Radjo Monk – »Zwischen Baum und Borke«

Person

Radjo Monk

Ort

Frauenwald

Thema

Jede Woche ein Gedicht

Autor

Radjo Monk

in: Existenzschmuggler, Gedichte, Edition Muschelkalk, Bd. 51, Leipzig 2020. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Zwi­schen Baum und Borke

Memo Frau­en­wald, Som­mer ’89

 

Hans trennte in sei­ner Säge­mühle Baum von Borke.
In sei­nem Büro stand die Sorte Wodka, die er bei
sowje­ti­schen Offi­zie­ren gegen Die­sel tauschte.
Der Preis für einen Kof­fer­raum voll Bret­ter war,
die Fla­sche mit ihm zu lee­ren und ihm zuzuhören

dem gleich­mä­ßig schnei­den­den Blatt: Künftige
Tage lagen schon bei den Spä­nen, frisch duftender
Ver­schnitt. Hans hielt sein Glas gegen das Licht
und sagte: »Die Rus­sen sind in Ord­nung, aber paßt auf,
mit wem ihr redet. Das Haus gegen­über ist ein
Pfef­fer­ku­chen, da wohnt die Hexe mit dem
Pro­to­koll: Wir sind hier mit­ten in der Staatsjagd.«

Nach den drit­ten schto Gramm stellte Hans
unsere Berufe fest, als habe er Jahresringe
mit dem fla­chen Dau­men gezählt und mahnte:
»Wenn die Diplo­ma­ten kom­men, kom­men auch
die Schnüff­ler, und dann ist es bes­ser, ihr bleibt,
wo ihr seid.«

Wo sind wir zwi­schen Baum und Borke?
Ist das der Sinn der Staats­jagd: Büchsenlicht
als Zustand, jeder kann ver­wech­selt und zum
Abschuß frei­ge­ge­ben werden?

Am nächs­ten Tag zim­merte ich eine Bank.
Du lagst an der Quelle und hast das Gras
buch­sta­biert. Plötz­lich hörte ich deine Stimme
rufen: »Du, die Mauer wird fallen!«
Mir war grad eine Schraube abge­bro­chen, und ich
fragte mich, in wel­che Rich­tung die Mauer fallen
würde, wenn überhaupt.

Freunde kamen, nah­men Abschied für immer,
mit leich­tem Gepäck unter­wegs Rich­tung Ungarn.
Über Wald­wege husch­ten braune Trainingsanzüge:
Offi­ziere aus dem NVA-Heim mach­ten sich fit für
den End­spurt nach Berlin/West.

Das ahn­ten wir in jenem Som­mer nicht und hielten
es für undenk­bar, daß uns Jahre spä­ter auf gleichen
Wald­we­gen Asy­lan­tin­nen aus Char­kow oder Omsk
begeg­nen wür­den, ebenso stumm wan­delnd wie einst
die FDGB-Urlau­ber, abwe­send der Spur der Späne
fol­gend, gestreut von Hans und Hänschenklein.

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