Sibylle Berg – »GRM. Brainfuck« & Sibylle Berg / Dietmar Dath – »Zahlen sind Waffen«

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Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Jens-F. Dwars

Erstdruck in: Palmbaum - literarisches Journal aus Thüringen, Heft 1/2021. / Alle Rechte beim Autor. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Jens‑F. Dwars

Eine weib­li­che Houellebecq? 
Anmer­kun­gen beim Lesen von Sibylle Berg

 

Mat­thes & Seitz düfte zur Zeit der anspruch­vollste deut­sche Ver­lag sein, der wie einst Wagen­bach und Suhr­kamp der frü­hen sech­zi­ger Jahre die klügs­ten Bücher wie Feu­er­fun­ken aus inne­rer Über­fülle aus sich her­aus­schleu­dert. Vor Jah­ren spielte ich mit dem Gedan­ken frei nach Nietz­sche eine Reihe unter dem Titel sei­ner bes­ten Apho­ris­men­samm­lung zu edie­ren: Fröh­li­che Wis­sen­schaft. Mat­thes & Seitz haben es ein­fach getan. Und ich freu mich dar­über, denn in die­ser Reihe sind exzel­lente Essays erschie­nen wie Geor­ges Batail­les Der Fluch der Öko­no­mie oder Kapi­ta­lis­mus und Todes­trieb von Byung-Chul Han.

Einer der jüngs­ten Bände heißt Zah­len sind Waf­fen und ver­eint drei Gesprä­che über die Zukunft mit Sibylle Berg und Diet­mar Dath. Letz­te­rer hat neben zahl­rei­chen Roma­nen und Thea­ter­stü­cken ein 900-sei­ti­ges Bekennt­nis zu Sci­ence Fic­tion als Kunst- und Denk­ma­schine (Nie­ge­schichte, 2019) geschrie­ben. Auch wenn er recht hat, dass die Linke seit Jahr­zehn­ten die Tech­nik eher ver­dammt, statt sie auf Eman­zi­pa­ti­ons­po­ten­tiale zu befra­gen, und sie damit den Traum von einer bes­se­ren Zukunft als ihr Erbe ver­spielt, inter­es­siert mich SF weni­ger. (In Klam­mern sei nur erwähnt, dass es sich den­noch lohnt, auch das zweite Gespräch, das nur mit Dath geführt wird, zu lesen. Darin gibt er zu beden­ken, »Links-Sein« heiße nicht gegen alle mög­li­chen Dro­hun­gen auf­zu­be­geh­ren, son­dern nichts über sich ent­schei­den zu las­sen, »ohne dass wir da mit­re­den kön­nen« (S. 91) – und die­ses Kön­nen müsse ein dop­pel­tes sein: Mit­re­den zu dür­fen in demo­kra­ti­schen Struk­tu­ren, aber auch sich die Sach­kennt­nis und Urteils­kraft zu erar­bei­ten, um wirk­lich mit­zu­ent­schei­den. Dem ent­spricht sein Fest­hal­ten an Ratio­na­li­tät und Ord­nung als »Vor­aus­set­zung von Frei­heit und Schön­heit« (S. 88). Und schließ­lich hat er voll­kom­men recht mit sei­ner Bemer­kung, dass Indi­vi­dua­li­tät nichts natür­lich Gege­be­nes ist, son­dern etwas sozial Ent­wi­ckel­tes: »Anein­an­der« wer­den die ein­zel­nen zu Indi­vi­duen, in Gesell­schaft ent­fal­ten sie ihre Talente – oder sie ver­küm­mern, wenn sie nicht erkannt und geför­dert wer­den. »Frei­heit ist etwas Gesell­schaft­li­ches« (S. 90) – nicht durch Natur oder gar Besitz gege­ben.) Doch mich inter­es­sierte Sibylle Berg, die im Herbst 2019 den Thü­rin­ger Lite­ra­tur­preis für ihren Roman GRM erhielt (vgl. ihre Dank­rede in Heft 2/20 des Palm­baums), den ich damals nicht gele­sen hatte, weil ich mich wei­gere, Best­sel­ler lesen zu müs­sen, um »en vogue« zu sein.

Umso mehr freut es mich aus dem Gesprächs­bänd­chen zu erfah­ren, dass die Autorin mit den Treib­haus­blü­ten des Lite­ra­tur­be­trie­bes ebenso ver­fährt. Dath und Berg spre­chen beide von »Lite­ra­tur­haus­li­te­ra­tur«, gar von »Lite­ra­tur­li­te­ra­tur«, soll mei­nen von einer Lite­ra­tur, die sich aus sich selbst erzeugt: Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nah­men des in sich selbst krei­sen­den Betrie­bes, einer Selbst­ver­wer­tungs­ma­schine, die nicht mehr über Befind­lich­keits­mo­no­loge hin­aus­kommt, die weder von sozia­len Wirk­lich­kei­ten berührt wird noch selbst die Leser berührt, sie nur in ihren fixen Mei­nun­gen bestä­tigt, aber nicht auf­wühlt, irri­tiert, verunsichert …

