Katrin Lemke – »Zeitfenster – Geschichten vom richtigen Moment«

Personen

Katrin Lemke

Ulrich Kaufmann

Ort

Jena

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrich Kaufmann

Thüringer Literaturrat e.V.

Ulrich Kauf­mann

Das Spü­ren der »rich­ti­gen Momente«

 

Ein Jahr nach ihrem erfolg­rei­chen Debüt erscheint Kat­rin Lem­kes zwei­ter Erzähl­band. Eine Kost­probe davon ist im vor­lie­gen­den »Palm­baum« zu fin­den. Das klein­for­ma­tige Buch mit sechs Tex­ten ist zwei­ge­teilt. Die erste Hälfte bie­tet auto­bio­gra­phi­sche Geschich­ten, die zweite ein Dich­te­rin­nen-Tref­fen sowie zwei Erzäh­lun­gen mit anti­ken Stoffen.

Die Autorin, die es als Kind aus dem Bran­den­bur­gi­schen ins Thü­rin­gi­sche ver­schlug, schil­dert in der Ein­gangs­ge­schichte »Kommt das Kind raus?« ein glück­li­ches Mäd­chen. In der Jenaer Frau­en­gasse stif­tet das Nach­bar­kind Regina (die »Brü­cken­baue­rin«) erfreu­lich schnell eine Freund­schaft. Der Titel »Kommt das Kind raus?« ver­weist gewis­ser­ma­ßen schon auf den Fol­ge­text. In »Unter Was­ser« wird von den Mög­lich­kei­ten und Schwie­rig­kei­ten einer jun­gen Frau in den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren erzählt. Galt es doch, Schwan­ger­schaft und Stu­dium zeit­gleich zu bewäl­ti­gen. Nach beträcht­li­chen Tur­bu­len­zen und zu aller Über­ra­schung kam gar gleich ein Zwil­lings­paar zur Welt.

Der Schrei­ber die­ser Zei­len kann als Kom­mi­li­tone der Autorin bezeu­gen, dass sie in der sati­risch-iro­ni­schen Erzäh­lung von der »Fre­cken­hors­ter Hebe­rolle« unsere Zeit als Jenaer Ger­ma­nis­tik­stu­den­ten »wahr­heits­ge­treu« und atmo­sphä­risch ein­fängt. Im Zen­trum ist von einem nam­haf­ten Media­vis­tik-Pro­fes­sor die Rede, der von Päd­ago­gik und Metho­dik indes­sen weit weni­ger ver­stand. Seine Vor­le­sun­gen waren spar­sam besucht. Als Prü­fer – und davon erzählt Kat­rin Lemke – erwies er sich als großzügig.

Beson­ders beein­dru­ckend ist die längste Geschichte »Dis­pla­ced Per­sons«. Der Unter­ti­tel »Für Freunde der Lite­ra­tur­ge­schichte« – den Gün­ter de Bruyn sei­nen »Mär­ki­schen For­schun­gen« bei­gab – hätte auch hier gepasst. Lemke erfin­det ein früh­mor­gend­li­ches Dich­te­rin­nen-Tref­fen im kal­ten Okto­ber 1947, das sie auf dem ungast­li­chen Bahn­hof in Han­no­ver ansie­delt. Es begeg­nen sich die gebrech­li­che Ricarda Huch, Anna Seg­hers und Eli­sa­beth Lang­gäs­ser. Tat­säch­lich tra­fen sich diese Autorin­nen Wochen vor­her auf dem berühm­ten Ber­li­ner Schrift­stel­l­er­tref­fen, dem Ricarda Huch als Ehren­vor­sit­zende vorstand.

Wenn es um Ricarda Huch geht, die im Zen­trum der Erzäh­lung steht, hat Kat­rin Lemke als Huch-Bio­gra­phin (2014) so etwas wie ein »Heim­spiel«. Die Fami­lien Huch und Lemke waren bereits vor 1945 mit­ein­an­der befreun­det. Die Huch will 1947 zu ihrer Fami­lie nach Frank­furt a.M. zurück, die Seg­hers zu ihren Kin­dern nach Paris, in ihre rhein­hes­si­sche Hei­mat zieht es Eli­sa­beth Lang­gäs­ser. Auf dem Bahn­hof, wäh­rend einer »Tee-Runde«, reflek­tie­ren die drei Frauen ihr Leben, die Situa­tion im zer­trüm­mer­ten Deutsch­land, sie spre­chen von lite­ra­ri­schen Plä­nen und den­ken über ihre sehr ver­schie­de­nen Poe­ti­ken nach. Seg­hers und Lang­gäs­ser sind gleich­alt­rig, sie kom­men beide aus der »Main­zer Ecke«. Es eint sie ein ähn­li­ches Schick­sal: Beide ver­lo­ren in der Nazi­zeit enge Ange­hö­rige. Die Eine, Kom­mu­nis­tin, Jüdin, floh mit ihren Kin­dern nach Mexiko. Die andere Schrift­stel­le­rin, katho­lisch geprägt, ver­blieb in der innere Emi­gra­tion, im unge­lieb­ten Berlin.

Zu Beginn der Begeg­nung bedau­ert die greise Schrift­stel­le­rin, dass es »zum Ken­nen­ler­nen zu spät« sei. Die Geschichte selbst zeigt, dass die­ses Tref­fen zwar spät, aber nicht zu spät statt­fin­det. Für die Betei­lig­ten (und die Leser) ist es noch der »rich­tige Moment«.

Um die­ses Momen­tum geht es auch in den dich­ten, sich kon­trär gegen­über­ste­hen­den Erzäh­lun­gen »Die Höhle des Mor­pheus« und »Pene­lo­pes Zeit«. Lemke schil­dert (wie die große Seg­hers zuvor) Frau­en­schick­sale aus anti­ker Zeit heu­tig, ohne sie zu über­frach­ten. Die freund­li­che und letzte Geschichte erzählt, wie Alk­mene in der Höhle des Mor­pheus auf Zeus wartet.

Pene­lope und ihr Sohn hin­ge­gen hat­ten zwei Jahr­zehnte ver­geb­lich auf Odys­seus gewar­tet. »Kai­ros (die grie­chi­sche Gott­heit für den »rich­ti­gen Moment« – U.K.) ist vor­über­ge­sprun­gen, Pene­lope sieht ihm hin­ter­her. Sie wünscht, Odys­seus wäre nicht gekommen.«

Einen so düs­te­ren Schluss wollte Kat­rin Lemke ihren Lesern offen­kun­dig am Ende des Buches erspa­ren. Und so steht diese Erzäh­lung am Beginn des zwei­ten Abschnitts.

Eine ein­drucks­volle Col­lage von Anne Busch ziert die­ses gelun­gene Bändchen.

 

  • Kat­rin Lemke: Zeit­fens­ter – Geschich­ten vom rich­ti­gen Moment. Domi­no­Plan. Jena 2021, 80 Sei­ten. 8,90 Euro.
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