Von 1706 bis 1720 lebte und wirkte der freischaffende Schriftsteller, Geograph und Historiker Johann Gottfried Gregorii (1685–1770) alias MELISSANTES in Arnstadt. Unter förderlichen Bedingungen für Kunst und Kultur nahm hier zu Beginn des 18. Jh.s, ähnlich wie beim gleichaltrigen Johann Sebastian Bach (1685–1750), eine steile und nachhaltige Karriere ihren Anfang.
Von der schwarzburgischen Residenzstadt aus schuf Gregorii, häufig unter dem Pseudonym MELISSANTES, ein damals deutschlandweit beliebtes und international wahrgenommenes geographisches Informationssystem für Schüler, Bürger, Bauern und Reisende. Auch der erste Thüringenführer aus dem Jahr 1711, wohl zugleich der erste deutsche Regionalführer überhaupt, entstammt seiner Feder.
Bereits 1708 philosophierte MELISSANTES über die deutsche Einheit. Ein Kreis von Weimarer Gelehrten um Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) erinnerte sich einhundert Jahre später in Zeiten napoleonischer Besatzung an den Visionär und bezeichnete MELISSANTES als ersten Autor, der für ein gesamtdeutsches Publikum geschrieben und mit seinen Büchern den nationalen Einheitsgedanken verbreitet hat. Im Jahr 1723 vertextete er einen Taschenatlas von Deutschland, als Fortsetzung seines Schul- und Reiseatlasses von 1717.
MELISSANTES bewegte sich gedanklich und emotional im Spannungsfeld zwischen Physikotheologie und Rationalismus. Die Entwicklung einzelner Geisteshaltungen des tiefgläubigen Christen bildete die Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit realen und scheinbaren Widersprüchen zwischen naturwissenschaftlich begründeten Erkenntnissen und religiösen Lehren aus. Charakteristisch für die Entwicklungsfähigkeit von Gregorii wie auch für den herrschenden Zeitgeist war die Wandlung vom polemisierenden Kritiker des heliozentrischen Weltbildes nach Kopernikus zum wertschätzenden Bewunderer dieser Lehre als göttliche Vorstellung innerhalb eines Jahrzehnts. Diese Selbstkorrektur kennzeichnete den lernfähigen Fachexperten auf hohem intellektuellem Niveau.
Gregorii legte Wert auf ein anständiges Leben entsprechend christlicher Moralvorstellungen und vernunftgeleitetem Handeln. Sieben Jahrzehnte vor Knigge veröffentlichte der Volksaufklärer ein bekanntes Benimmbuch, welches zudem einen Fürstenspiegel und visionäre Ideen zur planvollen und optimierbaren Berufswahl enthielt. Durch letztere Ideen nahm er eine Entwicklung vorweg, die erst zweihundert Jahre später durch Wissenschaftler des 20. Jh.s in Gang gesetzt wurde.
Die Sagenüberlieferungen von MELISSANTES blieben bis zum Beginn des 19. Jh.s populär. Die Brüder Grimm, Ludwig Bechstein, Achim von Arnim und andere rezipierten später etliche Texte. Darunter Sagen wie „Der Rattenfänger von Hameln“, die Kyffhäusersage, „Der Graf von Gleichen“, „Faustens Höllenzwang“ oder „Wilhelm Tell“. Charlotte von Schiller, Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe zählten zu seinen prominentesten Lesern. In den Bibliotheken der Arnims, der Brentanos, der Lengefelds oder des Geographen Carl Ritter lassen sich Bände aus der Feder von MELISSANTES finden.
Durch geographische Lehrbücher, Atlanten, Lexika, Genealogien, Psychologie- und Benimmratgeber sowie Berufsbeschreibungen gewährt MELISSANTES der Nachwelt einzigartige, authentische und wunderbare Einblicke in die Welt des Barock. Seine in Zeiten bewegender Umbrüche, Kriege, Seuchen, aber auch epochaler Entwicklungen in Kunst, Technik und Kultur verfassten Texte bilden eine eigenständige Jahrhundertquelle. Die Bücher von MELISSANTES sind besonders wertvoll, da sie neben aufwendig recherchierten Fakten und einem fundierten zeitgenössischen Universalwissen auch Vergleiche, Wertungen und zeitlose philosophische Diskurse eines Gelehrten enthalten, ohne dass der Inhalt durch machtpolitische Interessen oder institutionelle Bindungen verfälscht oder geschönt worden ist.
Informativ und amüsant zugleich ist dank MELISSANTES zudem etwas darüber zu erfahren, wie die Deutschen, insbesondere die Thüringer, vor dreihundert Jahren stereotyp über andere Nationaltäten (z.B. Franzosen, Engländer, Italiener, Schweizer, Grönländer) dachten.
Ergänzend zu weiteren Ausstellungsschwerpunkten wie z.B. Gregoriis Beiträgen zur Musikwissenschaft und zur Kartographiegeschichte oder der Etablierung des politisch-geographischen Journalismus in Erfurt wird der Frage nachgegangen: Hat MELISSANTES jemals Bach getroffen?
Der Musikliebhaber und ‑kenner Gregorii lobte 1712 die Musik als die höchste der sieben freien Künste und zählte Bach 1744 zu den besten deutschen Organisten. Er selbst war jedoch vor allem ein Mann des geschriebenen Wortes. MELISSANTES besaß bereits 1739 als berühmter Schriftsteller einen eigenen Eintrag in Zedlers Lexikon. Die Bücher zur Geographie und Kartographie von MELISSANTES wie auch seine Sagenüberlieferungen galten seinerzeit als Standardwerke im deutschsprachigen Raum.
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