Literatur aus Buchenwald
4 : Ivan Ivanji – »Schattenspringen« (Auszug)

Person

Ivan Ivanji

Ort

Gedenkstätte Buchenwald

Thema

Thüringen im literarischen Spiegel

Autor

Ivan Ivanji

Schattenspringen, Picus Verlag, Wien 1993, S. 19-24. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Picus Verlags Wien.

Ich kann mich nicht mehr daran erin­nern, was der Kleine gedacht hat, als er unter den blü­hen­den Kirsch­bäu­men die Land­straße in Thü­rin­gen ent­lang­mar­schierte. Für die Hun­deblumen am Rand des Stra­ßen­gra­bens wird er kaum einen Blick gehabt haben. Er wusste nicht, dass von die­sem Augen­blick an das Lager­le­ben in die Ver­gan­gen­heit zu ver­sin­ken begann.

Nie­mand hatte ihnen mit­ge­teilt, die Deut­schen seien weg, sie seien frei, könn­ten gehen, wohin sie woll­ten. Die drei sag­ten ein­an­der nichts über mög­li­che Gefah­ren. Ich kann mich nicht erin­nern, dass sie müde waren.

Im Gän­se­marsch gin­gen sie, einer hin­ter dem ande­ren, Lada vor­aus, dann Hand­ler, der Kleine hin­ter­her. Drei Sol­da­ten kamen ihnen mit Maschi­nen­pis­to­len im Anschlag ent­ge­gen, aber in einer ande­ren For­ma­tion: einer, in der Mitte der Straße, vor­aus, die ande­ren drei Schritte hin­ter ihm, links und rechts. Ihre Uni­for­men waren nicht grün­lich-feld­grau, son­dern braun.

Im glei­chen Augen­blick blie­ben alle ste­hen. Die Häft­linge, weil sie noch vor allem Angst hat­ten. Die ame­ri­ka­ni­sche Patrouille, weil sie sich im Nie­mands­land befand. Der Ser­geant schien zu wis­sen, was die gestreif­ten Uni­for­men be­deuteten. Ich weiß nicht, ob die Ange­hö­ri­gen der amerika­nischen Infan­te­rie poli­ti­schen Unter­richt über Konzentra­tionslager der Nazis hat­ten, aber die zebra­ge­streif­ten Lum­pen bedeu­ten über­all auf der Welt das­selbe und die abge­ma­ger­ten Gestal­ten, die aus­ge­mer­gel­ten Gesich­ter waren ver­ständ­lich genug.

Die Ame­ri­ka­ner kamen näher, und der Strei­fen­füh­rer hob abweh­rend die Hand:

»Umarmt uns nicht, ihr habt bestimmt Läuse!«

Das waren die ers­ten Worte der Befreier, die der Kleine zu hören bekam, die ers­ten Worte der Frei­heit, gespro­chen auf Eng­lisch. So etwas merkt man sich. Die Sol­da­ten müs­sen also doch poli­ti­schen Unter­richt gehabt haben: »Hütet euch vor deut­schen Mäd­chen, sonst kriegt ihr Syphi­lis; hütet euch vor unge­koch­tem Was­ser, es dro­hen Cho­lera und die Ruhr; hütet euch vor ehe­ma­li­gen Häft­lin­gen, die haben Läuse und ver­brei­ten Flecktyphus. «

Hand­ler konnte Eng­lisch, ver­suchte zu erklä­ren, dass einige Hun­dert Meter von hier ein Lager war. Dort starb man vor Hun­ger! Ja, doch, die Deut­schen seien schon vor­ges­tern geflo­hen. »Was sonst in der Umge­bung ist, das wis­sen wir nicht. Wir ken­nen nur den Weg vom Lager zum Tunnel­system in den Bergen.«

Das inter­es­sierte den Strei­fen­füh­rer mehr als die ster­ben­den Häftlinge.

»Muss unser Kom­man­dant erfah­ren! « Er begann die zahllo­sen Taschen sei­ner Uni­form abzu­tas­ten. »Habt ihr noch ein Lunch-Paket?« wandte er sich ärger­lich an seine Män­ner. »Diese Leute da wer­den hung­rig sein!«

Szene für eine Film­ko­mö­die. Drei Ame­ri­ka­ner in Feldaus­rüstung ent­lee­ren ihre Taschen, Brief­ta­schen kom­men her­vor, Fotos, Kämme, Prä­ser­va­tive. Einer fin­det Kau­gummi und gibt das Päck­chen dem Klei­nen. Die drei aus dem Lager beneh­men sich wie höf­li­che Hunde, die vor dem Ess­tisch hocken, nicht auf­fäl­lig bet­teln, aber erwar­tungs­voll nach oben bli­cken. Der Kleine schält das Sil­ber­pa­pier ab, beißt, ver­sucht zu schlu­cken, man kann das Zeug so nicht essen, der Pfef­fer­minz­ge­schmack ist zu stark. Warum macht ein gro­ßes Volk, wie das ame­ri­ka­ni­sche, so etwas? Auch spä­ter habe ich mich nie mit Kau­gummi anfreun­den kön­nen. Hand­ler hat eine huma­nis­ti­sche Bil­dung, er ver­sucht noch ein­mal auf das Lager hin­zu­wei­sen, aber die drei Ame­ri­ka­ner haben jetzt eine andere Auf­gabe, als Lebens­ret­ter zu spie­len. »Berich­tet das unse­rer Kom­man­do­stelle. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht. Ver­gesst nicht, alles über die Tun­nels zu erzäh­len. Das kann wich­tig sein.«

