Literatur aus Buchenwald
14 : Leonhard Steinwender – »Die Stimme des Rufenden in der Wüste«

Ort

Gedenkstätte Buchenwald

Thema

Thüringen im literarischen Spiegel

Autor

Leonhard Steinwender

Leonhard Steinwender: »Christus im KZ. Wege der Gnade und des Opfers«, Otto Müller Verlag, Salzburg 1946, S. 83-89; © by Rupertusblatt – Wochenzeitung der Erzdiözese Salzburg. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von »Rupertusblatt – Wochenzeitung der Erzdiözese Salzburg«.

Eine heroi­sche Gestalt, zu der das ganze Lager mit ehr­fürch­ti­ger Bewun­de­rung auf­schaute, war der evan­ge­li­sche Pfar­rer Schnei­der aus dem Huns­rück. Am 1. Mai 1938 wurde am Turm über dem Ein­gangs­tor des Lagers erst­ma­lig im Bei­sein der Häft­linge die Haken­kreuz­fahne gehißt. In lan­gen Rei­hen stan­den die Gefan­ge­nen. Es herrschte tie­fes Schwei­gen, bis das Kom­mando erklang: »Müt­zen ab!« In den ers­ten Rei­hen sei­nes Blocks, ganz in der Nähe des Tores, unmit­tel­bar vor dem Dienst­ha­ben­den der Lager­füh­rung, hatte Pfar­rer Schnei­der sei­nen Platz. Ein Zug har­ter und ent­schlos­se­ner Ener­gie stand  auf sei­nem mar­kan­ten Gesicht. Er konnte es mit sei­nem Gewis­sen nicht ver­ei­nen, ein Sym­bol zu grü­ßen, das im inners­ten Wesen und nach der letz­ten Aus­strah­lung unchrist­lich war. So stand Pfar­rer Schnei­der allein in stram­mer Hal­tung mit bedeck­tem Haupte vor der gehiß­ten Flagge. Man mag über diese Hal­tung den­ken, wie man will. Kein Häft­ling hatte schließ­lich einen freien Wil­len, kei­ner beugte sich mit inne­rer Zustim­mung vor dem Geß­ler­hut. Für Pfar­rer Schnei­der aber war diese Gruß­ver­wei­ge­rung bewuß­ter Aus­druck sei­nes Bekennermutes.

Er wurde in den Bun­ker geschleppt, das berüch­tigte Gefäng­nis im Lager, das er nicht mehr ver­las­sen sollte. Drei­zehn Monate erlitt er die Qua­len die­ser sadis­ti­schen Son­der­be­hand­lung. Häft­linge, die mit ihm vor­über­ge­hend die Zelle teil­ten, waren erschüt­tert von der See­len­größe die­ses tap­fe­ren Man­nes. Trotz der Hun­ger­kost, die kaum hin­reichte, das Leben zu fris­ten, ver­wei­gerte er am Frei­tag, dem Todes­tag des Herrn, jede Nahrungsaufnahme.

Vor dem ein­stö­cki­gen Bun­k­er­ge­bäude war der große Appell­platz, an dem sich die Häft­linge täg­lich mor­gens und abends zum Zähl­ap­pell, meist ver­bun­den mit aller­lei Schin­de­reien, ein­zu­fin­den hat­ten. An den höchs­ten Fest­ta­gen ertönte wäh­rend der Stille des Abzäh­lens plötz­lich die mäch­tige Stimme Pfar­rer Schnei­ders durch die dump­fen Git­ter des eben­erdi­gen Bun­kers. Er hielt wie ein Pro­phet seine Fest­tags­pre­digt, das heißt, er ver­suchte sie zu begin­nen. Am Oster­sonn­tag zum Bei­spiel hör­ten wir plötz­lich die mäch­ti­gen Worte: »So spricht der Herr: Ich bin die Auf­er­ste­hung und das Leben!« Bis ins Innerste auf­ge­wühlt durch den Mut und die Kraft die­ses gewal­ti­gen Wil­lens stan­den die lan­gen Rei­hen der Gefan­ge­nen. Es war, als hätte eine mah­nende Stimme aus einer ande­ren Welt zu ihnen geru­fen, als hör­ten wir die Stimme Johan­nes des Täu­fers aus den Ker­kern des Hero­des, die gewal­tige Pro­phe­ten­stimme des Rufen­den in der Wüste.