So weit, so pro­duk­tiv. Doch sind diese Autoren nicht längst selbst Bestand­teil des von ihnen ref­fend beschrie­be­nen Lite­ra­tur­be­triebs? Immer­hin hat Dath 2009 zusam­men mit Andreas Platt­haus sei­nen fast 1000-sei­ti­gen Roman Für immer in Honig im Frank­fur­ter Lite­ra­tur­haus ein­ge­le­sen. Und auch danach war er gern und oft in Lite­ra­tur­häu­sern zu Gast. Sibylle Berg las ihren Roman GRM, der vom Lite­ra­tur­be­trieb als Best­sel­ler gefei­ert und mit Prei­sen über­häuft wurde, zwar nicht in Lite­ra­tur­häu­sern, aber war ihre aus­ver­kaufte Tour mit einem Grime-Rap­per aus Bir­ming­ham tat­säch­lich etwas ande­res? Ent­spricht die Glas-Was­ser-Lesung für das bür­ger­li­che Publi­kum im Lite­ra­tur­haus nicht struk­tue­rell exakt der Rap­per-Party für die jun­gen Leute in irgend einem ebenso ange­sag­ten Schup­pen? Bei­des ist Pro­mo­tion, bei­des bedient die Erwar­tungs­hal­tun­gen und Bedürf­nisse der jewei­li­gen Publika, bei­des stei­gert den Umsatz, lässt die Autoren von ihrer Schrei­be­rei leben und macht die Ver­lage reich.

Das ist kein Vor­wurf. Solange der Bäcker für sein Brot und der Ver­mie­ter für unse­ren Wohn­raum nicht Bücher in Zah­lung neh­men, müs­sen wir sie ver­kau­fen, um unser Leben zu bestrei­ten. Was eine ver­rä­te­ri­sche Wort­wen­dung ist: wir leben nicht ein­fach, wir bestrei­ten unser Dasein in einem Mit­ein­an­der, das auf grund­le­gen­dem Gegen­ein­an­der beruht. Das sollte man nicht ver­ges­sen und nicht so tun, als sei man nicht Teil einer Wirk­lich­keit, wenn man sie kri­tisch beschreibt. Vor allem dann nicht, wenn man in der Schweiz lebt, dem sichers­ten Depot des inter­na­tio­na­len Kapitals.

Es bringt auch nicht viel, über »diese Scheiß­ge­sell­schaft« her­zu­zie­hen, deren fort­ge­schrit­tene Tech­nik man nicht unkri­tisch über­neh­men dürfe, »weil sie auch Scheiße sind, weil sie näm­lich als Scheiße ent­wi­ckelt wur­den« (S. 30). Das klingt zwar jugend­lich cool, ist aber selbst Sch…

Gera­dezu pein­lich wird es, wenn die Cool­ness in Jugend­slang verfällt:

»LW [Lars Weis­brod]: Ich will einen wich­ti­gen Punkt her­aus­grei­fen und ver­su­chen, ihn kon­kret zu machen – / DD [Diet­mar Dath]: Geil! /LW: – oder noch schlim­mer: per­sön­lich zu machen. / DD: Noch gei­ler!« (S. 32)

Weis­brod ist 36, Dath 51 Jahre alt. Irgend­wann sollte die Puber­tät ein­mal enden.

Sibylle Berg blö­delt im letz­ten Gespräch, das Maja Beckers mit ihr allein führt, zwar auch, Albern­heit sei der Motor, der sie gut gelaunt durch ihr Rest­le­ben führe. Doch man spürt die Not­wehr, den Ernst, der in die­ser Art von »Witz« der 59-jäh­ri­gen mit­schwingt. Auf Beckers Frage, ob sie die weib­lich-linke Vari­ante des männ­lich-rech­ten Michel Hou­el­le­becq sei, ant­wor­tet Berg, nur der feh­lende Penis unter­scheide sie. Weil sie den nicht habe, hätte sie den Ruf einer »zyni­schen Bitch«, denn Frauen stehe »die Anma­ßung einer Welt­erklä­rung nicht zu« (S. 111). Womit sie sich selbst zu eben jener Rolle einer Welt­erklä­re­rin bekennt, die sie mit dem Roman GRM. Brain­fuck zwei­fel­los spielt.

Benannt ist der Roman nach Grime, einer aggres­si­ven Form des Hip-Hop aus der bri­ti­schen Jugend­kul­tur. Es sei, sagt Berg in dem Gespräch, die Musik, die Außen­sei­ter und Unter­pri­vi­le­gierte mit­ein­an­der ver­binde. »Also war es pas­send für mich, den schnel­len Beat von Grime als Takt­ge­ber für mein Buch über genau die Jugend­li­chen zu ver­wen­den, um die es in der Geschichte und der Musik geht.« (S. 112)

Tat­säch­lich fällt diese Eigen­art dem Leser, der Lese­rin von GRM zuerst auf – als Klang- und auch als Satzgebilde:

»Das ist die Geschichte von

Don

Gefähr­der­po­ten­zial: hoch
Eth­nie: unklare Schat­tie­run­gen von nicht-weiß
Inter­es­sen: Grime, Karate, Süßigkeiten (…)

Sie beginnt in Rochdale.

