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Thüringen im literarischen Spiegel
Ernst Wiechert
Ernst Wiechert, Der Totenwald, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1989, S. 54-60. / Abdruck mit freundlicher Genehmigung der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH.
Es lässt sich schwer beschreiben, was Johannes seit seiner Ankunft im Lager empfand. Es war nicht so sehr das Gefühl‹ des Schreckens oder der Verstörung oder einer dumpfen Betäubtheit. Es war vielmehr die Empfindung einer immer zunehmenden Kälte, die aus einem bestimmten Punkt seines ‑Innern sich immer weiter ausbreitete, bis sie seinen ganzen Menschen erfüllte. Es war ihm, als erfriere sein bisheriges Leben und seine ganze Welt und als könne er nur noch wie unter einer blinden Eisdecke auf etwas ganz Fernes blicken, und in dieser Ferne bewegten sich lautlos und unwirklich die Gestalten seines bisherigen Daseins, seine geliebten Menschen, seine Bücher, seine Hoffnungen und Entwürfe. Alle schon von dem Keim des Todes gezeichnet, dem Verfall anheimgegeben, sinnlos in einer Welt, in der diese Pfarrerssöhne herrschten. Er fühlte, wie die eisige Kälte seine Träume zerbrach, wie der Frost die Blütenstengel zerbricht, wie durch das Bild Gottes ein Sprung hindurchlief, der nicht mehr heilen würde, und wie nur eines sich lautlos und ungeheuer vor ihm aufrichtete, was er früher gerne mit Träumen und Wünschen verziert und bekleidet hatte: die nackte, erbarmungslose Wirklichkeit, das Gesicht des Menschen, wie es war, wenn man ihm Macht gab, ihn der Fesseln entkleidete und ihn zu dem zusammenballte, was man »Masse« nannte.
Es war dies auch die Erkenntnis, die er in sein künftiges Leben mitnahm.
Noch während der Pfarrerssohn seine Erläuterungen gab, hörte Johannes, wie hinter ihnen der Appellplatz sich langsam belebte. Auch sah er durch das Tor von draußen lange Kolonnen einmarschieren, mit Hacken und Spaten über der Schulter und in seltsam zebrahaft gestreifter Kleidung, die Mützen in der Hand, mit geschorenen Köpfen. Er empfing den flüchtigen Eindruck einer müden, stolpernden Tierherde, ohne Hoffnung, ohne Heimat, ja ohne Gesicht, so sehr ähnelten sie einander in der grauenhaften Eintönigkeit ihres Bildes.
Er hörte Kommandos, Meldungen, eine Stimme, die durch den Lautsprecher Nummern aufrief, nicht Namen, hörte Flüche und Schläge und stand regungslos, nach rückwärts lauschend, wo seine Zukunft vor sich ging, in die er bald eingereiht würde wie die anderen auch, ein Mensch mit einer Nummer, mit kahlgeschorenem Kopf, abgetrennt vom Leben, der Schönheit, der Güte, der Sauberkeit, angeschmiedet an die Galeere eines Staates, der seine Zweifel in den Tod schickte.
Dann sah er von der Seite, wie zwei der Gefangenen – Schutzhäftlinge hießen sie nun – von dem Ende des niedrigen Gebäudes einen seltsamen hölzernen Gegenstand holten, euren Bock auf vier Füßen, in der Längsrichtung zu einer länglichen Mulde vertieft, mit Riemen, die lose herabhingen. Und noch, während er zu erraten versuchte, zu welchem – wahrscheinlich bösen – Zweck dies Instrument dienen mochte, hörte er die scharfen, pfeifenden Schläge im Takt fallen und den hohen, entsetzten Schrei des Geschlagenen. Er sah starr geradeaus, über die Buchenkronen in den sich abendlich färbenden Himmel hinein, aber er zählte, zählte mit, um es nicht zu vergessen vor jenem großen Gericht, an das er dachte, zehn, fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Schläge. Das Schreien war zu einem stimmlosen Röcheln geworden, dem Röcheln eines Tieres, dem das Lebensblut entströmt, und eine kalte Stimme rief : »Halt!«
Eine Pause trat ein, in der Johannes nur sein Herz schlagen hörte, und dasselbe begann von neuem, nur dass das zweite Opfer lautlos blieb. Dieselbe kalte Stimme, dieselbe Pause, und immer weiter so, sechs oder acht oder zehn Male.
Später hat Johannes erfahren, dass diese Henkerstunde immer angeordnet wurde, sobald ein neuer Transport zum ersten Mal auf dem Hofe stand, also an jedem Montag und Donnerstag. Nicht etwa, dass sie nicht auch auf jeden anderen beliebigen Abend gefallen wäre, aber diese beiden Tage gehörten zum Programm. Es war ein Teil der neuen Menschenerziehung, und es sollte den Neuangekommenen schon am ersten Abend den Sinn des Wortes »Jedem das Seine« erläutern.
