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Thüringen im literarischen Spiegel
Elie Wiesel
Die Nacht zu begraben, Elischa, dt. von Curt Meyer-Clason, Verlag Bechtle, München-Esslingen 1986, S. 139-150.
Wir waren in Buchenwald angekommen.
Am Lagereingang erwartete uns die SS. Wir wurden abgezählt und zum Appellplatz geführt. Lautsprecher bellten die Befehle: »Antreten in Fünferreihen.« »In Gruppen zu hundert.« »Fünf Schritte vor.«
Ich packte meinen Vater an der Hand. Es war die alte vertraute Angst: nur ihn nicht verlieren.
In nächster Nähe ragte der Schornstein der Gaskammer*, aber erschreckte uns nicht mehr, sondern zog nur unsere Aufmerksamkeit auf sich.
Ein Veteran von Buchenwald sagte, wir würden eine Dusche bekommen und dann auf die Blocks verteilt werden. Der Gedanke an eine heiße Dusche war betörend. Mein Vater schwieg und atmete schwer neben mir.
»Vater«, sagte ich, »nur noch einen Augenblick. Dann werden wir schlafen können, in einem richtigen Bett. Du wirst ausruhen können …«
Er antwortete nicht. Ich war selbst so erschöpft, dass sein Schweigen mich gleichgültig ließ. Ich hegte den einzigen Wunsch, so rasch wie möglich eine Dusche zu nehmen und ins Bett zu sinken.
Es war jedoch nicht leicht, zu den Duschen zu gelangen. Hunderte von Gefangenen drängten sich dorthin, und den Wärtern gelang es nicht, Ordnung zu schaffen. Ohne sichtbares Ergebnis teilten sie nach allen Seiten Prügel aus. Andere, die weder die Kraft hatten, sich durchzudrücken noch sich auf den Füßen zu halten, hockten sich in den Schnee. Mein Vater wollte es ihnen gleichtun. Er stöhnte:
»Ich kann nicht mehr … Es ist aus … Ich sterbe …«
Er zog mich zu einem Schneehügel, aus dem Menschenleiber und Fetzen von Decken herausragten.
»Lass mich«, bat er. »Ich kann nicht mehr … Hab’ Mitleid mit mir … Ich warte hier, bis man uns ins Bad lässt … Du holst mich, wenn es so weit ist.«
Ich hätte heulen können vor Wut. Sollte ich meinen Vater sterben, kläglich verenden lassen, jetzt, wo wir soviel durchlebt und durchlitten hatten? Jetzt, wo uns ein heißes Bad und ein Bett winkten?
»Vater!« brüllte ich. »Vater! Steh auf! Sofort! Du willst dich wohl umbringen …«
Ich packte ihn am Arm. Er aber seufzte nur weiter:
»Schrei nicht, mein Sohn … Habe Mitleid mit deinem alten Vater … Lass mich hier ausruhen … Nur ein wenig … Ich fleh’ dich an, ich bin so müde … am Ende meiner Kräfte …«
Er war wie ein Kind geworden: schwach, ängstlich, verletzlich.
»Vater«, antwortete ich, »du kannst nicht hier bleiben.« Ich deutete auf die Leichen ringsum: »Auch die haben nur ein bisschen ausruhen wollen …«
»Ich sehe sie, mein Sohn, ich sehe sie gut. Lass sie schlafen. Sie haben die Augen so lange nicht mehr zugemacht. Sie sind erschöpft … erschöpft …«
Seine Stimme war zärtlich.
Ich schrie in den Wind hinein:
»Sie stehen nie mehr auf, nie mehr! Verstehst du?«
So stritten wir eine Weile. Ich fühlte, dass ich nicht mit ihm stritt, sondern mit dem Tod selbst, mit dem Tod, der er schon gewählt hatte.
Die Sirenen begannen zu heulen. Fliegeralarm. Im ganzen Lager gingen die Lampen aus. Die Wärter trieben uns in die Blocks. Im Handumdrehn war kein Mensch mehr auf dem Appellplatz zu sehen. Wir waren nur zu froh, nicht mehr in dem eisigen Wind stehen zu müssen. Wir ließen uns auf die Pritschen fallen, von denen mehrere übereinanderstanden. Die gefüllten Suppenkessel am Eingang fanden keine Liebhaber. Nur schlafen wollte ein jeder, nichts anderes.