Fuck­ing Roch­dale. Ein Ort, den man aus­stop­fen und als War­nung vor unmo­ti­vier­ter Bau­tä­tig­keit in ein Museum stel­len müsste.«

Was für ein groß­ar­ti­ger Beginn: kraft­voll, tro­cken, wit­zig, eine Wort-Stak­kato-Musik. End­lich wie­der ein durch­kom­po­nier­ter Text, seit Tho­mas Bern­hards spä­ten Roma­nen der erste in deut­scher Spra­che. So dachte ich und war von den ers­ten Sei­ten begeis­tert. Denn nun erst gab sich die Struk­tur des Romans als Teil sei­ner Geschichte zu erken­nen, erwie­sen sich Form und Inhalt als ein und das­selbe: als Aus­druck einer Gesell­schaft, in der die ein­zel­nen zu Dos­siers ver­kom­men, zu Daten, die den Pro­gram­mie­rern einer Megama­schine zum Roh­ma­te­rial die­nen, um das Ganze effi­zi­ent, d.h. so stö­rungs­frei wie mög­lich, am Lau­fen zu lassen.

Ein­ge­wo­ben in die­ses Ganze, quasi als Sand im Getriebe, eine Kin­der­gang: Don, die sich die Mus­keln eines Kerls antrai­niert, die schöne Han­nah, die hoch­be­gabte Karen, die Viren züch­ten wird, um die Män­ner vom Tes­te­ron zu befreien, und Peter, der hyper­sen­si­ble Albino aus dem Osten. Sie beschlie­ßen, sich an ihren Pei­ni­gern zu rächen: an prü­geln­den Stief­vä­tern, Ver­ge­wal­ti­gern und Müt­tern, die ihre Kin­der im Stich las­sen. Wenn Sibylle Berg sich allein auf diese Rache-Geschich­ten kon­zen­triert hätte, wäre ein span­nend-mit­rei­ßen­des Buch dar­aus gewor­den. Doch lei­der wollte sie mehr und erreicht dadurch weni­ger. Die Rache-Akte wer­den irgend­wann nur noch halb­her­zig ver­folgt, den Kin­dern seien sie selbst egal und so fla­ckern sie kurz als Bil­der in einem Pan­orama auf, das sich ver­selb­stän­digt. Berg will nicht Ein­zel­schick­sale, son­dern eben »die Welt« erklä­ren. Das ist sym­pa­thisch, aber auf Dauer ermü­dend. Gerade weil sie nicht wütend abrech­net. »Das ist keine Dys­to­pie. Es ist die Welt, in der wir leben.« Heißt es auf dem Buch-Cover. Und tat­säch­lich ver­län­gert sie nur, was sich heute bereits abzeich­net: Die Mög­lich­kei­ten einer Total­über­wa­chung mit­tels digi­ta­ler Tech­nik bei gleich­zei­ti­ger Selbst­dis­zi­pli­nie­rung durch ein sozia­les Kre­dit­sys­tem, wie es in China prak­ti­ziert wird. Was auf den ers­ten Blick wie eine Col­lage anmu­tet, indem die Geschich­ten kurz ange­ris­se­ner Figu­ren inein­an­der ver­zahnt wer­den, erweist sich als ein Puz­zle, des­sen Teile das vor­aus­ge­setzte und kein ande­res Bild erge­ben: Die Men­schen sind dumm, ihre Triebe ein­fach zu berech­nen, irgend­wann wer­den sie von genop­ti­mier­ten Nach­kom­men abge­löst, spä­tes­tens von der Künst­li­chen Intel­li­genz. »Alles wie gehabt, mit weni­ger Natur. Alles wie gewohnt, nur unter Kon­trolle. Die Unru­hen sind vor­bei.« (S. 628)

Eine Col­lage lebt aber von ech­ten Ris­sen, wie alles Wirk­li­che, das sich nie auf ein deckungs­glei­ches Gesamt­bild brin­gen lässt. Durch die Risse und Brü­che blitzt das anders Mög­li­che. Das wäre die Hoff­nung, die Berg im Gespräch per Nega­tion andeu­tet: »Dass die Men­schen zu allen Zei­ten dach­ten, das Ende der Welt wäre nah.« (S. 116)

  • Sibylle Berg. GRM. Brain­fuck. Roman, Kie­pen­heuer & Witsch, Köln 2019.
  • Sibylle Berg / Diet­mar Dath. Zah­len sind Waf­fen, Mat­thes & Seitz, Ber­lin 2021.
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