László Krasznahorkai – »Herscht 07769. Florian Herschts Bach-Roman«

Person

Ulrich Kaufmann

Ort

Kahla

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrich Kaufmann

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum 1/2022.

Ulrich Kauf­mann

»Die Hoff­nung ist ein Feh­ler« – Ein Ungar besich­tigt die Ost­thü­rin­ger Provinz

 

Der 1954 in Ungarn gebo­rene László Kraszn­ahor­kai, viel­fach preis­ge­krön­ter Autor, »einer der inno­va­tivs­ten Schrift­stel­ler Euro­pas« (Klap­pen­text) hat einen in vie­ler Hin­sicht beson­de­ren, ver­stö­ren­den Erzähl­text geschrie­ben. In nur einem Satz, der sich über 410 Sei­ten erstreckt, schil­dert der Autor sati­risch und beklem­mend Zustände in der thü­rin­gi­schen Klein­stadt Kana. Man muss kein geo­gra­fi­sches Ass sein, um bald Kahla zu erken­nen: Das Por­zel­lan­werk und die Leuch­ten­burg wer­den erwähnt, die Fahr­ten in die nahe­ge­le­gene Groß­stadt Jena (deren Name im Klar­text erscheint) spie­len eine wich­tige Rolle. Schon der Titel »Herscht 07769« sen­det dem Leser ein ers­tes Signal. Kahla hat die Post­leit­zahl 07768.

Flo­rian Herscht, der Prot­ago­nist, ist ein »spin­ner­tes Wai­sen­kind« und zugleich ein Hühne. Der etwas ein­fach Gestrickte will mit allen im Städt­chen gut zurecht­kom­men. Wegen sei­ner Beschei­den­heit, vor allem wegen sei­ner Hilfs­be­reit­schaft wird er all­seits geschätzt. Der namen­lose »Boss« besorgt ihm eine unter­be­zahlte Arbeit und eine beschei­dene Woh­nung. Durch den Boss gerät er in die »Ein­heit«. Fast täg­lich schlägt der Vor­ge­setzte sei­nen Knecht, im Auto wird Flo­rian stets gezwun­gen, zu Beginn des Tages die Natio­nal­hymne anzu­stim­men. Nicht im Gerings­ten begreift der Held, dass er unter die Kanaer Nazis gera­ten war.

Einen Gegen­pol zu dem Boss bil­det der Leh­rer Adrian Köh­ler, der Flo­rian viele natur­wis­sen­schaft­li­che Anre­gun­gen gibt, die sei­nen Schütz­ling und glei­cher­ma­ßen den Leser ver­stö­ren und ver­wir­ren. Alles, was Herscht beun­ru­higt, glaubt er wie­der­holt der Phy­si­ke­rin und Poli­ti­ke­rin Dr. Ange­lika Mer­kel brief­lich mit­tei­len zu müs­sen. Obwohl die ver­ehrte Kanz­le­rin nie­mals auf seine Briefe ant­wor­tet, lädt er sie nach Kana ein. Mit einem Pla­kat war­tet er ver­ge­bens auf dem abge­stor­be­nen Bahn­hof auf sie. Auch in Ber­lin glückt keine per­sön­li­che Begegnung.

In sei­ner Infan­ti­li­tät hin­ter­fragt Herscht nie­mals den Sinn sei­ner Arbeit. In aller Frühe rückt er mit dem Boss aus. In Thü­rin­ger Städ­ten besei­tigt Herscht nächt­li­che Schmie­re­reien. Auf­fal­lend oft sind sie in Bach-Orten. Den gro­ßen Musi­ker schätzt der Boss – vor allem als gro­ßen Thü­rin­ger, als gro­ßen Deut­schen. Spä­ter wird klar, dass die Nazis selbst die Schmier­fin­ken waren.

Den Leser könnte zusätz­lich ver­un­si­chern, dass der Autor seine Erzäh­lung gar einen »Bach-Roman« nennt. Die Kanaer Sin­fo­ni­ker ver­su­chen sich lange und ver­geb­lich – groß­zü­gig unter­stützt vom Boss – ein Bach-Kon­zert zur Auf­füh­rung zu brin­gen. Am Ende gelin­gen wenigs­tens einige Schun­kel­lie­der. Flo­rian, der von Musik und Bach nicht das Geringste ver­steht, nimmt an jeder Probe des Orches­ters teil, spä­ter gar aus eige­nem Antrieb.

Da der Boss stän­dig von Johann Sebas­tian Bach spricht, beginnt auch Herscht, sich die­ses Kom­po­nis­ten anzu­neh­men. Bis zum bit­te­ren Ende sei­nes Lebens / des Tex­tes hört Flo­rian Musik, immer ist es die von Bach.

Nach den hier ange­deu­te­ten sati­risch-gro­tes­ken Par­tien schlägt der Erzähl­ton um. Herscht muss erfah­ren, dass seine »Kame­ra­den« aus der »Ein­heit« Mör­der und Ter­ro­ris­ten sind: Eine ARAL-Tank­stelle, die von Zuge­reis­ten geführt wurde, mit denen Flo­rian befreun­det war, wird abge­fa­ckelt. Herscht taucht unter, lebt wie ein Tier, kommt als ein ande­rer zurück. Sein Welt­bild ist zer­trüm­mert. Die frag­wür­di­gen Kon­se­quen­zen, die Herscht dar­aus zieht, soll der Leser selbst erfah­ren und bewerten.

Auch for­mal han­delt es sich hier um einen beson­de­ren Erzähl­text. Die 13 Kapi­tel­über­schrif­ten wer­den naht­los in den Lang­satz ein­ge­fügt. Was mit­un­ter wie eine ver­meid­bare Wie­der­ho­lung wirkt, ist immer­fort ein Wech­sel in der Erzähl­per­spek­tive. Die Spra­che der Nazis zeich­net sich dadurch aus, dass in ihren Wor­ten ganze Sil­ben feh­len, die der Leser ergän­zen kann: »Sch(…) schwuch­teln«, »v(…) dammt« usw. Auch die­ses Stil­mit­tel dürfte für die preis­ge­krönte Über­set­ze­rin Heike Flem­ming nicht leicht zu über­tra­gen gewe­sen zu sein.

Ingo Schulze hat in Kraszn­ahor­kais Buch »den deut­schen Roman« ent­deckt. »Du lachst und du staunst und du zit­terst«, notierte Cle­mens Meyer.

 

  • László Kraszn­ahor­kai: Herscht 07769. Flo­rian Herschts Bach-Roman, Roman, aus dem Unga­ri­schen von Heike Flem­ming., S. Fischer Ver­lag,  Frank­furt am Main 2021, 410 Seiten.
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