Ausstellung »Melissantes – Ein Thüringer beschreibt die Welt des Barock« in Arnstadt

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Wann:
23. Januar 2015 ganztägig
2015-01-23T00:00:00+01:00
2015-01-24T00:00:00+01:00
Wo:
Schlossmuseum im Neuen Palais
Schlossplatz 1
99310 Arnstadt

Von 1706 bis 1720 lebte und wirkte der frei­schaf­fende Schrift­stel­ler, Geo­graph und His­to­ri­ker Johann Gott­fried Gre­go­rii (1685–1770) alias MELISSANTES in Arn­stadt. Unter för­der­li­chen Bedin­gun­gen für Kunst und Kul­tur nahm hier zu Beginn des 18. Jh.s, ähn­lich wie beim gleich­alt­ri­gen Johann Sebas­tian Bach (1685–1750), eine steile und nach­hal­tige Kar­riere ihren Anfang.

Von der schwarz­bur­gi­schen Resi­denz­stadt aus schuf Gre­go­rii, häu­fig unter dem Pseud­onym MELISSANTES, ein damals deutsch­land­weit belieb­tes und inter­na­tio­nal wahr­ge­nom­me­nes geo­gra­phi­sches Infor­ma­ti­ons­sys­tem für Schü­ler, Bür­ger, Bau­ern und Rei­sende. Auch der erste Thü­rin­gen­füh­rer aus dem Jahr 1711, wohl zugleich der erste deut­sche Regio­nal­füh­rer über­haupt, ent­stammt sei­ner Feder.

Bereits 1708 phi­lo­so­phierte MELISSANTES über die deut­sche Ein­heit. Ein Kreis von Wei­ma­rer Gelehr­ten um Fried­rich Jus­tin Ber­tuch (1747–1822) erin­nerte sich ein­hun­dert Jahre spä­ter in Zei­ten napo­leo­ni­scher Besat­zung an den Visio­när und bezeich­nete MELISSANTES als ers­ten Autor, der für ein gesamt­deut­sches Publi­kum geschrie­ben und mit sei­nen Büchern den natio­na­len Ein­heits­ge­dan­ken ver­brei­tet hat. Im Jahr 1723 ver­tex­tete er einen Taschen­at­las von Deutsch­land, als Fort­set­zung sei­nes Schul- und Rei­se­at­las­ses von 1717.

MELISSANTES bewegte sich gedank­lich und emo­tio­nal im Span­nungs­feld zwi­schen Phy­si­ko­theo­lo­gie und Ratio­na­lis­mus. Die Ent­wick­lung ein­zel­ner Geis­tes­hal­tun­gen des tief­gläu­bi­gen Chris­ten bil­dete die Fähig­keit zum kon­struk­ti­ven Umgang mit rea­len und schein­ba­ren Wider­sprü­chen zwi­schen natur­wis­sen­schaft­lich begrün­de­ten Erkennt­nis­sen und reli­giö­sen Leh­ren aus. Cha­rak­te­ris­tisch für die Ent­wick­lungs­fä­hig­keit von Gre­go­rii wie auch für den herr­schen­den Zeit­geist war die Wand­lung vom pole­mi­sie­ren­den Kri­ti­ker des helio­zen­tri­schen Welt­bil­des nach Koper­ni­kus zum wert­schät­zen­den Bewun­de­rer die­ser Lehre als gött­li­che Vor­stel­lung inner­halb eines Jahr­zehnts. Diese Selbst­kor­rek­tur kenn­zeich­nete den lern­fä­hi­gen Fach­ex­per­ten auf hohem intel­lek­tu­el­lem Niveau.

Gre­go­rii legte Wert auf ein anstän­di­ges Leben ent­spre­chend christ­li­cher Moral­vor­stel­lun­gen und ver­nunft­ge­lei­te­tem Han­deln. Sie­ben Jahr­zehnte vor Knigge ver­öf­fent­lichte der Volks­auf­klä­rer ein bekann­tes Benimm­buch, wel­ches zudem einen Fürs­ten­spie­gel und visio­näre Ideen zur plan­vol­len und opti­mier­ba­ren Berufs­wahl ent­hielt. Durch letz­tere Ideen nahm er eine Ent­wick­lung vor­weg, die erst zwei­hun­dert Jahre spä­ter durch Wis­sen­schaft­ler des 20. Jh.s in Gang gesetzt wurde.

