zu Hause zu las­sen, er würde läs­tig wer­den. Das Brot­täsch­chen um den Hals zu hän­gen oder seit­lich zu tra­gen, mit einem Apfel, einem Ei, einem But­ter­brot darin. Das gepunk­tete Kopf­tuch umzu­bin­den. An den am Knie gestopf­ten Ski­ho­sen zu lei­den, deren Stege sich um die Fuß­soh­len spann­ten. Die Jacke nicht zu mögen, regen­dicht, aus einem alten Per­lon­man­tel für Erwach­sene genäht. Vom hand­ge­strick­ten, hell­grü­nen Zopf­pull­over das leichte Krat­zen zu erwar­ten, sobald ich  zu schwit­zen begann. Vor allem aber: Die der­ben, leder­nen Schuhe anzu­zie­hen. Die muss­ten ein­ge­lau­fen sein, wes­halb ich auch an ande­ren Tagen als jenen des Wan­derns gezwun­gen war, sie über­zu­strei­fen. Diese unför­mi­gen Bot­ten! Diese hart­le­der­nen Bla­sen­bild­ner! Es kam vor, dass sie, ehe sie den Zustand des Ein­ge­lau­fen­seins hät­ten errei­chen kön­nen, schon wie­der zu klein waren. Dann durfte (oder musste) ich auch das eine, das andere Mal in mei­nen All­tags­halb­schu­hen auf Wan­der­schaft gehen, wäh­rend meine Mut­ter meist zu Haus blieb und sich ganz einig schien mit mei­nem Vater: Sie würde uns mit einem schö­nen Essen erwar­ten, wenn wir zurück seien, die Woh­nung sei bis dahin geputzt und die Wäsche gewa­schen. Arbeits­tei­lung eben, er nahm ihr das Kind, spä­ter auch des­sen Brü­der, ab. Ich wusste, es würde über Stock und Stein und Stun­den gehen, bis ich wie­der in der gelieb­ten Eiben­ga­bel lie­gen und mich nicht mehr würde rüh­ren wol­len für den Rest des Tages. Falls über­haupt ein Rest bliebe für die Pup­pen, die Bücher. Das Zucke­rei, das mir die Urgroß­mutter auf­schla­gen und in einer Mok­ka­tasse in den Gar­ten brin­gen würde. Zur Eibe. Mein Seuf­zen machte, dass mein Vater grinste. Gestie­felt und gespornt, wie er es nannte, wenn er abmarsch­be­reit war. Er streckte seine Hand aus, ich legte meine not­ge­drun­gen hin­ein. Es ging los. Kaum waren wir im Wald,  der etwa einen hal­ben Kilo­me­ter hin­ter unse­rem Haus sei­nen Anfang nahm, öff­nete mein Vater die Kehle, um den Mül­ler und seine Lust zu bemü­hen. Nach trot­zi­gem Zögern stimmte ich ein. Andere Lie­der folg­ten, und ich sang gern. Irgend­wann jedoch gin­gen die Lie­der oder die Stimme aus. Was nun?

Dass meine Mut­ter uns mit einem schö­nen Essen erwar­ten würde, min­derte die Aus­sicht auf eine Bock­wurst mit Fass­brause unter­wegs. Darum begann ich nach dem Gesang zu gie­meln, wie meine Eltern es nann­ten, wenn ich unun­ter­bro­chen meckerte und win­selte. Ich wusste, mein Vater würde mir, wenn es über­hand­nahm, genau jene Bock­wurst mit Fass­brause in Aus­sicht stel­len für den Fall,  ich höre damit auf. Mit die­sem Trick, der von mei­ner Seite aus sicher ebenso so schlau aus­sah wie von der mei­nes Vaters, schaff­ten wir es oft genug, von der Wal­ter­häu­ser Schil­ler­straße den lan­gen Weg über die Dey­sing­slust hin­auf zum Insels­berg zu neh­men, wobei die Dey­sing­slust zwar Bock­wurst im Ange­bot hatte, mein Vater sie mir aber natür­lich erst für den Gip­fel verhieß.

