Peter Neumann – »Räumung«

Person

Peter Neumann

Ort

Weimar

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Peter Neumann

»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

Aus­la­den: die Woh­nung konnte sich über­all befin­den, am Rande der Stadt, im Zen­trum, an einer Umge­hungs­straße, in einem Vil­len­vier­tel, das Zim­mer, in dem ich saß, hatte etwas Zeit­lo­ses an sich, und gerade weil es so ohne Zeit war, ohne Zeit aus­kam, hatte die Woh­nung etwas von einem Ort, der sich mit jedem Tag wei­ter, unmerk­lich von sei­ner Umge­bung ablöste. Den gan­zen Nach­mit­tag hatte ich Umzugs­kar­tons aus­ge­packt, Bücher vor allem, Geschirr, Unter­la­gen, die Wasch­ma­schine ange­schlos­sen, die Möbel zurecht­ge­rückt. Vor mei­nem Küchen­fens­ter die Straße hin­un­ter der His­to­ri­sche Fried­hof, auf Augen­höhe das Gold und die Kup­pel der rus­sisch-ortho­do­xen Kapelle, kaum Besuch. Es ist Februar und du fühlst, der Wind drückt gegen die Scheibe. Du hörst sein Gewicht und siehst, wie die Dinge drau­ßen sich ver­ein­zeln. Seit zwei Wochen so ein bit­te­rer Geschmack, die Lip­pen ganz tro­cken. Da musst du Öl zie­hen! Das Öl in alle Lücken, Spal­ten, Zwi­schen­räume sickern las­sen, Druck auf­bauen, in die Zahn­fleisch­taschen pres­sen, hin und her spü­len, auf der Zun­gen­spitze, sagt man, sei das Herz loka­li­siert. Das Ölzie­hen hatte sich bei mir zu einer Art Sucht ent­wi­ckelt. Vor jeder Mahl­zeit ließ ich das kalt­ge­presste Sesamöl zwan­zig Minu­ten im Mund krei­sen. Danach fühlte ich, wie sich mein Mund­raum aus­dehnte, geräu­mig wurde, so viel Ober­flä­che war da auf ein­mal. Ein ast­rei­ner, kugel­run­der Raum. Nebenan lief die Wasch­ma­schine, viel zu lange schon, ich hatte nicht auf die Uhr gese­hen, aber kaum war der Schleu­der­gang vor­über, das Was­ser abge­saugt, zog die Maschine schon wie­der neues Was­ser an, der Pro­gramm­wahl­schal­ter war ste­hen­ge­blie­ben, der lichte Punkt zwi­schen 3 und 4. Und wie­der hörst du, wie das Was­ser durch den Schlauch in die Maschine rauscht. Schon auf der Treppe hin­un­ter ins Freie: die Trom­mel setzt ein, eine Umdre­hung, zwei. Als ich am Abend über den Fried­hof gegan­gen war, über die mit Lin­den bepflanzte Haupt­al­lee, war mir auf­ge­fal­len, dass sich his­to­ri­sche Fried­höfe oft in wohl­ha­ben­den Stadt­vier­teln befan­den. Man wollte da sein, wo die Toten lie­gen. Da sein, wo Ver­gan­gen­heit war. Das Tot­sein war eine Erin­ne­rung daran, man hatte Geschichte: Hof­buch­bin­der, Hofsatt­ler­meis­ter, Groß­her­zog­li­cher Regie­rungs­rat, das waren doch alles Berufe. Links des Weges, rechts des Weges. Her­un­ter­ge­fal­lene Kreuze, in den Boden ein­ge­wach­sene Kreuze, Grab­ker­zen. Der ein­zige Ort, an dem die Stadt genau das sein konnte, was sie schon immer war: Mit­tel­punkt einer unend­li­chen Peri­phe­rie. Ich war an der öst­li­chen Fried­hofs­mauer ent­lang gegan­gen, da wo nie­mand geht, auf der ande­ren Seite, da liegt Fami­lie Goe­the, Walt­her, Otti­lie und Wolf­gang, hier aber lie­gen die Quer­ners. Geschlech­ter kom­men und gehen. Zwi­schen den älte­ren Grä­ber­rei­hen hin­durch ein jün­ge­res Grab, über und über bestückt mit Goe­the-Zita­ten. Der Faust in End­los­schleife: zieht uns hinan / ihr naht euch