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Thüringen im literarischen Spiegel
Imre Kertész
Roman eines Schicksallosen, © 1974 Imre Kertész, dt. Übersetzung von Christina Viragh, Rowohlt Verlag, Berlin 1996, S. 182-188, 1996 by Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin [RB 229].
Ich möchte behaupten, dass wir bestimmte Begriffe erst in einem Konzentrationslager wirklich verstehen. In den dummen Märchen meiner Kindheit kam zum Beispiel häufig jener »Wandergesell« oder »arme Bursche« vor, der sich um der Königstochter Hand willen beim König verdingt, und das um so lieber, als es nur für sieben Tage ist. »Aber sieben Tage sind bei mir sieben Jahre!« sagt ihm der König; nun also, genau das gleiche könnte ich auch vom Konzentrationslager sagen. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass aus mir so schnell ein verschrumpelter Greis werden könnte. Zu Hause braucht das Zeit, mindestens fünfzig bis sechzig Jahre: hier hatten schon drei Monate genügt, bis mich mein eigener Körper im Stich ließ. Ich kann sagen, es gibt nichts Peinlicheres, nichts Entmutigenderes, als Tag für Tag zu verfolgen, Tag für Tag in Rechnung zu stellen, dass an uns schon wieder soundso viel abgestorben ist. Zu Hause war ich, auch wenn ich nicht besonders viel Aufmerksamkeit darauf verwendet hatte, so im allgemeinen mit meinem Organismus im Einklang gewesen, ich hatte diese Maschine, um sie so zu nennen, gemocht. Ich erinnerte mich an einen Sommernachmittag, wie ich im schattigen Zimmer einen aufregenden Roman las, während meine Hand mit wohltuender Zerstreutheit die nachgiebig glatte, goldflaumige Haut meiner von Muskeln gespannten, sonnengebräunten Oberschenkel streichelte. Jetzt hing dieselbe Haut schlaff und faltig hinunter, war gelb und ausgedörrt, bedeckt mit allerlei Geschwüren, braunen Ringen, Rissen und Sprüngen, Falten und Schuppen, die besonders zwischen den Fingern unangenehm juckten. »Krätze«, stellte Bandi Citrom mit sachverständigem Kopfnicken fest, als ich es ihm zeigte. Ich konnte nur so staunen über die Geschwindigkeit, das entfesselte Tempo, mit dem die deckende Schicht, die Elastizität, das Fleisch von meinen Knochen dahinschwand, schmolz, abfaulte und allmählich ganz verschwand. Täglich wurde ich von etwas Neuem überrascht, von einem neuen Makel, einer neuen Scheußlichkeit an diesem immer merkwürdiger, immer fremder werdenden Gegenstand, der einst mein guter Freund: mein Körper gewesen war. Ich konnte ihn schon gar nicht mehr ohne ein zwiespältiges Gefühl, ohne Schaudern betrachten; deshalb zog ich mich mit der Zeit nicht mehr aus, wusch mich nicht mehr, schon weil sich alles in mir gegen solche unnötigen Anstrengungen sträubte, auch schon wegen der Kälte, nun ja, und dann natürlich wegen der Schuhe.
Diese Gerätschaften machten, jedenfalls mir, sehr viel Ärger. Überhaupt konnte ich mich mit den Kleidungsstücken, mit denen ich im Konzentrationslager ausgestattet worden war, nicht verstehen: es fehlte ihnen an Zweckmäßigkeit, dafür besaßen sie viele Mängel, ja, sie wurden geradezu zu einem Quell von Unannehmlichkeiten – ich kann allgemein sagen: sie bewährten sich nicht. So etwa verwandelt sich zur Zeit des grauen Nieselregens – der mit dem Wechsel der Jahreszeit ein dauernder wird – das Drillichzeug in ein steifes Ofenrohr, dessen nasser Berührung unsere von Schaudern überlaufene Haut nach Möglichkeit auszuweichen versucht – vergeblich natürlich. Auch der Sträflingskittel – den sie, das ist unbestreitbar, pflichtschuldig ausgeteilt haben – nützt da nichts, er ist nur ein weiteres Joch, eine weitere nasse Schicht; und nach meiner Ansicht ist auch das grobe Papier der Zementsäcke keine Lösung, wie es sich Bandi Citrom, ähnlich wie viele andere, geschnappt hat und nun unter den Kleidern trägt, allem Risiko zum Trotz, denn solche Vergehen kommen schnell ans Licht: ein Stockschlag auf den Rücken, einer auf die Brust, und das Knistern bringt die Tat sogleich an den Tag. Knistert das Papier aber nicht mehr, wozu dann – frage ich – diese zu Brei gewordene neue Tortur, die man zudem nur noch heimlich wieder loswerden kann?
