Peter Neumann – »Reise nach Loreto«

Person

Peter Neumann

Thema

Wasser – Wald – Asphalt

Autor

Peter Neumann

Alle Rechte beim Autor Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Das Wort, das meine Freun­din Uta suchte, hieß rum­sch­lum­pern, und ich wusste auf Anhieb, was sie damit meinte, bei uns im Nor­den sagte man Strö­pern statt Strom­ern, aber der Ton­fall war der­selbe: Man hatte sich her­um­ge­trie­ben und kam zu spät. Zuge­ge­ben, ich weiß nicht mehr, was zuerst da war, das Strö­pern oder ich. Zuerst war da wohl der Park an der Schule, die Fle­cken und Tei­che. Noch bevor ich mich für Bücher zu inter­es­sie­ren begann, hatte ich durch das Strö­pern gelernt, in ihnen zu lesen. Ich brauchte nur den Spu­ren zu fol­gen, den ver­steck­ten Hin­wei­sen und Bot­schaf­ten. Vor und unter mir blät­ter­ten sich die Land­schaft auf: Da gab es Höh­len in still­ge­leg­ten Bahn­däm­men, Löcher in ver­ros­te­ten Zäu­nen, durch die man hin­durch­schlüp­fen konnte. Ich folgte Wild­schwein­fähr­ten, Warn­schil­dern, Wacht­pos­ten, den Weg­zei­chen am toten Ende der Straße. Sollte jemals an die­sem Ort Geschichte geschrie­ben wor­den sein, hatte sie mit der blu­ti­gen Erobe­rung der Stadt durch die kai­ser­li­chen Trup­pen unter Gene­ral Tilly 1631 geen­det. Jetzt lagen Park und Fleck und Teich und die vier Tore da, bis auf Wei­te­res geschlos­sen. Die Müh­len ver­kohlt, die Brü­cken abge­wor­fen, die Fel­der von Sol­da­ten­stie­feln zer­tram­pelt. Tilly hatte sich an die Elbe zurück­ge­zo­gen und den Schwe­den die Stadt über­las­sen. Die Call­cen­ter- und Spaß­bad­be­trei­ber kamen erst Ende der Neun­zi­ger­jahre ins Land. Inzwi­schen hatte man gelernt, das Fech­ten zu unter­las­sen und sich auf Accord zu erge­ben. Hun­dert Fass Bier und tau­send Pfund Brot, die Mau­ern hät­ten keine zwo Stun­den gehal­ten. Post­his­to­risch, irgend­wie. Das Wort kannte ich damals noch nicht. Ich wusste nur: Ich musste mich beei­len, ich kam auch dies­mal zu spät.

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Geschichts­schrei­ber sind Maul­esel­trei­ber. Wenn es nach ihnen ginge, wür­den sie die Geschichte am liebs­ten wie ein Maul­esel vor sich her­trei­ben. Immer der Nase nach. Ohne den Kopf nach rechts oder links zu wen­den. Von Rom nach Loreto. Mit genauer Angabe der Ankunfts­zeit in den Mar­ken. Aber zum Glück kön­nen Maul­esel stör­ri­sche Tier sein, unbe­re­chen­bare Köpfe, wie Lau­rence Sterne in sei­nem Tristram Shandy schreibt. Ehe sich der Geschichts­schrei­ber ver­sieht, wird der Maul­esel vom Weg abwei­chen, hier Halt machen und dort­hin mar­schie­ren. Was­ser sau­fen, Stroh fres­sen, aus­tre­ten. Und der Geschichts­schrei­ber wird dem Esel­chen fol­gen. Und auf die­sen Ab- bzw. Umwe­gen wird er eine Ent­de­ckung machen, die seine Arbeit als beflis­se­ner Chro­nist ver­än­dert: Er wird das Mate­rial ent­de­cken, aus dem die Geschichte gemacht ist: Nach­rich­ten und Anek­do­ten, Inschrif­ten und Über­lie­fe­run­gen, Lob­re­den und Pas­quil­len. Er wird immer tie­fer in die Archive vor Ort ein­drin­gen, sich Lis­ten ver­schaf­fen, neue erstel­len. Er wird Biblio­the­kare auf Lücken hin­wei­sen, sich ver­lau­fen, ver­zet­teln, unru­hig wer­den. Bis­her wusste er von Peter Glücks­pilz und Hans Däum­ling gerade so viel wie sein klei­ner Fin­ger, und selbst der wusste nicht viel. Außer, dass er ein klei­ner Fin­ger an einer bedeu­tend zu gro­ßen Hand war. Schon bald wird es ihm in den Archi­ven nicht mehr auf die Funde ankom­men, die er macht. Glück­li­che Funde, namen­lose Erzäh­ler, die ihre Geschich­ten von Mund zu Mund rei­chen. Da aber das Loreto-Prin­zip in der Mathe­ma­tik bis­lang noch nicht for­mu­liert wurde, wird auch ein Blick in die Sekun­där­li­te­ra­tur vor Ort nicht hel­fen. Selbst Urlaub zu neh­men, wird schwer. Der Maul­esel­trei­ber wird über den Schrif­ten, Urkun­den und Doku­men­ten, den end­lo­sen Stamm­bäu­men, so tief im Mate­rial ver­sin­ken, dass er irgend­wann ver­ges­sen haben wird, warum er von Rom los­ging. Er schläft unter dem Zelt sei­ner Lese­lampe und wünscht, bis auf Wei­te­res nicht gestört zu wer­den. Wäh­rend seine Eltern in Loreto mit dem Abend­essen auf ihn war­ten, wird er immer neue Rol­len, Map­pen und Foli­an­ten anfor­dern und durchforsten.