Es war hellichter Tag, als ich erwachte. Jetzt erinnerte ich mich daran, dass ich einen Vater hatte. Vom Alarmzeichen an war ich der Menge nachgelaufen, ohne mich um ihn zu kümmern. Ich wusste, dass er am Ende seiner Kräfte, am Rand des Todeskampfes war, und trotzdem hatte ich ihn verlassen.
Ich machte mich auf die Suche nach ihm.
Aber im selben Augenblick erwachte der Gedanke in mir: »Wenn ich ihn nicht finde! Wenn ich dieses tote Gewicht loswürde, damit ich mit allen Kräften für mein eigenes Überleben kämpfen könnte und mich nur noch um mich zu kümmern brauchte!« Und schon empfand ich Scham, Scham für das Leben, Scham um meinetwillen.
Stundenlang wanderte ich umher, ohne ihn zu finden. Dann kam ich an einen Block, wo man schwarzen »Kaffee« ausschenkte. Man drängte sich in einer Schlange, man balgte sich.
Eine klagende, flehende Stimme tönte hinter mir:
»Elieser, mein Sohn … bring’ mir etwas Kaffee …«
Ich lief zu ihm.
»Vater! Ich habe dich so lange gesucht … Wo warst du? Hast du geschlafen? Wie fühlst du dich?«
Er war fieberheiß. Wie ein wildes Tier bahnte ich mir einen Weg zum Kaffeekessel und erkämpfte mir einen Becher. Ich trank einen Schluck und hob den Rest für ihn auf.
Ich werde nie die Dankbarkeit vergessen, die in seinen Augen aufleuchtete, als er das Gebräu herunterstürzte. Es war die Dankbarkeit eines Tieres. Mit diesen wenigen Schlucken heißen Kaffees machte ich ihn sicherlich glücklicher als ich es in meiner ganzen Kindheit vermocht hatte.
Er lag auf der Pritsche, grau, mit bleichen, ausgetrockneten Lippen, und schüttelte sich. Ich konnte jedoch nicht bei ihm bleiben, weil Befehl erteilt worden war, die Säle für die Reinigung zu räumen. Nur die Kranken durften bleiben.
Wir blieben etwa fünf Stunden im Freien, wo man uns die Suppe ausschöpfte. Als man uns erlaubte, in die Blocks zurückzugehen, lief ich zu meinem Vater:
»Hast du gegessen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Man hat uns nichts gegeben … Man hat uns gesagt, dass wir krank seien, dass wir ohnehin bald sterben würden, und dass es schade sei, den Proviant zu vergeuden … Ich kann nicht mehr …«
Ich gab ihm, freilich schweren Herzens, was von meiner Suppe übrig geblieben war. Ich fühlte, dass ich die paar Löffel unwillig abgab. Ich hatte die Probe genau so wenig bestanden wie Rabbi Eliahus Sohn.
Mein Vater wurde von Tag zu Tag schwächer, sein Blick verschleierte sich zusehends, und das Gesicht nahm die Farbe von welkem Laub an. Am dritten Tag nach unserer Ankunft in Buchenwald mussten wir alle zur Dusche gehen, selbst die Kranken, die zuletzt an die Reihe kamen.
Nach der Rückkehr von der Dusche mussten wir lange draußen warten, weil die Reinigung der Säle noch nicht beendet war.
Als ich meinen Vater in der Ferne erblickte, lief ich ihm entgegen. Wie ein Schatten glitt er an mir vorüber, ohne stehen zu bleiben, ohne mich anzublicken. Ich rief ihn an, aber er drehte sich nicht um. Ich lief ihm nach:
»Vater, wohin rennst du?«
Er sah mich einen Augenblick an; sein Blick war entrückt, wie trunken, es war der Blick eines anderen. Einen Lidschlag lang blieb er stehen, dann lief er weiter.
Mein Vater lag mit Ruhr in seiner Box, und fünf andere mit ihm. Ich saß an seinem Bettrand, wachte bei ihm und wagte nicht mehr an sein Überleben zu glauben. Trotzdem tat ich alles, um ihm Hoffnung einzuflößen.
