Thüringer Anthologie Nr. 138 – Roland Jahn über Jürgen K. Hultenreich

Person

Jürgen K. Hultenreich

Ort

Erfurt

Thema

Die »Thüringer Anthologie«

Autor

Jürgen K. Hultenreich / Roland Jahn

Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 05.11.2016.

Jürgen K. Hultenreich

Ich erinnere mich

 

Da sitz ich nun in die­sem Stasi-Hauptquartier
vor einer Akte, die, so heißt es, mich enthält.
Er brüllt und fragt: »Wie leben Sie?«, der Offizier,
ich sag: »Ich lebe, auch wie Sie, vom Geld!«

»Nein, nein, wir wis­sen«, brüllt er, »Sie sind asozial
und Geld in Ihrer Hand ist nicht von Dauer«!
»Man wird hier jedes­mal«, sag ich, und bind den Schal,
»wenn man bei Ihnen ist, ein wenig schlauer!«

»Die Schnauze rechts!« brüllt er, »ich brauch Sie im Profil!«
»Ja, bitte«, sag ich, »mein Gesicht ist Euer!«
»Schlag doch noch ein­mal rein, der ist debil!«
befiehlt der Offi­zier, »dann wirkt der Hultrich neuer!«

Und als ich raus­kam dann, mit mei­nem Neugesicht,
da war’s die schönste, dunkle, kalte, weiße Nacht.
Ich ging nach Haus, durch Erfurt, lang­sam, machte Licht
und nahm die Katze in den Arm und hab‹ ver­se­hent­lich gelacht.

aus: Lang­sam rück­wärts ist eine kräf­tige Gang­art. Gedichte, Basis Ver­lag, Ber­lin 1985.

 

Roland Jahn

Die Substanz eines Menschen

 

Jür­gen K. Hul­ten­reich gelingt etwas ganz Ein­zig­ar­ti­ges. Vier Pas­sa­gen kurz, je vier Zei­len lang, legt er in sei­nem Gedicht etwas frei, über das man ganze Bücher schrei­ben kann. Mit »Ich erin­nere mich« schafft er es, den Kern des­sen erleb­bar zu machen, was in einem Stasi-Ver­hör tat­säch­lich ver­han­delt wird: Die Sub­stanz eines Menschen.

Wer in die Fänge der Geheim­po­li­zei geriet, musste näm­lich kei­nes Ver­bre­chens über­führt wer­den. Er saß dort, weil er sich ein Stück Frei­heit genom­men hatte, weil er wie Jür­gen K. Hul­ten­reich zum Bei­spiel sein Recht auf Frei­zü­gig­keit leben wollte. In der U‑Haft ging es der Stasi darum, den Gefan­ge­nen das zu neh­men, was sie stark machte, was sie nach Frei­heit ver­lan­gen ließ: Ihre Würde. In den immer wie­der­keh­ren­den Begeg­nun­gen im Ver­hör sollte der Gefan­gene zur Auf­gabe sei­ner Per­sön­lich­keit gebracht wer­den. Er sollte sich end­lich der Logik der Stasi und der herr­schen­den Par­tei unter­wer­fen. Und natür­lich in die­ser Zwangs­si­tua­tion auch die Beweise lie­fern, die not­wen­dig waren, ein Ver­fah­ren vor Gericht »legal« und kor­rekt aus­se­hen zu las­sen. Im Ein-Par­teien-Staat DDR galt – in Abwand­lung einer Ulb­richt-Devise – es auch in poli­ti­schen Straf­ver­fah­ren nach Recht und Gesetz aus­se­hen zu las­sen. So wurde Unrecht unter den gel­ten­den Geset­zes der DDR und den Gum­mi­pa­ra­gra­fen der poli­ti­schen Straf­jus­tiz schein­bar recht­lich kor­rekt  zu den Akten genommen.

Mit weni­gen ver­ba­len Feder­stri­chen durch­läuft man mit Hul­ten­reich die Gefan­gen­nahme durch die Stasi und dann den Moment, in dem er aus dem Gefäng­nis ent­las­sen wird. Die Wun­den sind noch frisch, er nennt es ein »Neu­ge­sicht«, das ihm die Stasi ver­passt hat. Er kehrt in einen All­tag zurück, in dem nichts mehr so erleb­bar ist wie zuvor. Und gerade wenn man sich zumin­dest damit anfreun­den will, dass er doch wie­der »drau­ßen« ist und damit das Schlimmste vor­bei, lässt er dem Leser keine Illu­sion. Wer aus der Stasi-Haft kommt, hat eine Wunde fürs Leben, »Ver­se­hent­lich« hat er gelacht. Es ist ein Plä­doyer für unse­ren Respekt und unser Ver­ständ­nis für jeden, der in die Fänge der Stasi geriet. Oder jeder ande­ren repres­si­ven Macht, die es gibt.

 

Bio­gra­phi­sche Angaben

  • Jür­gen K. Hul­ten­reich, gebo­ren 1948 in Erfurt, lebt als frei­schaf­fen­der Schrift­stel­ler und bil­den­der Künst­ler in Berlin.
  • Roland Jahn, gebo­ren 1953 in Jena, ist Bun­des­be­auf­trag­ter für die Unter­la­gen des Staats­si­cher­heits­diens­tes der ehe­ma­li­gen Deut­schen Demo­kra­ti­schen Republik.
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