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Thüringen im literarischen Spiegel
Karl Stojka
Karl Stojka / Reinhard Pohanka, Auf der ganzen Welt zu Hause. Das Leben und Wandern des Zigeuners Karl Stojka, Picus Verlag, Wien 1994, S. 47-49) / Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Picus Verlags Wien.
Wir kamen Ende August 1944 in Buchenwald an. Auch dort hat es immer wieder Selektionen unter den Häftlingen gegeben, immer mehr Menschen wurden aussortiert und getötet, jeder hat gewusst, wenn er selektiert wird, ist das sein Tod. Selbst uns Kindern war das klar. Ende 1944 hieß es auf einmal, alle Kinder unter 14 Jahren sofort antreten. 81 Kinder waren wir damals, die aufgestellt wurden. Ich war auch in der Reihe, aber nicht mein Bruder. Er suchte mich und verwendete unseren Pfiff. Ich habe zurückgepfiffen, und so hat er mich unter den Tausenden Menschen gefunden.
Als mein Bruder gesehen hat, dass ich unter den Ausselektierten war, ist er sofort zu meinem Onkel gelaufen und hat ihn um Hilfe ersucht. Sie sind zur Selektion gelaufen, und mein Onkel hat sich an den SSler gewendet und hat gesagt: »Bitte, Herr General, dort steht mein Enkel, der ist schon älter als 14, aber er ist ein Zwerg, der gehört nicht dazu.« Der SS-Mann hat gelacht und hat gesagt, ich soll verschwinden. Geglaubt hat er meinem Onkel sicher nicht, aber der war ein richtiger Zigeuner und hat ein Auftreten gehabt wie ein alter Fürst, und vielleicht hat das dem SS-Mann gefallen. Man wusste ja nie, wie man sich diesen Leuten gegenüber verhalten sollte. Irgendeine unbedeutende Bemerkung konnte einen SS-Posten dazu bringen, einen zu prügeln oder zu erschießen, manchmal konnte man aber auch mit Witz und Frechheit und Verzweiflung Dinge erreichen. Nach ein paar Tagen haben wir gehört, dass die 80 Kinder sich selbst ihr Grab hatten schaufeln müssen, und man sie dort erschossen hatte.* Mein Onkel und mein Bruder haben es aber geschafft, den Nazis ein Opfer wegzunehmen.
Buchenwald war die Hölle auf Erden, und um zu überleben, musste man besonders als Kind böse und brutal werden, denn dass du ein Kind warst, hat dort nichts gezählt.
Ich habe in Buchenwald einmal wochenlang einen Mann beobachtet, der jeden Tag liebevoll einen Zigarettenspitz poliert hat, wahrscheinlich war es das Letzte, was er von seinem vorherigen Leben noch hatte, ich habe aber nur ein wertvolles Tauschobjekt darin gesehen. Als mir klar war, was für einen Wert der Zigarettenspitz hatte, bin ich zum Lager der politischen Häftlinge gelaufen und habe vereinbart, ein Rot-Kreuz-Paket gegen den Spitz zu tauschen. Und dann stahl ich dem Mann den Spitz, besser gesagt, ich sauste an ihm vorbei und hatte ihn schon in der Hand. Er versuchte nicht einmal, sich zu wehren oder mir nachzulaufen, nur als ich mich umdrehte, sah ich, dass er weinte. Aber sein Schmerz war mein Überleben, und leben wollte ich. Im Rot-Kreuz-Paket, das ich dafür bekam, waren alle Herrlichkeiten auf Erden, Kekse, Wurst, Corned beef, Sardinen und Schokolade, genug davon, um einige Wochen zu überleben. Alles gab es in Buchenwald im Winter 1944/45. Es gab Kannibalismus unter den Häftlingen, einmal hat ein Häftling versucht, an einem Feuer ein Stück Fleisch zu rösten, von dem man sehen konnte, dass es Menschenfleisch war. Aber niemand hat etwas gesagt, die Menschen waren zu abgestumpft, und außerdem hatte auch er ein Recht zu überleben. Auch die SS wurde immer grausamer, Menschen verschwanden von einem Tag auf den anderen, besonders solche mit Tätowierungen, es ging das Gerücht um, die SS mache aus ihrer Haut Taschen und Lampenschirme.
Einer der brutalsten Aufseher war Kurt, der Österreicher, wie wir ihn nannten, der es besonders auf uns Kinder abgesehen hatte. Er schlug und prügelte uns immer, wenn er uns bloß sah. Eines Tages holte er mich aus der Baracke in sein Zimmer, und als ich reinkam, glaubte ich zu träumen. Es war warm, hell, und der Tisch war voll Essen, und er sagte, ich dürfe mir nehmen, soviel ich wolle. Ich dachte nicht lange nach, warum er auf einmal so freundlich war, sondern schlug mir den Bauch voll, ohne mich auch nur zu fragen oder misstrauisch zu werden. Wenn man halb verhungert ist, kommt zuerst das Essen und dann erst das Denken. Spät in der Nacht aber stand auf einmal Kurt, der Österreicher, vor meiner Pritsche, und ich musste aufstehen und mit ihm gehen. Mein Bruder, der das sah, fing zu weinen an, weil er glaubte, der erschlägt mich jetzt. Kurt brachte mich in seinen Raum, und ich musste mich ausziehen und drehen, und er sah mich lange von allen Seiten an, während er offenbar immer erregter wurde. Plötzlich warf er mir meine Kleider zu und warf mich nackt, wie ich war, aus dem Zimmer in den Schnee hinaus und schrie, ich solle mich zurück in die Baracke scheren. Später erst habe ich erfahren, dass ich der jüngste Häftling in Buchenwald war und seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Weil aber die Alliierten immer näher kamen, wurden wir Anfang 1945 von Buchenwald nach Flossenbürg verlegt. Wir wurden mit dem Zug, mit Lastautos und zu Fuß hingebracht. Es waren Hunderte von Zigeunern dort, und wir haben uns zusammengeschlossen, weil wir gefühlt haben, dass es jetzt darauf ankommt, nur noch ein paar Monate zu überleben, dann würde das Dritte Reich am Ende sein, und wir wären wieder frei.
* Dieses Ereignis ist historisch nicht belegt. Vermutlich spiegelt diese Beschreibung die im September 1944 durch die SS erfolgte Zusammentreibung aller Sinti- und Roma-Kinder des Lagers wider, die dann nach Auschwitz abtransportiert wurden.
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