Wolfgang Hilbig – »Das Provisorium«

Personen

Wolfgang Hilbig

Dietmar Jacobsen

Ort

Meuselwitz

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Diet­mar Jacobsen

Zwi­schen den Welten

 

Mit »Das Pro­vi­so­rium“ liegt als sechs­ter Band der Hil­big-Werk­aus­gabe der wich­tigste Roman die­ses Autors vor. Seit 2008 erscheint im S. Fischer Ver­lag die von Jörg Bong, Jür­gen Hose­mann und Oli­ver Vogel her­aus­ge­ge­bene Gesamt­aus­gabe der Werke des viel­leicht wich­tigs­ten deut­schen Dich­ters der zwei­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts: Wolf­gang Hil­big (1941–2007). Der 2013 erschie­nene Band 6 – die Aus­gabe ist auf ins­ge­samt sie­ben Bände ange­legt – ent­hält Hil­bigs drit­ten Roman, »Das Pro­vi­so­rium«, ein Bilanz­buch vol­ler auto­bio­gra­fi­scher Bezüge und alles in allem Wolf­gang Hil­bigs opus magnum.

Wor­auf das Nach­den­ken von Hil­bigs Hel­den, der unter dem Kür­zel C. im Roman auf­tritt, hin­aus­läuft, sagt im Grunde schon der Titel des Buchs. Man kann den poe­tisch hoch­kom­pri­mier­ten Text lesen als Rück­blick auf ein Jahr­hun­dert vol­ler untaug­li­cher Groß­pro­jekte zur Ver­bes­se­rung des mensch­li­chen Mit­ein­an­ders, als Aus­ein­an­der­set­zung mit dem eige­nen Wer­de­gang oder als eine kri­ti­schen Refle­xion der jüngs­ten zehn Jahre neuen deut­schen Mit­ein­an­ders – das Fazit bleibt jedes­mal das­selbe: Nichts ist wirk­lich gelun­gen. Allem mensch­li­chen Tun und Las­sen – im Klei­nen wie im Gro­ßen – hängt etwas tra­gisch Pro­vi­so­ri­sches an, über das unsere Spe­zies wohl nie hin­aus­ge­lan­gen wird.

Mit sei­ner Haupt­fi­gur ist Hil­big dabei ein scho­nungs­lo­ses Selbst­por­trät gelun­gen. Der Schrift­stel­ler C., dem es eine Aus­rei­se­ge­neh­mi­gung Mitte der acht­zi­ger Jahre erlaubt, die DDR für zunächst ein Jahr zu ver­las­sen, ohne dass ihm der Rück­weg für immer ver­sperrt bleibt, kommt kei­nes­wegs an neuen Ufern an. Hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen den bei­den deut­schen Staa­ten, zwei Ideo­lo­gien, zwei Lebens­ent­wür­fen und zwei Frauen, bleibt er hier wie da ein Frem­der. Als Ein­zel­gän­ger, dem mensch­li­che Nähe nach einer Weile immer fatal wird, was beson­ders die bei­den Frauen – eine im Osten, eine im Wes­ten -, zwi­schen denen er sich nicht ent­schei­den kann und deren jewei­li­ger Anspruch an ihn den Dich­ter über­for­dert, zu spü­ren bekom­men, fin­det er nach der alten Hei­mat Leip­zig weder in Nürn­berg noch spä­ter in Hanau ein neues Zuhause.

Hil­big mutet bei der Beschrei­bung sei­nes Hel­den dem Leser eini­ges zu. Der Roman, zunächst in einer ers­ten Fas­sung aus der «Ich«-Perspektive geschrie­ben, ehe sich sein Autor für die mehr distan­zie­rende per­so­nelle Per­spek­tive ent­schied, beschreibt in radi­kals­ter Aus­führ­lich­keit den see­li­schen wie kör­per­li­chen Nie­der­gang eines Men­schen. Alko­ho­lis­mus, Selbst­er­nied­ri­gung bis hin zur Selbst­zer­stö­rung und, damit ein­her­ge­hend, die Zer­stö­rung ande­rer, dem Prot­ago­nis­ten in unheil­vol­ler Weise Ver­fal­le­ner, las­sen die Lek­türe stel­len­weise zur Qual wer­den. Doch ande­rer­seits ver­mag der Leser sich auch nicht wie­der zu lösen von jener beses­sen den eige­nen Unter­gang suchen­den Figur, in deren Augen alles, was sie sehen, zu Nacht wird. Gewal­tig etwa jene Szene, in wel­cher der Schrift­stel­ler C. vor einer Lesung in sei­nem Hotel­zim­mer sitzt, trinkt, durch Por­no­ka­näle zappt und sich, trotz sei­ner heim­li­chen Ängste vor dem bevor­ste­hen­den Auf­tritt, in Publi­kums­be­schimp­fung und ‑ver­ach­tung übt.

Zwei Jahre nach Wolf­gang Hil­bigs Tod ist übri­gens mit Nata­scha Wodins (* 1945) Buch «Nacht­ge­schwis­ter« (2009) ein Pen­dant zu «Das Pro­vi­so­rium« erschie­nen. Wodin, von 1994 bis 2002 mit Hil­big ver­hei­ra­tet, hat darin aus ihrer Sicht die Jahre beschrie­ben, die sie mit dem Dich­ter ver­brachte. In Hil­bigs Roman trägt sie den Namen Hedda – er figu­riert in ihrem als Jakob Stumm. Die Geschichte frei­lich ist die glei­che, nur von einem ande­ren Stand­punkt aus beschrieben.