Aber wie gesagt, das ärgerlichste waren die Holzschuhe. Das Ganze begann eigentlich mit dem Schlamm. Übrigens muss ich sagen, dass meine bisherigen Vorstellungen auch in dieser Hinsicht ungenügend waren. Auch zu Hause hatte ich Schlamm gesehen und war auch schon darin herumgelaufen, versteht sich, dass er aber einmal unsere Hauptsorge, dass er der Schauplatz unseres Lebens werden könnte, das hatte ich nicht gewusst. Was es heißt, bis zu den Waden darin zu versinken, das Bein dann mit aller Kraft, mit einem einzigen schmatzenden Ruck zu befreien, und das nur, um zwanzig, dreißig Zentimeter weiter vorn von neuem einzusinken: auf all das war ich nicht vorbereitet und wäre es auch vergeblich gewesen. Nun stellte sich aber heraus, dass bei den Holzschuhen mit der Zeit die Absätze abbrachen. Da konnten wir dann auf einer dicken, ab einem bestimmten Punkt plötzlich dünn werdenden, gondelförmig gebogenen Sohle einherwandeln, indem wir auf dieser gerundeten Sohle vorwärts schaukelten, in der Art von Stehaufmännchen. Außerdem entstand an der Stelle des einstigen Absatzes zwischen dem Schaft und der hier recht dünnen Sohle ein Tag für Tag breiter werdender Spalt, durch den bei jedem unserer Schritte kalter Schlamm und mit ihm Steinchen und allerlei spitzes Zeug ungehindert eindringen konnten. Inzwischen hatte uns der Schaft schon längst die Knöchel und die darunter befindlichen weicheren Bereiche wund gerieben. Nun waren diese Wunden – wie es ihre Eigenschaft ist – aber nass, und zwar von einer klebrigen Nässe. So konnten wir uns dann mit der Zeit überhaupt nicht mehr von den Schuhen befreien, konnten sie nicht mehr ausziehen, sie hatten sich mit den Füßen verklebt, waren, neuen Körperteilen gleich, angewachsen. Sie trug ich bei Tage, in ihnen begab ich mich auch zur Nachtruhe, schon um keine Zeit zu verlieren, wenn ich dann von meinem Lager auf‑, genauer: hinunterspringen musste, zwei‑, drei‑, ja viermal in einer Nacht. Und nachts geht es ja noch an: nach einigen Schwierigkeiten, einigem Gestolper und Gerutsche im Schlamm draußen erreichen wir im Scheinwerferlicht das Ziel doch irgendwie. Aber was sollen wir tagsüber tun; was, wenn uns der Durchfall im Kommando ereilt – was doch unvermeidbar war? Man nimmt seinen ganzen Mut zusammen, reißt sich die Mütze vom Kopf und bittet den Aufseher um Erlaubnis: »Gehorsamst, zum Abort«, vorausgesetzt natürlich, es gibt eine Bude in der Nähe, und zwar eine auch von Häftlingen zu benutzende Bude. Aber nehmen wir an, da ist eine, nehmen wir an, unser Aufseher ist gütig und erteilt uns einmal, erteilt uns ein zweites Mal die Erlaubnis: wer nun – möchte ich fragen – wäre so tollkühn, so zu allem entschlossen, dass er seine Geduld ein drittes Mal auf die Probe stellte? Da bleibt dann nur noch der stille Kampf, mit zusammengebissenen Zähnen, mit ständig zitterndem Hohlbauch, bis die Prüfung entschieden ist und entweder unser Körper oder unser Wille die Oberhand gewinnt.