Die Sagen­über­lie­fe­run­gen von MELISSANTES blie­ben bis zum Beginn des 19. Jh.s popu­lär. Die Brü­der Grimm, Lud­wig Bech­stein, Achim von Arnim und andere rezi­pier­ten spä­ter etli­che Texte. Dar­un­ter Sagen wie „Der Rat­ten­fän­ger von Hameln“, die Kyff­häu­ser­sage, „Der Graf von Glei­chen“, „Faus­tens Höl­lenzwang“ oder „Wil­helm Tell“. Char­lotte von Schil­ler, Imma­nuel Kant und Johann Wolf­gang von Goe­the zähl­ten zu sei­nen pro­mi­nen­tes­ten Lesern. In den Biblio­the­ken der Arnims, der Bren­ta­nos, der Len­ge­felds oder des Geo­gra­phen Carl Rit­ter las­sen sich Bände aus der Feder von MELISSANTES finden.

Durch geo­gra­phi­sche Lehr­bü­cher, Atlan­ten, Lexika, Genea­lo­gien, Psy­cho­lo­gie- und Benimm­rat­ge­ber sowie Berufs­be­schrei­bun­gen gewährt MELISSANTES der Nach­welt ein­zig­ar­tige, authen­ti­sche und wun­der­bare Ein­bli­cke in die Welt des Barock. Seine in Zei­ten bewe­gen­der Umbrü­che, Kriege, Seu­chen, aber auch epo­cha­ler Ent­wick­lun­gen in Kunst, Tech­nik und Kul­tur ver­fass­ten Texte bil­den eine eigen­stän­dige Jahr­hun­dert­quelle. Die Bücher von MELISSANTES sind beson­ders wert­voll, da sie neben auf­wen­dig recher­chier­ten Fak­ten und einem fun­dier­ten zeit­ge­nös­si­schen Uni­ver­sal­wis­sen auch Ver­glei­che, Wer­tun­gen und zeit­lose phi­lo­so­phi­sche Dis­kurse eines Gelehr­ten ent­hal­ten, ohne dass der Inhalt durch macht­po­li­ti­sche Inter­es­sen oder insti­tu­tio­nelle Bin­dun­gen ver­fälscht oder geschönt wor­den ist.

Infor­ma­tiv und amü­sant zugleich ist dank MELISSANTES zudem etwas dar­über zu erfah­ren, wie die Deut­schen, ins­be­son­dere die Thü­rin­ger, vor drei­hun­dert Jah­ren ste­reo­typ über andere Natio­nal­tä­ten (z.B. Fran­zo­sen, Eng­län­der, Ita­lie­ner, Schwei­zer, Grön­län­der) dachten.

Ergän­zend zu wei­te­ren Aus­stel­lungs­schwer­punk­ten wie z.B. Gre­go­riis Bei­trä­gen zur Musik­wis­sen­schaft und zur Kar­to­gra­phie­ge­schichte oder der Eta­blie­rung des poli­tisch-geo­gra­phi­schen Jour­na­lis­mus in Erfurt wird der Frage nach­ge­gan­gen: Hat MELISSANTES jemals Bach getroffen?

Der Musik­lieb­ha­ber und ‑ken­ner Gre­go­rii lobte 1712 die Musik als die höchste der sie­ben freien Künste und zählte Bach 1744 zu den bes­ten deut­schen Orga­nis­ten. Er selbst war jedoch vor allem ein Mann des geschrie­be­nen Wor­tes. MELISSANTES besaß bereits 1739 als berühm­ter Schrift­stel­ler einen eige­nen Ein­trag in Zed­lers Lexi­kon. Die Bücher zur Geo­gra­phie und Kar­to­gra­phie von MELISSANTES wie auch seine Sagen­über­lie­fe­run­gen gal­ten sei­ner­zeit als Stan­dard­werke im deutsch­spra­chi­gen Raum.

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