Die ers­ten Dorf­häu­ser. Die Fens­ter waren zu. Hun­de­ge­bell. Hunde ärgern sich immer über arme Men­schen, Post­bo­ten, Rauch­fang­keh­rer, Vaga­bun­den. Die Stra­ßen­kreu­zung. Eine geöff­nete Bäcke­rei, vor der ältere Män­ner standen.

»Sind die Ame­ri­ka­ner schon da?« fragte Hand­ler, weil er sich nicht traute, zu fra­gen, ob die Deut­schen abge­zo­gen wären, denn die Bau­ern waren ja Deutsche.

»Die zie­hen stän­dig vor­über, die Amis …«

»Und euer Mili­tär? …«, der Kleine wagte es auszusprechen.

»Hit­ler kaputt!« erklärte ein dicker Mann mit wei­ßer Schür­ze und zeigte auf das Haus­dach. Dort wehte eine weiße Fahne. Er holte einen Laib Brot, brach ihn in drei Teile. »Sie müs­sen nicht zah­len«, sagte er groß­zü­gig. »Heute neh­me ich auch keine Lebensmittelkarten.«

Das Brot war noch warm. Irgendwo hatte der Kleine gele­sen, wenn man aus­ge­hun­gert ist, soll man nicht gie­rig essen, wahr­schein­lich in einem Aben­teu­er­ro­man. Es war beschä­mend, vor den gut ernähr­ten Bau­ern ste­hend ins Brot zu bei­ßen. Sie hat­ten sau­bere Hem­den an, heute woll­ten sie sicher keine Feld­ar­bei­ten ver­rich­ten. Den Krieg sah man nicht, aber man hörte ihn aus der Ferne.

»Wis­sen Sie, wo eine ame­ri­ka­ni­sche Kom­man­dan­tur ist?« »Viel­leicht in Halberstadt.«

Man wies die Rich­tung. Sechs Kilo­me­ter soll­ten es sein. Viel spä­ter dachte der Kleine an die Bau­ern aus Lan­gen­stein. Es waren ältere Men­schen, ihre Söhne bestimmt an der Front. Kei­ner von ihnen kann heute noch am Leben sein. Viel­leicht hat ein Kind hin­ter den Gar­di­nen gestan­den und sich die ers­ten Lager­häft­linge gemerkt. Groß­papa hat ihnen Brot ohne Lebens­mit­tel­kar­ten geschenkt! Mit die­sem Kind, falls es exis­tiert, würde ich gerne Gedan­ken aus­tau­schen. Alle Erin­ne­run­gen sind ver­weht. Sie tref­fen sich nir­gendwo. Die Land­straße Rich­tung Hal­ber­stadt war brei­ter. Schnell hat­ten sie gelernt allein aus­zu­schrei­ten, ohne Pos­ten, die die Marsch­ge­schwin­dig­keit bestimm­ten. Angst hat­ten sie nicht mehr, hier war befrei­tes Gebiet. Für sie. Für die Deut­schen Hei­mat unter frem­der Besat­zungs­macht. Alle, die fähig wa­ren, das Lager zu ver­las­sen, hat­ten es wohl getan, hat­ten von ande­ren Ame­ri­ka­nern Kau­gummi, von ande­ren deut­schen Bäckern Brot bekom­men. Aber viele star­ben noch. Für sie musste man Hilfe suchen.

Danach würde man nach Hause fah­ren. Was die­ses »zu Hause« war, hatte noch keine kla­ren For­men ange­nom­men. Für den Klei­nen war es Betsch­kerek, die Woh­nung auf der ers­ten Etage ober­halb der Apo­theke. Vater. Vor allem der Vater, erst nach ihm die Mut­ter, die Schwes­ter. Zu Hause waren die Couch, Bücher, Früh­stück mit Kakao, But­ter und Salami. Ein­an­der erzäh­len, was man erlebt hat. Vater hatte ver­spro­chen, dass er am Leben blei­ben würde, er hat nie sein Wort gebrochen.