Dann rückten die Kolonnen ab, und auch sie wurden zur Kammer geführt, um ihre Sachen zu empfangen. Auf diesem Wege nun sah Johannes zum ersten Mal das Lager. Er sah den großen Appellplatz mit ein paar hohen, kümmerlichen Buchen und dahinter in langen Reihen die niedrigen, grüngestrichenen Baracken, zwischen denen Straßen entlangliefen, die vom Feuer der Maschinengewehre bestrichen werden konnten. Dahinter stand wieder Wald, zwischen dessen Bäumen hier und da ein Stück des hohen grauen Drahtzaunes durchschimmerte.
Aber was ihre Blicke am meisten anzog, war der Galgen in der Mitte des Appellplatzes. Er war auf einem hohen Sockel errichtet, zu dem eine Treppe hinaufführte, und sein hölzerner Arm mit der Rolle an seinem Ende zeigte drohend über die Baracken hin. »Am liebsten möchte ich euch alle dran baumeln sehen«, bemerkte der sie Führende freundlich.
Sie empfingen Rock und Hose aus schlechtem Kunststoff, blau und grau in der Längsrichtung gestreift, ein Hemd, eine Unterhose, ein paar wollene Strümpfe, schwere Schnürschuhe, eine schirmlose Mütze. Das war nun für Sommer und Winter ihr einziges Hab und Gut. In der »Effektenkammer« gaben sie alles ab, was sie besaßen. Nur eine kleine, bunte Tasche mit Dingen zur Hautpflege durfte Johannes behalten. Sie erschien ihm in dieser Umgebung wie etwas von einem fremden Stern. Dann führte man sie wieder ins Freie, nackt, und schor ihnen Kopf und Körperhaar. Sie empfingen Nummern und rote Tuchdreiecke, die auf Rock und Hose angenäht wurden. Johannes hatte die Nummer 7188. Die rote Farbe bedeutete politische Gefangene.
Sie waren nun alle wie die anderen.
Es dunkelte schon, und sie waren so müde, dass sie taumelten. Man führte sie in eine Notbaracke, durch deren Dach die Sterne schienen, gab ihnen einen Teller Suppe und ließ sie sich ein Strohlager auf der Erde suchen. Johannes lag unter einem offenen Fenster, etwas abseits von den zwei- oder dreihundert anderen, und noch als ihm die Augen zufielen und der kühle Nachthauch über seine Stirn ging, dachte er, dass man von keinem Winde wisse, „von wannen er komme und wohin er gehe«. Damit fiel er in einen tiefen, erschöpften und schweren Schlaf.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis die Welt des Lagers in allen Zusammenhängen und Einzelheiten sich ihm erschloss. Es gab etwa achttausend Gefangene – eins von wie vielen Lagern! –, und sie waren nach ihren farbigen Abzeichen unterschieden. An der Spitze von Haltung und Achtung, wenn von einer solchen die Rede sein konnte, standen die Roten. Hinter ihr folgten die Grünen, die Berufsverbrecher, die schwarzen Abzeichen der Arbeitsscheuen, die rötlichen der Homosexuellen, die violetten der Bibelforscher und die gelben der Juden. Von diesen hatten die meisten ein gelbes und schwarzes Dreieck ineinander genäht, so dass sie wie mit einem Stern gezeichnet waren. Rückfällige, die zum zweiten Mal in einem Lagerwaren, trugen einen schmalen Streifen unter ihrem Dreieck, und die Strafkompanie, die Ärmsten der Armen, hatten einen schwarzen Punkt neben ihrem Abzeichen. Daneben gab es Blinde mit drei schwarzen Punkten und eine Anzahl solcher, auf deren Armbinde das Wort „Blöde« gedruckt war (auch Blinde und Blöde können einen Staat gefährden).
Die Kleidung war verschieden gestreift, je nach den Vorräten, die man besaß, und die meisten der langjährigen Gefangenen trugen alte Militäruniformen, blau, grün und grau. Das meiste war unsäglich abgerissen, Flick auf Flick gesetzt, in allen Farben schillernd, Bettlerkleider, von Sonne und Regen gebleicht, gegen die ein Zuchthauskleid ein Staatsgewand war. Wenn in der Frühe, Ende August noch in der Dämmerung, die Tausende zum Morgenappell zogen, gebeugt und frierend, im strömenden Regen, im Schlamm des Platzes, der ihnen bis über die Knöchel reichte, viele an langen Stöcken, um sich aufrecht zu erhalten, manche schwerkrank auf den Schultern der Kameraden, manche auf behelfsmäßigen Bahren; wenn der Wind die Nebelfetzen um die Kolonnen trieb, sie einhüllend und wieder in das bleiche Licht entlassend; wenn am Fuße eines der Bäume oder eines Lichtmastes‹ ein Sterbender lag, das schon jenseitige Gesicht dem Morgenschein preisgegeben; dann war das Ganze wohl ein Bild der Verfluchten, aus einer Unterwelt wie ein Spuk hervorgetaucht, oder eine Vision aus einer Hölle, an die kein Pinsel eines der großen Maler, keine Nadel eines der großen Radierer heranreichte, weil keine menschliche Phantasie und nicht einmal die Träume eines Genies an eine Wirklichkeit heranreichten, die ihresgleichen nicht in- Jahrhunderten, ja vielleicht niemals gehabt hatte.