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Zuge­ge­ben, ich weiß nicht, was zuerst da war, das Strö­pern oder ich. Es gibt zahl­lose Arten, sich zu Fuß durchs Land zu bewe­gen: Spa­zie­ren­ge­hen natür­lich, Wan­dern, Fla­nie­ren, Pro­me­nie­ren. Wer Monty Pythons Film­klas­si­ker The Minis­try of Silly Walks kennt, wird die Reihe um etli­che andere, teils kuriose, teils tra­gi­sche, noch ganz und gar unbe­nannte For­men der peda­len Fort­be­we­gung ergän­zen kön­nen. Keine Gang­art ist es aber viel­leicht so eigen­sin­nig und so erkennt­nis­reich wie das Strö­pern, ein Umher­strei­fen, Her­um­strol­chen, Streu­nen. Ver­wandt ist das Strö­pern nicht nur sprach­ge­schicht­lich mit dem Land­strei­cher, dem Strolch. Das Strö­pern braucht kei­nen Füh­rer, es braucht noch nicht ein­mal einen Plan. Das Strö­pern befin­det sich immer schon mit­ten im Gelände. Der Gang übers Land ist nicht immer und not­wen­dig der Höl­der­lin­sche Gang aufs Land, bei dem die Land­lust so rich­tig in Fahrt kommt. Auch begibt sich das Strö­pern nicht auf den Hei­deg­ger­schen Feld­weg, der den Fuß auf wen­di­gem Pfad durch die Weite des kar­gen Lan­des lei­tet, um im Rhyth­mus der Schritte des Land­manns frisch geer­det die Welt­rät­sel der gro­ßen Den­ker zu lösen. Gemeint ist mit dem Strö­pern auch nicht der Müßig­gang, Eichen­dorffs Tau­ge­nichts, dem man am Wochen­ende auf sei­nen Streif­zü­gen durch das Bio­sphä­ren­re­ser­vat Schorf­heide begeg­net. Das Strö­pern ist ein Fähr­ten­le­sen, ein atmo­sphä­ri­sches Ab- und Vor­an­tas­ten, ein Aus­le­sen der in die Land­schaft ein­ge­la­ger­ten Geschichte. Nichts von den Erzäh­lun­gen, die einer Land­schaft ein­ge­schrie­ben sind, steht auf den Infor­ma­ti­ons­ta­feln am Weges­rand. Aber sie wer­den les­bar in den abge­fa­ckel­ten Bara­cken und Lau­ben, der Bahn­stre­cke, die nicht mehr im Betrieb ist, an den win­zi­gen his­to­ri­schen Inter­punk­tio­nen, die einer Gegend ihren Rhyth­mus geben. Es geht dem Strö­pern nicht um Relikte, es arbei­tet nicht an einem Ver­gan­gen­heits­in­ven­tar. Es ver­sucht nicht, das noch Bestehende fest­zu­hal­ten, ehe es für immer aus dem Blick ver­schwin­det. Dafür ist es zu spät. Das Strö­pern ist weni­ger ein De- als ein Rechif­frie­ren von Räu­men und Zei­ten. Die Ver­gan­gen­heit besteht nicht aus Scher­ben, son­dern dem Streit, der herrschte, als der Krug vom Tisch geschla­gen wurde und zer­brach. Von den am Strand auf­ge­le­se­nen Muscheln heißt es, man könne das Meer in ihnen hören. Man braucht nur eine Scherbe ans Ohr zu legen und hörte den Krug immer noch fallen.