Die Wurst vor Augen, began­nen die Wan­de­run­gen regel­mä­ßig recht schön zu wer­den. Mein Vater war ein Wort­ver­dre­her, Sprach­spie­ler und Rück­wärts­le­ser vor dem Herrn. Er kannte Gedichte, Bal­la­den, Mori­ta­ten aus­wen­dig, die ich wie­der und wie­der hören wollte. Schil­lers Hand­schuh, die Kra­ni­che des Iby­kus oder die Bürg­schaft kannte ich längst, als sie mir in der Schule wie­der­be­geg­ne­ten, aber sie waren nur ein Bruch­teil jenes alten Schat­zes, den mein Vater wäh­rend der Wan­de­run­gen für mich aus sei­nem Gedächt­nis hob.

Diese frü­hen Schu­lun­gen des Sprach­emp­fin­dens mach­ten selbst das mühe­volle Berg­auf­ge­hen mit­un­ter zu etwas Unmerk­li­chem, so dass ich mehr als ein­mal freu­dig über­rascht war, es plötz­lich schon geschafft zu haben. Zeit zum Räkeln. Zum Wurs­tes­sen. Zur Fass­brause, manch­mal auch zwei. Der Vater ver­gnügte sich der­weil nicht nur mit sei­nem Pro­vi­ant, son­dern auch mit mei­nem Brot­täsch­chen, aß das Ei, das But­ter­brot. Obwohl der Abstieg sehr viel weni­ger mühe­voll sein würde als der Auf­stieg, drohte nach der Mahl­zeit erneut eine Gie­mel­phase. Bis nach Tab­arz hin­un­ter – mei­net­we­gen, aber dann bitte die Wald­bahn. Meine Beine. Mein Kopf. Ich sackte schon mal zusam­men und hielt die Augen geschlos­sen. Was ich von einer Ohn­macht wusste, hatte ich zuerst dem von der Mut­ter vor­ge­le­se­nen Film­text zum sche­ren­schnitt­schwarz­wei­ßen Super-8-Stumm­film „Die Prin­zes­sin auf der Erbse“ ent­nom­men, dann nach­ge­fragt und die Ant­wort bekom­men, es handle sich um einen Zustand wie Schlaf, man merke nichts. So täuschte ich eher Schlaf vor als eine Ohn­macht, aber mein Vater lächelte nur, wie ich bei kleins­ten Hebun­gen der Lider sah, und ent­fernte sich lang­sam in beab­sich­tig­ter Rich­tung. Wis­send, dass ich nicht allein zurück­blei­ben würde. In gehö­ri­ger Ent­fer­nung bum­melte ich schließ­lich hin­ter­her. Unter fort­wäh­ren­dem Gie­meln war ich ganz zufrie­den mit der Welt und den jah­res­zeit­li­chen Natur­er­schei­nun­gen. Im Früh­jahr Mai­glöck­chen, im Som­mer Him- und Hei­del­bee­ren, im Herbst Kas­ta­nien und Eicheln, im Früh­win­ter Schle­hen. Reich bepackt kamen wir gegen Abend zu Hause an, der obli­ga­to­ri­sche Strauß für die Mut­ter, knos­pende Zweige, Kräu­ter­wie­sen­quer­schnitt oder Herbst­laub, wurde mit einem Küss­chen quit­tiert. Oft gab es Grütz­wurst und Sauer­kraut mit Pell­kar­tof­feln, und nach dem lan­gen Rück­weg langte ich trotz Bock­wurst hef­tig zu.