Der erste Tag verlief ihnen noch wie Gästen. Sie mussten zur Schreibstube, zur Revierstube, sie mussten auch Bretter oder Decken tragen oder die schweren Esskübel, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit ihnen die Haut der Hände zu Blasen verbrannten. Alles im Lager geschah durch ihresgleichen : die Bereitung des Essens, die Pflege der Kranken (wovon noch zu sprechen sein wird), der Bau der Häuser und Straßen, die Herstellung der Lichtanlagen, die Sorge um Wasserleitungen. Vom Geringsten bis zum Größten lag ihrer Hände Arbeit, ihr Schweiß, ihre Tränen, ihr Blut in allem, was man sah. In den Baracken und Stacheldrähten, in den Kasernen der SS außerhalb des Lagers, in den Prunkvillen der Führer, den Asphaltstraßen, den Gärten, den Lautsprechern, den großen Raubvogelhäusern und Bärenzwingern, in der Dressur der Bluthunde, die man zur. Verfolgung der Flüchtigen brauchte, in den Musikkapellen, die aufgestellt wurden, ja selbst in der Anfertigung der Särge, in denen man die „Erledigten« zum Weimarer Krematorium brachte. Ihrer war die Arbeit und die Knechtschaft, jener war die Macht und das Herrentum. Ihrer war die Leistung, das Wissen, die Planung, das Schöpfertum aus dem Nichts, jener war die Unwissenheit, die Peitsche, der Kolben, das Richten, die Marter. Hier war das ganze Volk vom Bettler bis zum Reichstagsabgeordneten, vom namenlos Geborenen bis zum Freiherrn, Handwerker und Gelehrte, Ärzte, Juristen und Pfarrer. Dort war die Uniform, unter der sich nichts verbarg als das Gleichmaß einer Weltanschauung. Dort waren siebzehnjährige Wachtposten, Knechte nach äußerer und innerer Bildung und Haltung, vor denen der Adlige der Geburt oder des Geistes mit der Mütze in der Hand zu stehen hätte. Dort waren Blockführer, deren Sprache und Gebärden die von Zuhältern waren. Dort war ein Lagerführer, der Schlossergeselle gewesen war und der im Delirium mit der Peitsche durch die Bunker ging.
Da waren zwei Welten, die Johannes langsam zu begreifen trachtete. Zu begreifen, dass dies Teile eines und desselben Volkes waren, die dieselbe Sprache sprachen, die einmal zu den Füßen des gleichen Gottes gesessen hatten, die mit denselben Formeln die Taufe und die Einsegnung empfangen hatten. Desselben Volkes, in dem Goethe gelebt hatte, das durch den Dreißigjährigen und den Großen Krieg gegangen war und dessen Mütter oder Großmütter in der Abendstunde gesungen hatten „Der Mond ist aufgegangen…« Eines Volkes, das nun nicht geschieden war durch Besitz und Armut, durch Gottesdienst und Heidendienst, durch zwei Sprachen, zwei Religionen, zwei Naturen, sondern das zerrissen war durch nichts als ein politisches Dogma, durch ein papierenes Kalb, das zur Anbetung aufgerichtet war und von dessen Verehrung oder Verachtung es abhing, ob man aufstieg auf der Leiter der Ehren oder in die Arme des Moloch gestoßen wurde, geschändet, gemartert, geopfert, ausgelöscht aus Leben und Gedächtnis. Nichts galt, was gewesen war, keine Leistung, keine Güte, nicht Arbeit und Mühe eines ganzen Lebens. Nur das Gegenwärtige galt. Das Bekenntnis zum Götzen, der Kniefall vor dem Cäsaren, die blinde Wiederholung der Phrase, die falsche Pathetik der Halbbildung, der Schrei des Demagogen. Masseninstinkte, Massenfreuden und ‑laster, Brot und Spiele, und in den Arenen der Gladiatoren standen nun sie ohne Waffen, ohne Hoffnung, den Tieren preisgegeben, die man auf sie losließ. Und von den Sitzen schaute eine „herrische« Welt ihnen zu, ohne Mitleid, ohne Gnade, die mit den Stiefelspitzen die Glieder der Toten aufhob und fallen ließ, um zu sehen, ob sie auch wirklich tot seien.
Hier stand die wahre Bewährung fordernd auf, nicht zu vergleichen mit einer früheren, die erbarmungslos ihren Finger auf das Letzte im Menschen legte, um zu prüfen, ob er bestehen werde.
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