Goethes Abglanz – Weimar in der nachklassischen Zeit
1 : Fritz Daum – »Aus der Musenphilisterstadt«

Personen

Fritz Daum

Marie Seebach

Orte

Weimar

Fürstengruft auf dem Historischen Friedhof Weimar

Thema

Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution

Autor

Fritz Daum

In: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, Leipzig 1877, S. 1476-1485.

Als ich zum ers­ten Male den Fuß auf den klas­si­schen Boden mit dem hor­ri­blen Stra­ßen­pflas­ter setzte, kam ich direkt aus Ita­lien. Daß ich vor Wei­mars Namen als Schrift­stel­ler mehr als die land­läu­fige Pie­tät hatte, ver­steht sich von selbst. Der stei­nerne Sarg in Rom, der die Gebeine der Sci­pione barg, ist zwar auch leer, aber den­noch stand ich in wei­he­vol­ler Stim­mung vor ihm. Und in Wei­mar gibt es Grä­ber, die für einen deut­schen Schrift­stel­ler noch impo­nie­ren­der sind als der sci­pio­ni­sche Sar­ko­pharg im Sta­tu­en­mu­seum des römi­schen Vati­kans und jene Grä­ber haben den Vor­zug, daß die Gebeine der Toten in ihnen noch ruhen. Es sind die Särge Schil­lers und Goethes.

Am Bahn­hof emp­fing mich eine mir befreun­dete ält­li­che Dame, wel­che die Zahl der Wit­wen ver­mehrte. Ich muß hier eine kul­tur­ge­schicht­li­che Paren­these machen.

Wenn das wei­ma­ri­sche Adreß­buch, wel­ches alle fünf Jahre eine neue Auf­lage erlebt, nicht lügt, so haben die Damen in Wei­mar ein ganz pro­non­cier­tes Talent, Wit­wen zu wer­den. Ich zählte nach einem flüch­ti­gen Durch­stu­die­ren des Adreß­bu­ches unge­fähr fünf­zehn Pro­zent Frauen die­ses Stan­des. Jedoch wurde ich belehrt, daß nicht alle Wit­wen Wei­ma­ra­ne­rin­nen seien, son­dern eine gute Anzahl sich hier nur nie­der­ge­las­sen hat­ten, um idyl­lisch und bil­lig ihre Pen­sio­nen zu verzehren.

Aber das Prä­di­kat »Witwe« genügt nicht in einer Stadt, wo unter fünf Men­schen sechs einen Titel haben und so fin­den wir denn bei­spiels­weise: Kauf­manns­wit­wen, Hof­schorn­stein­fe­ger­meis­ter­wit­wen, Maler­wit­wen, Zim­mer­meis­ter­wit­wen, Hof­rats­wit­wen und so fort. Ob Wei­mar, wie Heine meint, ein »Musen­wit­wen­sitz« ist, weiß ich nicht, ein Wit­wenel­do­rado ist es unbe­dingt und für Ehe­män­ner scheint, vom Stand­punkt der Sta­tis­tik aus, das Klima in Wei­mar kein beson­ders güns­ti­ges zu sein. […]

Ich habe bereits erzählt, wie ich aus dem Wag­gon stieg. Vom Bahn­hof führt eine gerade Straße, wel­che noch nicht völ­lig mit Häu­sern bebaut ist, in die Stadt. Wahr­schein­lich, damit man diese nicht zu plötz­lich in der Nähe erblickt, wird sie ver­deckt durch das Museum, daß den Abschluß der Straße bil­det und im ein­fach schö­nen Renais­sance­stil gehal­ten ist. Die Stadt selbst zeich­net sich sofort schmerz­lich fühl­bar durch ein Stra­ßen­pflas­ter aus, wie es die Kul­tur der Hüh­ner­au­gen nicht bes­ser wün­schen kann. Ich glaubte anfangs, der ganze Gemein­de­rat der Stadt Wei­mar bestände aus Schus­tern, wel­che durch das Stra­ßen­pflas­ter ihre Kund­schaft zwangs­weise ver­meh­ren wollten.