Mehr als einige Sätze konnte er nie spre­chen. Dann klatsch­ten schon die Prü­gel der Bun­ker­wäch­ter auf ihn nie­der oder ein roher Faust­schlag schmet­terte sei­nen zer­mar­ter­ten Kör­per in eine Ecke des Bun­kers. Mit sei­nem star­ken Wil­len und sei­ner unbeug­sa­men Härte wurde auch bru­tale Gewalt nicht fer­tig. Mehr als ein­mal schleu­derte er dem gefürch­te­ten Lager­kom­man­dan­ten den furcht­ba­ren Vor­wurf in das Gesicht: »Sie sind ein Mas­sen­mör­der! Ich klage Sie an vor dem Rich­ter­stuhle des ewi­gen Got­tes! Ich klage Sie an des Mor­des an die­sen Häft­lin­gen!« Und er zählte ihm die Namen der Opfer auf, die in den letz­ten Wochen ihr Leben las­sen mußten.

Da man mit der gra­ni­te­nen Härte sei­ner Über­zeu­gung nicht fer­tig wer­den konnte, stem­pelte man ihn zum Nar­ren, den man durch Schläge zum Schwei­gen bringt. Über ein Jahr hatte er die Qua­len des Bun­kers getra­gen, bis auch seine Kraft der rohen Gewalt erlag. Keine heile Stelle war an sei­nem Kör­per, als man ihn tot aus dem Bun­ker trug. Die Todes­nach­richt wurde im gan­zen Lager mit tie­fer Bewe­gung aufgenommen.

Als wollte man eine furcht­bare Schuld von sich abwäl­zen, ver­stän­digte man die Frau des Toten, die mit sie­ben Kin­dern auf die Heim­kehr des Gat­ten war­tete, von sei­nem Able­ben. Man hatte die Lei­che in einen Sarg gelegt, den geschlos­se­nen Sarg mit Blu­men geschmückt. Die Frau des Toten hörte Worte tie­fen Bedau­erns über das uner­war­tete Hin­schei­den des Gat­ten, das ihn lei­der einige Tage vor der geplan­ten Ent­las­sung dahin­ge­rafft hätte.

Uns war diese boden­lose Heu­che­lei der Mör­der an der Bahre ihres Opfers keine Über­ra­schung. Ein Hohn­ge­läch­ter ging durch das Lager, denn in die­sem Bei­leid an die trost­lose Witwe offen­barte sich der dämo­ni­sche Geist von Buchen­wald in sei­ner gan­zen Feig­heit. Sein heuch­le­ri­sches Bei­leid wurde gewal­tig über­tönt von den Wor­ten der Anklage und des Bekennt­nis­ses. Von der Stimme des Rufen­den in der Wüste sprach das Lager noch nach Jah­ren in unein­ge­schränk­ter Bewunderung.

 

Nach­spiel

Im Som­mer 1939 erlosch das Kämp­ferle­ben Pfar­rer Schnei­ders. Wenige Wochen vor Kriegs­be­ginn, als die Atmo­sphäre in der gan­zen Welt zum Bers­ten gela­den war und sich in einem auf­ge­reg­ten Rund­funk­kampf aus­lebte, wurde ganz uner­war­tet mein Name mit Geburts­da­tum zu unge­wohn­ter Vor­mit­tags­stunde auf­ge­ru­fen. Die­ser Auf­ruf bedeu­tete erfah­rungs­ge­mäß ent­we­der Ent­las­sung oder sonst etwas Beson­de­res. Man­che Kame­ra­den glaub­ten mich beglück­wün­schen zu müs­sen. Ich hatte nicht das Gefühl, daß mir die Frei­heit winkte. Ich wurde zum Lager­kom­man­dan­ten Stan­dar­ten­füh­rer Koch geführt, für einen gewöhn­li­chen Schutz­häft­ling etwas Außer­ge­wöhn­li­ches. Solch ein Gang ließ nichts Gutes ahnen, denn die Kugel lag meist ziem­lich locker im Revol­ver des All­ge­wal­ti­gen von Buchen­wald. Man­cher Häft­ling wurde nach einer sol­chen Vor­füh­rung von den Lei­chen­trä­gern abge­holt. Ich wurde jedoch wider Erwar­ten freund­lich emp­fan­gen, über meine Stel­lung als Geist­li­cher und Jour­na­list aus­ge­fragt. Koch brachte eine Rede zur Spra­che, die ich 1932  beim Katho­li­ken­tag in Essen gehal­ten hatte. Ich konnte mir den Zweck die­ser nicht unfreund­li­chen, etwas weit aus­ho­len­den Fra­gen nicht den­ken. Da zeigte er mir eine Reihe von Zei­tun­gen aus Polen und Hol­land, die mit gro­ßen Über­schrif­ten mel­de­ten: Kano­ni­kus Stein­wen­der in Buchen­wald ermordet.