Plötzlich setzte er sich auf seiner Bettstatt auf und drückte seine fieberheißen Lippen an mein Ohr:
»Elieser … ich muss dir sagen, wo das Gold und das Silber ist, das ich vergraben habe … im Keller, weißt du, wo …?«
Er sprach immer rascher, als fürchtete er, nicht mehr genug Zeit zu haben. Ich versuchte ihm zu erklären, dass noch nicht alles verloren sei, dass wir zusammen nach Hause zurückkehren würden, aber er wollte nichts davon wissen. Ich konnte nicht mehr zuhören. Er war erschöpft. Blutiger Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln. Er schloss die Lider, sein Atem ging keuchend.
Für eine Ration Brot gelang es mir, meine Bettstatt mit einem Häftling dieses Blocks zu tauschen. Nachmittags kam der Arzt. Ich wollte ihm sagen, dass mein Vater sehr krank sei.
»Führ’ ihn her!«
Ich erklärte ihm, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten könne. Aber der Arzt wollte davon nichts wissen. Er musterte ihn und fragte darauf trocken:
»Was willst du?«
»Mein Vater ist krank«, antwortete ich für ihn. »Er hat Ruhr …«
»Ruhr? Das geht mich nichts an. Ich bin Chirurg. Los! Macht Platz für die anderen!«
Mein Einspruch nützte nichts.
»Ich kann nicht mehr, mein Sohn … Führ’ mich wieder in die Box.«
Ich geleitete ihn hin und half ihm, sich hinzulegen. Er zitterte am ganzen Leib.
»Versuch’ ein wenig zu schlafen, Vater. Versuch’, einzuschlafen …«
Sein Atem ging schwer und sperrig. Er hielt die Lider geschlossen. Aber ich war überzeugt, dass er alles sah, dass er jetzt die Wahrheit aller Dinge sah.
Ein anderer Arzt betrat den Block. Aber mein Vater wollte nicht mehr aufstehen, er wusste, dass es nutzlos sein würde.
Im übrigen kam dieser Arzt nur, um die Kranken zu erledigen. Ich hörte ihn schreien, sie seien Faulpelze, die nur im Bett bleiben wollten. Einen Augenblick dachte ich daran, ihm an den Hals zu springen und ihn zu erwürgen. Aber ich hatte weder den Mut noch die Kraft dazu. Ich war an den Todeskampf meines Vaters gefesselt. Meine Hände waren so verkrampft, dass sie schmerzten. Den Arzt und die anderen erwürgen! Die Welt in Brand stecken! Mörder meines Vaters! Aber der Schrei blieb mir in der Kehle stecken.
Von der Brotausgabe zurückkehrend, fand ich meinen Vater in Tränen wie ein Kind.
»Mein Sohn, sie schlagen mich!«
»Wer?«
Ich glaubte, er sei im Delirium.
»Er, der Franzose … Und der Pole … Sie haben mich geschlagen.«
Noch eine Wunde im Herzen, noch einen Hass mehr, noch einen Grund weniger, zu leben.
»Elieser … Elieser … sag’ ihnen, sie sollen mich nicht schlagen … Ich habe ihnen doch nichts getan … Warum schlagen sie mich …?«
Ich begann auf seine Nachbarn einzuschimpfen. Sie lachten mich nur aus. Ich versprach ihnen Brot und Suppe. Sie lachten nur. Dann wurden sie zornig und sagten, sie könnten meinen Vater nicht mehr ertragen, der nicht mehr aufstehen könne, um draußen seine Notdurft zu verrichten.
Am nächsten Morgen klagte er, man habe ihm seine Brotration gestohlen.
»Während du schliefst?«
»Nein, ich schlief nicht. Sie haben mich überfallen und mir mein Brot aus der Hand gerissen … Sie haben mich noch einmal verprügelt … Ich kann nicht mehr, mein Sohn … Wasser, bitte etwas Wasser …«
Ich wusste, dass er nicht trinken durfte. Aber er bettelte so lange, bis ich nachgab. Wasser war Gift für ihn, aber was konnte ich sonst für ihn tun? Mit oder ohne Wasser ging es ohnehin bald mit ihm zu Ende …
»Hab du wenigstens Erbarmen mit mir …«
Erbarmen mit ihm haben! Ich, sein einziger Sohn!
So verstrich eine Woche.