Das ist aber nicht der Fall. Es sit­zen sogar Ästhe­ti­ker im Gemein­de­rat, Leute, wel­che an der Shake­speare­ma­nie lei­den und am inter­mit­tie­ren­den Kom­men­ta­to­ren­fie­ber. Zwei Krank­hei­ten, welch in Wei­mar ende­misch sind. Gibt es nun ein Sprich­wort, daß in Wei­mar »die Stra­ßen mit Jam­ben gepflas­tert sind«, so müs­sen das wohl ver­stei­nerte Jam­ben sein, wel­che bei Leb­zei­ten von der Poli­zei ver­bo­ten waren. Irgend eine tra­di­tio­nelle Schnurre muß aber wohl in dem Pflas­ter ste­cken, denn an ver­schie­de­nen Stel­len ist auf den Stra­ßen mosa­ik­ar­tig die Jah­res­zahl der Pflas­te­rung ver­ra­ten. Ich las u. a. Zah­len wie 1854–1860, es war jedoch nicht hin­zu­ge­fügt, ob nach oder vor Christo, oder ob vor oder nach der Sündflut.

Daß mich meine für Wei­mar schwär­mende Freun­din sofort in den Park und in die Fürs­ten­gruft an die Särge Schil­lers und Goe­thes führte, ver­steht sich von selbst. […]

Man tut Unrecht, wenn man es tadelt, daß die Särge der bei­den Dich­ter­fürs­ten seit­wärts gleich unten an der Treppe ste­hen, wel­che in die Gruft führt. Sie machen dort gerade die größte Sen­sa­tion, denn sie sind unter sich. Sie brin­gen uns sogar aus der sym­pa­thi­schen Stim­mung her­aus, die wir für die Särge der fürst­li­chen Geblü­tes ent­spros­se­nen Toten hegen sol­len; sie absor­bie­ren mit einem Worte den gan­zen Eindruck.

Aber ohne eine innere Dis­so­nanz sollte es bei mir nicht abge­hen. Mein ver­wünsch­tes, rasches Wahr­neh­mungs­ta­lent blieb haf­ten an einem Objekt, wel­chem die meis­ten Besu­cher der Fürs­ten­gruft eine gut­mü­tige Indif­fe­renz zuwen­den das aber abso­lut nicht dort­hin gehört und ich begreife noch heute den ver­ständ­nis­vol­len Groß­her­zog nicht daß er einen Rekla­meun­fug in der Gruft sei­ner Fami­lie dul­den konnte.

»Doch wohl nicht eine Hoff­sche Malz­ex­trak­t­an­zeige?« rufen Sie.

Fast noch schlim­mer. Die Schau­spie­le­rin Frau Nie­mann-See­bach hatte es für not­wen­dig befun­den, an der hun­dert­jäh­ri­gen Geburts­tags­feier Schil­lers einen Lor­beer­kranz auf sei­nen Sarg – er liegt jetzt wenigs­tens dane­ben – zu legen, in des­sen Blät­ter die Rol­len oder Stü­cke ein­ge­stickt sind, in denen Frau Nie­mann-See­bach in Schil­ler­schen Dra­men auf der Bühne agiert hat. Ich finde das kurios. Gewiß, die Dame war eine Schau­spie­le­rin ers­ten Ran­ges, aber was dem Einen recht ist, das ist dem Andern bil­lig, denke ich, und es ist hier ein Prä­ju­diz geschaf­fen, das jede Mimin und jeden »Mime­rich« ver­an­las­sen kann, sich eben­falls hier selbst zu immor­ta­li­sie­ren mit Schil­ler als Vorspann.

 Goethes Abglanz – Weimar in der nachklassischen Zeit:

  1. Fritz Daum – »Aus der Musenphilisterstadt«
  2. Angela Böcklin – »Böcklin bei Hofe«
  3. Hermann Schlittgen – »Diogenes in der Tonne«
  4. Konrad Guenther – »Gerhard Rohlfs in der Villa Meinheim«
  5. Gabriele Reuter – »Ibsen in Weimar«
  6. Lily Braun – »Zaubernetz und Schatten der Vergangenheit«
  7. Richard Voß – »Schwankende Gestalten«
  8. Detlev von Liliencron: Brief an Alma Holtdorf
  9. Harry Graf Kessler – »Reinkulturen menschlichen Schimmelpilzes«
  10. Edwin Redslob – »Ein neues Weimar«
  11. Rainer Maria Rilke – »Brief an Helene von Nostitz«
  12. Otto von Taube – »Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Weimarer Goethe-Institut«
  13. Hermann Bahr – »Eine neue Menschenart: Die Goethe-Philologen«
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