Ich war über diese Sen­sa­ti­ons­mel­dun­gen begreif­li­cher­weise erstaunt, wurde mir jedoch im Laufe der wei­te­ren Aus­spra­che klar, daß eine Ver­wechs­lung mit Pfar­rer Schnei­der der Anlaß zu die­sen Mel­dun­gen war. Sein hel­den­haf­tes Schick­sal war durch ent­las­sene Häft­linge in Deutsch­land in einem klei­ne­ren Kreise bekannt. Aus Buchen­wald ent­las­sene jüdi­sche Häft­linge hat­ten es in der gan­zen Welt ver­brei­tet. Von Buchen­wald wußte man in der wei­ten Welt ja mehr als etwa in den fried­li­chen Dör­fern am Fuße des Etters­ber­ges. Auch meine Ein­lie­fe­rung in das Lager war schon durch den Straß­bur­ger Sen­der gemel­det wor­den. Irgend­eine Nach­rich­ten­quelle hatte mich nun mit Pfar­rer Schnei­der ver­wech­selt. Sein grau­sa­mes Schick­sal und sein tra­gi­sches Ende sollte ich erlit­ten haben. So ging mein Name durch viele Sen­der der Welt. Zu ihrem nicht gerin­gen Schre­cken drang die Nach­richt auch zu mei­nen Freun­den und Ange­hö­ri­gen in der Hei­mat. Sie hör­ten die genaue Schil­de­rung mei­nes Todes in Buchen­wald und glaub­ten mich tot, bis wie­der eine Nach­richt von mir kam.

Aus der Frage des Lager­kom­man­dan­ten, ob ich mich ein­mal gewei­gert habe, die Mütze abzu­neh­men, ob ich im Bun­ker geses­sen habe, ent­nahm ich, daß Schnei­ders heroi­sches Ende mit mei­nem Namen ver­knüpft wurde. Noch zwei Jahre spä­ter, als ich schon im stil­len Pet­ting am Wagin­ger See weilte, brachte der Mos­kauer Rund­funk die­selbe Mel­dung wie­der, wie mir Freunde aus Wien, Salz­burg und Vor­arl­berg berichteten.

Ich ver­ließ das Zim­mer des Lager­ge­wal­ti­gen mit dem Auf­trag, eine Erklä­rung nie­der­zu­schrei­ben, daß ich gesund sei und nie eine Lager­strafe erhal­ten hätte. Damit wurde eine Ber­li­ner Stelle, die sich um mich geküm­mert hatte, beru­higt, und die offi­zi­elle Pro­pa­ganda konnte in hel­len Far­ben los­le­gen, wie über die KZ gelo­gen wird. Der Fall Stein­wen­der war für sie zur Befrie­di­gung erle­digt, der Fall Schnei­der aber blieb unge­ahn­det. Unver­ges­sen bleibt mir die gewal­tige Stimme des Pre­di­gers aus den Tie­fen des Bun­kers, den ich nie von Ange­sicht zu Ange­sicht gese­hen. Sein Name ist mit gol­de­nen Let­tern in das Hel­den­buch der Mär­ty­rer von Buchen­wald ein­ge­tra­gen. Ich lege mit die­sen Zei­len den gebüh­ren­den Lor­beer­kranz auf sein Mär­ty­rergrab, das einen wahr­haf­ten Blut­zeu­gen sei­nes Glau­bens birgt.

 Literatur aus Buchenwald:

  1. Bruno Apitz – »Das kleine Lager«
  2. Ruth Elias – »Die Hoffnung erhielt mich am Leben« (Auszug)
  3. Julius Freund – »Der Schriftsteller als Leichenträger – Jura Soyfer«
  4. Ivan Ivanji – »Schattenspringen« (Auszug)
  5. Imre Kertész – »Roman eines Schicksallosen« (Auszug)
  6. Eugen Kogon – KL-»Freizeitgestaltung«
  7. Carl Laszlo – »Erinnerungen eines Überlebenden«
  8. Fritz Lettow – »Arzt in den Höllen« (Auszug)
  9. Fritz Löhner-Beda – »Buchenwaldlied«
  10. Jacques Lusseyran – »Leben und Tod«
  11. Judith Magyar Isaacson – Die Hyäne
  12. Hélie de Saint Marc – »Jenseits des Todes«
  13. Jorge Semprún – »Die Lorelei«
  14. Leonhard Steinwender – »Die Stimme des Rufenden in der Wüste«
  15. Karl Stojka – »Auf der ganzen Welt zuhause« (Auszug)
  16. Ernst Thape – »Befehlsnotstand«
  17. Ernst Wiechert – »Der Totenwald« (Auszug)
  18. Elie Wiesel – »Die Nacht zu begraben, Elischa« (Auszug)
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