wie­der. Moos­be­wach­sene Grä­ber, Kreuze und Qua­der. Pro­fil­bil­der, seit Jah­ren nicht mehr aktua­li­siert. Diese Grab­stätte ist zur Räu­mung ange­fal­len Ange­hö­rige wol­len sich mel­den. Und das Grab der Vul­pius, ach, auf dem ande­ren, rich­tig. Was pas­siert mit mei­nem Face­book-Account, wenn ich sterbe? Gibt es einen Erben für mein Pro­fil, einen Nach­lass­ver­wal­ter, einen Video-Grab­stein, QR-Code, gibt es Digi­tal­fo­tos in End­los­schleife und ein Solar­dach überm Grab? Es schep­perte. Als ich auf­blickte, sah ich, dass hier wohl jemand sei­nen Haus­müll ent­sorgte. Die Abfall­be­häl­ter auf dem Fried­hof sind tief, in Got­tes­frie­den über­la­den: Bin­den, Kränze, Schel­lack­plat­ten. Eine ältere Dame beim Blu­men­schnei­den. Guck mal hier, wir machen mal da. Nu küter ma nicht so rum! Mein Smart­phone leuch­tete auf, eine Whats­ap­p­nach­richt: wie es mir gehe. Ahnun­gen erfül­len sich und sind auch nur da, um in Erfül­lung zu gehen. Die Wenigs­ten sagen, ich habe da etwas fal­sches geahnt, die meis­ten sagen, das hab ich doch geahnt oder erset­zen das Ahnen durch das Sagen, das hab ich doch gesagt, sagt man. Auch Wie­lands­chris­toph hatte ahnend pro­phe­zeit, einen treuen Men­schen, der sich des frem­den wie des eige­nen Glücks erfreut. Kein Dich­ter war des gro­ßen Dich­ters Sohn. Aus­gang am Pos­eck­schen Gar­ten. Der Ort, wo die Toten auf­be­wahrt wur­den, drei Tage. Das erste öffent­li­che Lei­chen­haus! Ker­zen, Grab­ge­binde, Wasch­schüs­seln. Und eine Spann­vor­rich­tung mit Glöck­chen, sodass bei der gerings­ten Bewe­gung ein Signal im Wach­raum ertönt. An hei­ßen Som­mer­ta­gen soll ein Kräu­ter­wer­fer durchs Dorf gekom­men sein. Hier aber mal Abstand hal­ten bitte! Kat­zen­minze hilft, Zitro­nen­me­lisse auch, kommt ganz auf den Gar­ten an und die Tiere. Duft­kräu­ter für die Toten! Als ich die Woh­nungs­tür wie­der auf­schloss, war die Wasch­ma­schine noch immer im Schleu­der­gang: ein For­mel­eins­wa­gen auf dem Weg aus der Boxen­gasse. Unru­hige Nacht. Wie es mir gehe? Ich ver­suchte mir vor­zu­stel­len, wie es wäre, leben­dig begra­ben zu sein. Mitte inne ein Herz, das sich in völ­li­ger Dun­kel­heit auf­pumpt. Ich war wie­der auf­ge­stan­den und in die Küche gegan­gen. Vor der Tür hörte ich jeman­den die Trep­pen hin­auf­ge­hen, Stufe für Stufe. Vom Fens­ter aus sah ich, wie ein Klein­trans­por­ter die Straße hin­un­ter- und auf das Haus zuge­fah­ren kam, in dem ich wohnte. Mit­ten auf der Straße hielt er an. Zwei Män­ner stie­gen aus, der Fah­rer ließ den Motor lau­fen. Ich konnte zwar noch erken­nen, dass es ein Fiat Ducato war, her­un­ter­ge­kom­men, abge­fuckt, aber plötz­lich merkte ich, wie sich die Woh­nung von mir fort­be­wegte, wie sich das alles, Kühl­schrank, Kom­mode, Wasch­ma­schine, immer wei­ter von mir ent­fernte. Irgend­wann dann der Mor­gen durch die breit­flüg­lig geöff­ne­ten Fens­ter. Etwas, das du gar nicht erwar­tet hast: eine gren­zen­lose Aus­sicht. Ein Pri­vat­grund­stück nur für Autos, Hunde dür­fen da nicht mit­ge­führt wer­den, ein befes­tig­ter Schot­ter­platz und eine hoch­auf­ge­schos­sene Kie­fer. Durch das Glas­auge der Wasch­ma­schine, dann und wann ein bun­tes Stück Wäsche.

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