»Ist das dein Vater?« fragte mich der Blockälteste.
»Ja.«
»Er ist schwerkrank.«
»Der Arzt will nichts für ihn tun.«
Er sah mir in die Augen:
»Der Arzt kann nichts mehr für ihn tun, und du auch nicht.«
Er legte seine schwere, behaarte Hand auf meine Schultern und fügte hinzu:
»Hör mich an, Kleiner. Vergiss nicht, dass du in einem Konzentrationslager bist. Hier muss jeder für sich kämpfen und darf nicht an die anderen denken. Nicht einmal an seinen eigenen Vater. Hier gibt es weder Vater noch Bruder noch Freund. Hier lebt und stirbt jeder für sich. Ich gebe dir einen guter Rat: gib deinem alten Vater keine Brot- oder Suppenration mehr. Für ihn kannst du nichts mehr tun. Und du mordest dich dabei nur selbst. Du müsstest im Gegenteil auch seine Ration essen …«
Ich hörte ihn an, ohne ihn zu unterbrechen. Er hatte recht, dachte ich insgeheim, ohne es mir eingestehen zu wollen. Zu spät, deinen alten Vater zu retten, sagte ich mir. Statt dessen könntest du zwei Rationen Brot, zwei Teller Suppe haben …
Ich dachte es nur den Bruchteil einer Sekunde, und doch fühlte ich mich schuldig. Ich lief und holte ein paar Löffel Suppe und gab sie meinem Vater. Aber er zeigte kein Verlangen danach, er wollte nur Wasser.
»Trink kein Wasser, iss die Suppe …«
»Ich verbrenne … Warum bist du so böse mit mir, mein Sohn? Wasser …«
Ich brachte ihm Wasser. Dann verließ ich den Block, um anzutreten, machte jedoch auf halbem Wege kehrt und legte mich auf die Pritsche über ihm. Die Kranken durften ja im Block bleiben. Ich war also krank. Ich wollte meinen Vater unter keinen Umständen verlassen.
Bis auf das Stöhnen herrschte ringsum tiefe Stille. Draußen riefen die SS-Männer Befehle. Dann schritt ein Offizier die Betten ab. Mein Vater flehte:
»Mein Sohn, Wasser … Ich verbrenne … Mein Bauch …«
»Ruhe, dort!« brüllte ein Offizier.
»Elieser«, rief mein Vater in einem fort, »Wasser …«
Der Offizier trat heran und schrie, er solle den Mund halten. Aber mein Vater hörte ihn nicht und rief in einem fort. Der Offizier schlug ihm mit seinem Knüppel auf den Kopf.
Ich rührte mich nicht. Ich fürchtete, mein Körper fürchtete, auch einen Schlag zu bekommen.
Nun röchelte mein Vater, und ich hörte meinen Namen:
»Elieser.«
Ich sah ihn noch stoßweise atmen und rührte mich nicht.
Als ich nach dem Appell von meiner Pritsche stieg, konnte ich noch seine zitternden Lippen murmeln sehen. Über ihn gebeugt, betrachtete ich ihn eine gute Stunde lang, um sein blutüberströmtes Gesicht, seinen zerschmetterten Schädel im Gedächtnis zu bewahren.
Dann war Nachtruhe, und ich kletterte auf meine Pritsche über meinem Vater, der noch immer lebte. Es war der 28. Januar 1945.
Am 29. Januar erwachte ich im Morgengrauen. An Stelle meines Vaters lag ein anderer Kranker auf der Pritsche unter mir. Vermutlich hatte man ihn vor Tagesanbruch in die Gaskammer gebracht. Vielleicht atmete er noch …
Es wurden keine Gebete über seinem Grab gesprochen, zu seinem Andenken wurde keine Kerze entzündet. Sein letztes Wort war mein Name gewesen. Ein Ruf, den ich nicht beantwortet hatte.
Ich weinte nicht, und es tat mir weh, nicht weinen zu können. Aber ich hatte keine Tränen mehr. Hätte ich mein schwaches Gewissen bis ins Tiefste erforscht, vielleicht hätte ich dort etwas wie das Wörtchen »endlich frei!« entdeckt …
* Wiesel meint offensichtlich den Schornstein des Krematoriums. In Buchenwald existierte zu keinem Zeitpunkt eine Gaskammer.
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