Und zuletzt sind da – erwartet oder unerwartet, herausgefordert oder eben gemieden – immer und überall die Schläge. Auch davon habe ich meinen Teil abbekommen, versteht sich, aber nicht mehr – und auch nicht weniger – als üblich, durchschnittlich, alltäglich war, nicht mehr als sonst jemand, sonst jeder von uns Prügel erhielt, soviel also, wie nicht mit einem eigenen, persönlichen Missgeschick, sondern einfach mit den gewohnten Bedingungen im Lager einhergeht. Nur das ist eine Unstimmigkeit, wenn ich berichten muss, dass mir Prügel einmal auch nicht durch einen dazu eher berufenen, eher berechtigten, eher verpflichteten – oder wie ich es sagen soll – SS-Mann zuteil geworden sind, sondern einen Soldaten in gelber Uniform, der, so hörte ich, einer etwas undurchsichtigeren Organisation namens »Todt«[i], einer Art Arbeitsaufsicht, angehörte. Er war gerade anwesend und sah – begleitet von was für einer Stimme, von was für einem Sprung –, wie ich den Zementsack fallen ließ. Tatsächlich, Zementschleppen war in jedem Kommando – völlig zu Recht, wie auch ich fand – nur mit der Freude zu begrüßen, die seltenen Gelegenheiten gebührt und die man sich auch untereinander kaum eingesteht. Man neigt den Kopf, jemand lädt einem den Sack auf den Nacken, man wandert zu einem Lastwagen, dort nimmt einem ein anderer den Sack wieder ab, dann trottet man mit einem schönen großen Umweg, dessen Grenzen von den augenblicklichen Gegebenheiten gesteckt sind, wieder zurück, und im Glücksfall stehen vor einem sogar noch welche an, so dass man noch mehr Zeit herausschinden kann bis zum nächsten Sack. Nun wiegt so ein Sack insgesamt etwa zehn bis fünfzehn Kilo – ein Kinderspiel unter heimischen Verhältnissen, da könnte ich sogar noch Ball damit spielen: hier aber stolperte ich, ließ ihn fallen. Und vor allem sprang auch das Papier des Sackes auf, und der Inhalt, das Material, der Wert, der teure Zement rann durch den Schlitz heraus und staubte über den Boden. Schon war er da, schon spürte ich seine Faust im Gesicht und dann, nachdem er mich niedergeschlagen hatte, auch seine Stiefel in den Rippen und im Nacken seine Hände, wie er mir das Gesicht immer wieder zu Boden drückte, in den Zement: ich sollte ihn aufnehmen, zusammenkratzen, auflecken – verlangte er, unsinnigerweise. Dann zerrte er mich wieder hoch: »Dir werd ich’s zeigen, Arschloch, Scheißkerl, verfluchter Judenhund«, so dass ich nie wieder einen Sack fallen ließe, wie er versprach. Von da an lud er mir bei jeder Wende persönlich den Sack auf den Nacken, nur um mich kümmerte er sich, nur ich gab ihm zu tun, nur mich verfolgte er mit den Blicken bis zum Wagen und zurück, und mich holte er nach vorn, auch wenn der Reihe und der Gerechtigkeit nach andere dran gewesen wären. zu guter Letzt spielten wir einander beinahe schon in die Hände, kannten wir uns schon, beinahe las ich schon so etwas wie Befriedigung, Zuspruch, um nicht zu sagen Stolz auf seinem Gesicht, womit er, das musste ich zugeben, unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen sogar recht hatte: wenn auch schwankend, gekrümmt, zuweilen mit Schwärze vor den Augen, so hielt ich doch durch, ich kam und ging, trug und schleppte, und zwar ohne einen einzigen weiteren Sack fallen zu lassen, und das war ja – das musste ich einsehen – alles in allem die Bestätigung für ihn. Andererseits fühlte ich am Ende dieses Tages, dass etwas in mir unwiederbringlich kaputtgegangen war, von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte, an dem ich noch aufstehen würde, bei jedem Schritt, dass ich den nächsten nicht mehr tun, bei jeder Bewegung, dass ich die nächste nicht mehr schaffen würde; aber ja nun, vorläufig schaffte ich sie noch jedesmal.
[i] 1938 geschaffene Bautruppe unter dem Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen Fritz Todt (1891- 1942), die ursprünglich mit dem Bau militärischer Anlagen, nach Kriegsbeginn vor allem mit der Instandsetzung zerstörter Straßen, Brücken und Eisenbahnlinien im Reich und in den besetzten Gebieten beschäftigt war. Die »Organisation Todt« (O.T.) setzte sich zunächst aus Dienstverpflichteten zusammen, später wurden auch KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene rekrutiert.
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