Diese frü­hen Wan­de­run­gen führ­ten mich nie  übern Berg in die Ferne. Anders als Zim­mer­män­ner auf der Walz, deren Weg sie erst nach Jah­ren  zurück­führt, kehr­ten wir immer zum Aus­gangs­punkt zurück. Jedoch kam ich so man­ches Mal übern Berg, ohne auch nur einen Fuß bewegt zu haben. Als ich zum Bei­spiel an Masern litt, ant­wor­tete meine Urgroß­mutter der Nach­ba­rin auf die Frage, wie es mir gehe: Sie ist übern Berg. In spä­te­ren Jah­ren wähnte ich mich zuwei­len ganz weit oben, was sich aber wenig spä­ter als Irr­tum her­aus­stellte. Nach dem Berg­fest im drit­ten Stu­di­en­jahr zum Bei­spiel kam das sehr dicke Ende des Diploms. Als ich drei­ßig wurde, dachte ich, dass ich den Gip­fel erreicht habe und dass es nun abwärts gehen würde. Zu mei­nem vier­zigs­ten Geburts­tag gelang es mir jedoch, die­ses Gefühl nahezu voll­stän­dig zu repro­du­zie­ren. War ich zehn Jahre lang auf dem Hoch­pla­teau unter­wegs gewe­sen? Schon mög­lich. Schließ­lich reift und ent­wi­ckelt sich der Mensch in eine Blü­te­zeit der Vita­li­tät, die er irgend­wann wie­der ver­lässt. Ver­las­sen muss. Wenn aber der Höhe­punkt der Lebens­wan­de­rung mit einer rea­len Berg­be­stei­gung zusam­men­fällt, die noch dazu eine Aus­nahme und für die Wan­ders­frau ein Här­te­test ist, ver­gisst sie das nicht so leicht. Mit ziem­lich genau 35 Jah­ren bestieg ich ein ein­zi­ges Mal die Sněžka, die Schnee­koppe genannte größte Erhe­bung des Rie­sen­ge­bir­ges. Mit unse­ren damals vier Kin­dern und der Fami­lie der Schwes­ter mei­nes Man­nes waren wir in Urlaub nach Horní Albeřice gefah­ren, direkt an der pol­nisch-tsche­chi­schen Grenze. Schwa­ger und Schwä­ge­rin erwan­der­ten die Schnee­koppe gleich zu Beginn des Auf­ent­hal­tes, wäh­rend wir ihre Kin­der hüte­ten. Das kehr­ten sie an einem der fol­gen­den Tage um, und auch mein Mann und ich bra­chen auf. Still­schwei­gend hatte ich mich drein­ge­schickt, wollte den Ver­wand­ten in nichts nach­ste­hen. Es wurde eine Gewalt­wan­de­rung für mich, wäh­rend derer ich mehr­mals in Trä­nen auf­ge­löst am Boden hockte und meinte, weder vor noch zurück zu kön­nen. Nichts ging mehr, bis ich mich jeweils für das nächste Stück erholt hatte und schließ­lich, als ich oben war, wie­der weinte. Dies­mal vor Freude. Zurück ging es mit der Gon­del­bahn,  die nach Pec pod Sněž­kou führte,  von wo aus uns der Schwa­ger mit dem Auto in den Urlaubs­ort zurück­holte. Die­ser Auf­stieg war die größte mir erin­ner­li­che kör­per­li­che Anstren­gung gewe­sen. Ich meis­terte sie 1993, sta­tis­tisch gese­hen im Gip­fel­jahr mei­ner Vita­li­tät. Was dann folgte, nennt sich Senes­zenz und dehnt sich, eben­falls sta­tis­tisch gese­hen, immer mehr aus. Auch regel­mä­ßi­ges Wan­dern könnte zur Stre­cken­ver­län­ge­rung des Berg­ab­ge­hens bei­tra­gen. Ich weiß. Aber Wan­der­schuhe befin­den sich nicht in mei­nem Schrank, und wenn ich hin­aus­gehe, tue ich es, um nicht den gan­zen Tag am Com­pu­ter zu sit­zen. Zuge­ge­ben: In letz­ter Zeit bemühe ich täg­lich mich um eine ange­mes­sene Schritt­zahl. Selbst wenn die Zahl 10000 eine Erfin­dung der Wer­be­in­dus­trie sein sollte, um Schritt­zäh­ler und Vita­li­täts-Apps zu ver­kau­fen, kann es nichts scha­den, sie anzu­steu­ern. Dabei gerate ich noch immer kaum ins Wan­dern, aber län­ger wer­den die Spa­zier­gänge schon.

Obwohl ich die Schnee­koppe eigent­lich nicht über­quert habe, denn in die­sem Fall wäre ich in Polen gelan­det, steht sie für mich syn­onym zum Lebens­gip­fel, den ich damals pas­sierte. Jeder Mensch strickt sich halt seine Legende… Ich bin in der Tat übern Berg. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich die Sněžka in jähr­lich grö­ßer wer­den­der Ent­fer­nung. Der Wunsch, sie ein zwei­tes Mal zu erklim­men, und sei es mit der Gon­del­bahn, kam bis­lang nie auf.  Statt­des­sen strebe ich recht ruhig dem Tal­grund zu.

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