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Der Legende nach soll das Haus, in dem Maria gebo­ren wurde, von Engeln in die Luft geho­ben und nach Loreto trans­por­tiert wor­den sein. Dort steht es noch heute: ein 9,25 x 4,1 Meter gro­ßer Raum, 5 Meter in der Höhe. Mit einem win­zi­gen Fens­ter. Durch die­ses Fens­ter soll sich der Erz­engel Gabriel hin­durch­ge­zwängt und Maria ver­kün­det haben, sie habe vom Hei­li­gen Geist den Sohn Got­tes emp­fan­gen und werde ihn gebä­ren. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Das Loreto-Prin­zip besagt, es sei einem His­to­ri­ker, der sich von Rom auf die Pil­ger­reise nach Loreto begibt, unmög­lich, sein Ziel je zu errei­chen. Er geht unwei­ger­lich ver­lo­ren. In Europa gibt es unzäh­lige Loreto-Kapel­len. Mehr als sie­ben­hun­dert Jahre machen sich nun schon Pil­ger auf die Reise zur Santa Casa. Und sel­ten, ganz sel­ten, kreuzt dabei auch ein schwer bepack­ter Maul­esel ihren Weg.

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Zuge­ge­ben, ich weiß nicht, ob meine Eltern damals ahn­ten, in wel­cher Gefahr ich schwebte. Man konnte von Glück spre­chen, dass ich den Weg zurück­fand. Es wäre mög­lich gewe­sen, ich wäre gar nicht mehr aus dem Strö­pern her­aus­ge­kom­men. Die Frage war nicht, ob ich pünkt­lich oder zu spät nach Hause kam, ob das Abend­brot schon auf dem Tisch stand oder nicht. Das Strö­pern ließ sich nicht abstel­len. Dem Strö­pern erging es bei sei­nen Land­schafts­durch­que­run­gen wie dem klei­nen Muck, der im Haus der Frau Ahavzi in seine Sie­ben­mei­len­stie­fel fährt und nicht weiß, wie ihm geschieht. Nicht nur tra­gen den klei­nen Muck seine viel zu gro­ßen Zau­ber­pan­tof­fel immer wei­ter hin­aus vor die Stadt. Muck kann gar nicht auf­hö­ren zu lau­fen, es scheint, als würde er von einer unsicht­ba­ren Gewalt fort­ge­ris­sen. Erst ein hilf­lo­ses und in höchs­ter Not her­aus­ge­schrie­nes Oh – oh, halt, oh! gebie­tet den Schu­hen Ein­halt und bringt den Jun­gen zum Ste­hen. Völ­lig erschöpft wirft sich Muck in den Wüs­ten­sand und reißt sich die Zau­ber­pan­tof­fel von den Füßen. Er ist so müde, dass er in einen tie­fen Schlaf fällt, aus dem er erst am fol­gen­den Tag erwacht. Da ist es bereits zu spät. Auch er wird den König­li­chen nicht mehr zur Hilfe eilen kön­nen. Nie­mand kann das. Kapi­tän Pflug ver­tei­digt die Stadt, bis ihn eine Mus­ke­ten­ku­gel direkt in den Kopf trifft. Wie ein Brett kippt der Cap­tain zur Seite, die Augen ver­dreht. Er ist auf der Stelle tot. Die ande­ren Offi­ziere wer­den mit Degen am Boden fixiert, mit Pul­ver bestreut und ange­zün­det. Es gibt kein Par­don. Die Gna­den­ge­su­che, die im Call­cen­ter ein­ge­hen, wer­den ent­ge­gen­ge­nom­men, aber nicht erhört. Dann fal­len die Sol­da­ten ein, mau­sen und plün­dern und rau­ben. Bis­her hatte der Krieg einen Bogen um diese Gegend im äußers­ten Nord­os­ten geschla­gen, jetzt war er da. Meine Eltern ahn­ten nichts. Wer wollte ihnen schon erklä­ren, dass auf der ande­ren Seite der Vier­tel­stunde, die ich zu spät kam, die kai­ser­li­chen Trup­pen des Herrn Gene­ral Tilly auf mich war­te­ten. Ich sagte nichts, setzte mich an den Tisch, nahm eine Scheibe Schwarz­brot und hörte die Geschütze noch lange rechts und links an mir vorbeipfeifen.

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