Denn auch «Nacht­ge­schwis­ter« ist ein Roman, der vor dem Hin­ter­grund von Wende und Wie­der­ver­ei­ni­gung spielt. Wenn Wodins Hel­din und ihr Dich­ter am Ende nach Ber­lin gehen, dort eine Zweck­ehe schlie­ßen – die ein paar Jahre spä­ter wie­der getrennt wird – und ihre Tage und Nächte in zwei unweit von­ein­an­der ent­fernt lie­gen­den Woh­nun­gen ver­brin­gen, fängt Nata­scha Wodin ganz neben­bei eine Menge von jener Atmo­sphäre ein, die die frü­hen 90er Jahre für viele so erschei­nen lie­ßen, als wäre es mög­lich, in der ver­ges­se­nen Welt des Ostens noch ein­mal ganz von vorn anzu­fan­gen. Alles scheint neu für eine gewisse Zeit und über die Leich­tig­keit des Lebens­ge­fühls in ihrer neuen Umge­bung wächst der Prot­ago­nis­tin des Romans auch die Kraft zu, einen end­gül­ti­gen Schluss­strich zu zie­hen. Vom Tod Jakob Stumms erfährt sie schließ­lich aus den Medien. Ihr Kom­men­tar lau­tet: »Viel­leicht, so dachte ich, hatte er den Unter­gang der DDR nicht überlebt.“

Ein lapi­da­res Fazit einer obses­si­ven Liebe, die kei­nem der bei­den in sie Ver­strick­ten die Erlö­sung brachte, die er sich vom ande­ren ver­sprach. Und doch greift der Satz zu kurz. Denn die Uto­pie, die Hil­big sei­nem Hel­den C. kei­nes­wegs ver­wei­gert, bezieht sich – ganz im Wort­sinne des «Nich­tor­tes« (ou tópos) – auf ein Lebens­ideal, das C. weder in der Welt, aus der er kommt, noch in jener, in die das Schick­sal ihn ver­schlägt, zu fin­den ver­mag. Sein Zorn und das ohn­mäch­tige Anren­nen gegen beide Gesell­schaf­ten resul­tie­ren dar­aus, dass es für ihn tat­säch­lich, um es mit einem abge­wan­del­ten Roman­ti­tel von Christa Wolf zu sagen, «kei­nen Ort nir­gends« gibt.

Mit «Das Pro­vi­so­rium« hat Wolf­gang Hil­big pünkt­lich zur Jahr­tau­send­wende den deut­schen Roman vor­ge­legt, der am unbarm­her­zigs­ten Bilanz nach zehn Jah­ren deut­scher Ein­heit zieht. Auch wenn darin vor­der­grün­dig die sehr pri­vate Geschichte eines Schrift­stel­lers in einer exis­tenz­be­dro­hen­den Lebens- und Schaf­fens­krise erzählt wird, die neue Zeit erst am Schluss des Tex­tes in den Fokus rückt, gibt die exis­ten­ti­elle Unbe­haust­heit sei­ner Haupt­fi­gur über deren per­sön­li­ches Dilemma hin­aus doch auch prä­zise Aus­kunft über die in den 90er Jah­ren all­mäh­lich schwin­dende Eupho­rie vie­ler Ost­deut­scher ange­sichts eines Pro­zes­ses der Wie­der­ver­ei­ni­gung, der ihre Bio­gra­fien mehr zu ent­wer­ten schien, als sie in die neue Zeit hin­über­zu­ret­ten. Aus dem einen Leben ver­trie­ben und im ande­ren, von dem sie sich noch wenige Jahre zuvor so viel ver­spro­chen hat­ten, noch nicht ange­kom­men, durf­ten sie sich eins füh­len mit Hil­bigs Prot­ago­nis­ten C.

«Das Pro­vi­so­rium« ist ein so groß­ar­ti­ger wie quä­len­der Roman, sein Thema die Zer­ris­sen­heit sei­nes Hel­den zwi­schen Ost und West. Dort (im Osten) hat er sei­nen Stoff , hier (im Wes­ten) wird er ver­öf­fent­licht und geprie­sen. Dort mar­tert ihn der Ideologie‑, hier der Kon­sum­wahn. Einen Aus­weg gibt es in Hil­bigs Welt, die auch in den Nach­wen­de­tex­ten die­ses Autors eine dunkle, ver­schlos­sene, defekte und jen­sei­tige bleibt, nicht. Dass sich in den am Ende des Tex­tes in der auf­ge­hen­den Sonne spie­geln­den drei Buch­sta­ben AEG keine Zukunfts­vi­sion ver­birgt, der zu fol­gen sich lohnt – Wolf­gang Hil­big muss es wirk­lich nicht extra betonen.

 

  • Wolf­gang Hil­big: Werke. Her­aus­ge­ge­ben von Jörg Bong, Jür­gen Hose­mann und Oli­ver Vogel. Band 6: Das Pro­vi­so­rium. Roman. Mit einem Nach­wort von Julia Franck. S. Fischer Ver­lag, Frankfurt/ Main 2013.
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