Die Stille hat­ten sie nicht wahr­ge­nom­men, bevor sie vom Moto­ren­ge­dröhn zer­ris­sen wurde. Sie dreh­ten sich um, spran­gen in den Stra­ßen­gra­ben. Pan­zer, Zug­ma­schi­nen mit Geschüt­zen, Last­kraft­wa­gen mit behelm­ten Sol­da­ten for­derten die ganze Breite der Straße. Grauer Stahl, weiße Sterne. Bis zum Him­mel war die Luft vol­ler Lärm und Ben­zin­ge­stank. Die Sol­da­ten wink­ten, erkann­ten die Zebra­uni­for­men, war­fen grüne und braune Päck­chen, Schach­teln aus was­ser­fes­tem Kar­ton, schwer auf­zu­rei­ßen mit nack­ten Fin­gern. Die Ame­ri­ka­ner hat­ten Mes­ser. Im Lager wa­ren Mes­ser ver­bo­ten, heim­lich machte man sich in den Werk­stät­ten Schnei­den aus Blech, um das Brot auf­zu­tei­len. Mit die­sem Werk­zeug bohrte der Kleine ein Loch in den Papp­kar­ton, riss sich dann doch die Fin­ger blu­tig. Kekse, Kon­ser­ven mit Leber­pas­tete, Ziga­ret­ten und Streich­höl­zer, sogar Toi­let­ten­pa­pier. Wie­der etwas silb­rig Ein­ge­wi­ckel­tes, aber jetzt war es Schokolade.

Der Kleine aß sie im Gehen.

Der Lärm ver­lor sich mit der auf­ge­wir­bel­ten Staub­wolke. Die Scho­ko­lade hatte den Geschmack der Kind­heit, den Geschmack von »zu Hause«. Die Schat­ten der die Landstra­ße ent­lang ste­hen­den Bäume form­ten Git­ter­stäbe im Staub. Der Kleine ver­gaß die Begeg­nung mit den Fahr­zeu­gen, die für andere den Tod brach­ten, ihm jedoch Din­ner- und Break fast-Pakete zuwar­fen. Er musste seine Gang­art so ver­ändern, dass er kei­nen Schat­ten berührte. Auf einen Schat­ten darf man nicht tre­ten, man muss über ihn sprin­gen, wie man es als Kind gemacht hat. Schat­ten auf der Land­straße sind wie ein Zaun oder Git­ter. Er rannte mit einer Schach­tel in der Hand vor­aus, mit Kek­sen, ame­ri­ka­ni­schem Käse … Er konnte nicht mehr frei lau­fen wegen die­ser Schat­ten und der Milch­scho­ko­lade im Mund, musste sprin­gen, hüp­fen, dem Schat­ten aus­wei­chen, er glaubte, er könne flie­gen und tanzte über die Schat­ten hin­weg. Die bei­den älte­ren Kame­ra­den hatte er weit hin­ter sich zurückgelassen.

War ihm zum Wei­nen zumute oder lachte er dabei? Sein Gesicht war im Lager nicht für immer ver­stei­nert, nur zu Eis gefro­ren, taute jetzt lang­sam auf unter der April­sonne, wurde kin­di­scher. Er hatte etwas wie­der­ent­deckt, was er schon ganz ver­ges­sen gehabt hatte: die Freude. Oder zumin­dest etwas Ähnliches.

Er wandte sich um. Kamen Hand­lee- und Lada nach? Ja. Ihre Gesich­ter waren tie­fernst und sie hat­ten auch begrif­fen, dass sie auf kei­nen Schat­ten tre­ten durf­ten, im Lauf­schritt hüpf­ten sie über die Schat­ten hin­weg und hat­ten ihn schon fast eingeholt.

 Literatur aus Buchenwald:

  1. Bruno Apitz – »Das kleine Lager«
  2. Ruth Elias – »Die Hoffnung erhielt mich am Leben« (Auszug)
  3. Julius Freund – »Der Schriftsteller als Leichenträger – Jura Soyfer«
  4. Ivan Ivanji – »Schattenspringen« (Auszug)
  5. Imre Kertész – »Roman eines Schicksallosen« (Auszug)
  6. Eugen Kogon – KL-»Freizeitgestaltung«
  7. Carl Laszlo – »Erinnerungen eines Überlebenden«
  8. Fritz Lettow – »Arzt in den Höllen« (Auszug)
  9. Fritz Löhner-Beda – »Buchenwaldlied«
  10. Jacques Lusseyran – »Leben und Tod«
  11. Judith Magyar Isaacson – Die Hyäne
  12. Hélie de Saint Marc – »Jenseits des Todes«
  13. Jorge Semprún – »Die Lorelei«
  14. Leonhard Steinwender – »Die Stimme des Rufenden in der Wüste«
  15. Karl Stojka – »Auf der ganzen Welt zuhause« (Auszug)
  16. Ernst Thape – »Befehlsnotstand«
  17. Ernst Wiechert – »Der Totenwald« (Auszug)
  18. Elie Wiesel – »Die Nacht zu begraben, Elischa« (Auszug)
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