Johann Wolfgang Goethe – »Dichtung und Wahrheit«

Personen

Johann Wolfgang von Goethe

Ulrich Kaufmann

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrich Kaufmann

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Ulrich Kaufmann

»sim­pel und doch außer­or­dent­lich« – Eine Mis­zelle zu Zu Len­zens lyri­schem »Epi­ta­phium«

 

Im elf­ten Buch von »Dich­tung und Wahr­heit« (1814) blickt Goe­the auf seine frü­hen Straß­bur­ger Jahre. Die Rede ist von der Begeis­te­rung der jun­gen Dich­ter für Wil­liam Shake­speare. Er erin­nert sich an Jakob Michael Rein­hold Lenz, den er in spä­te­ren Pas­sa­gen sei­ner Rück­schau eher abfäl­lig betrach­tet. Er sei »als ein vor­über­ge­hen­des Meteor« nur »augen­blick­lich über den Hori­zont der deut­schen Lite­ra­tur« gezo­gen, »ohne im Leben eine Spur zurückzulassen«.

Hier, im elf­ten Buch, redet Goe­the anders. Mit Respekt spricht er von Len­zens »Anmer­kun­gen übers Thea­ter. Nebst ange­häng­ten über­setz­ten Stück Shake­spears.« (1774) Gemeint ist seine Über­tra­gung der Komö­die »Love’s Labour’s Lost« (»Ver­lo­rene Lie­bes­müh«, 1594/95), wel­cher der Nach­dich­ter den Titel »Amor vin­cit omnia« (»Die Liebe über­win­det alles«) gab. Er behan­dele, meint Goe­the, »sei­nen Autor mit gro­ßer Frei­heit, ist nichts weni­ger als knapp und treu, aber er weiß sich die Rüs­tung oder viel­mehr die Pos­sen­ja­cke sei­nes Vor­gän­gers« gut anzu­pas­sen. »Die Absur­di­tä­ten des Clowns mach­ten beson­ders unsere ganze Glück­se­lig­keit, und wir prie­sen Len­zen als einen begüns­tig­ten Men­schen, da ihm jenes ‚Epi­ta­phium‘ des von der Prin­zes­sin geschos­se­nen Wil­des fol­gen­der­ma­ßen gelun­gen war:

Die schöne Prin­zes­sin schoß und traf
Eines jun­gen Hirsch­leins Leben;
Es fiel dahin in schwe­ren Schlaf,
Und wird ein Brät­lein geben.
Der Jagd­hund boll !  Ein L zu Hirsch,
So wird es dann ein Hirschel;
Doch setzt ein römisch L zu Hirsch,
So macht es fünf­zig Hirschel.
Ich mache hun­dert Hir­sche draus,
Schreib Hirschell mit zwei LLen.«

Ein Blick in die eng­li­sche Ori­gi­nal­aus­gabe von Alex­an­der Pope (1725 ) zeigt, dass es in der zwei­ten Szene des vier­ten Akts kein Gedicht gibt. Lenz hat diese locker-lus­tige Lei­chen­rede erfun­den und kunst­voll in die Dra­men­szene »Ein Schuß im Walde« gestellt. Holo­fer­nes bie­tet Natha­nael, dem Dorf­pfar­rer, dem stu­dier­ten Theo­lo­gen (wie Lenz) an, ihm ein »epi­ta­phieum ex tem­pore« auf das tote Tier vor­zu­tra­gen. Natha­nael, nach­dem er obi­gen Text gehört hat, schlägt in die Hände: »Ein rares Talent.« Der Vor­tra­gende ergänzt, sein Text sei »sim­pel und außer­or­dent­lich«. Die von Lenz gedich­te­ten und in die Hand­lung ver­wo­be­nen zehn Verse wer­den im sich anschlie­ßen­den Komö­di­en­text Gegen­stand des Dia­logs. Der Vor­tra­gende erläu­tert gewis­ser­ma­ßen seine Poetik.

In der vor­letz­ten Vers­zeile erscheint ein lyri­scher Spre­cher (»Ich mache hun­dert Hir­sche draus«), der abschlie­ßend den Sprach­witz stei­gert und im letz­ten Wort wohl gar mit dem Namen Lenz (»LLen«) spielt. Bei dem leich­ten Umgang mit dem Text knüpft Lenz, der erste deut­sche Über­set­zer die­ses Stü­ckes, mit Shake­speare an die Steg­reif­greif­ko­mö­die der ita­lie­ni­schen Commedia dell’ arte an. In sei­ner Adap­tion betont er vor allem das Derb-Komi­sche. Iro­nisch zeigt er den Sieg der Natur über die Künst­lich­keit der höfi­schen Welt. Bereits in sei­ner Königs­ber­ger Stu­den­ten­zeit hat sich Jakob Lenz – ange­regt durch Schrif­ten Her­ders – Shake­speare genä­hert, zunächst dem Komö­di­en­schrei­ber. »Ver­lo­rene Lie­bes­müh« gehört nicht zu Shake­speares Haupt­wer­ken. In schma­le­ren Lese­aus­ga­ben und übli­chen Dra­men­füh­rern ist es nicht ver­tre­ten. Den­noch hat Adrian Lever­kühn, Prot­ago­nist in Tho­mas Manns Roman »Dok­tor Faus­tus«, die­ses Drama ver­tont. Von 1999 gibt es in der Regie von R. Bra­nagh eine fil­mi­sche Musical-Version.

Der Nach­dich­ter Lenz wählte einen Text, der kei­nes­wegs eine »reine« Komö­die ist, kei­nen klas­si­schen Komö­di­en­schluss auf­weist: Der Vater der (fran­zö­si­schen) Prin­zes­sin stirbt plötz­lich. Alle drei der ein­ge­fä­del­ten Hoch­zei­ten sol­len (der Trauer wegen) um ein Jahr ver­scho­ben wer­den. Wäh­rend sich das große eng­li­sche Vor­bild für Komik oder Tra­gik ent­schied, wird für Lenz der stän­dige Umschlag von Komik und Tra­gik cha­rak­te­ris­tisch. Sein »Hof­meis­ter« von 1774 gilt daher als Mus­ter­bei­spiel einer Tragikomödie.

Erstaun­lich, wie enthu­si­as­tisch sich der alte Goe­the an diese jugend­li­che Lust am Tra­gi­ko­mi­schen erin­nert, die ihn einst mit Lenz ver­band: »Die Nei­gung zum Absur­den, die sich frei und unbe­wun­den bei der Jugend zu Tage zeigt, nach­her aber immer mehr in die Tiefe zurück­tritt, ohne sich des­halb gänz­lich zu ver­lie­ren, war bei uns in vol­ler Blüte, und wir such­ten auch durch Ori­gi­nal­späße unsern gro­ßen Meis­ter zu fei­ern. Wir waren sehr glo­rios, wenn wir der Gesell­schaft etwas der Art vor­le­gen konn­ten, wel­ches eini­ger­ma­ßen gebil­ligt wurde, wie zum Bei­spiel fol­gen­des auf einen Ritt­meis­ter, der auf einem wil­den Pferde zu Scha­den gekom­men war:

Ein Rit­ter wohnt in die­sem Haus,
Ein Meis­ter auch daneben;
Macht man davon einen Blumenstrauß,
So wird’s einen Ritt­meis­ter geben.
Ist er nun Meis­ter von dem Ritt,
Führt er mit Recht den Namen;
Doch nimmt der Ritt den Meis­ter mit;
Weh ihm und sei­nem Samen!

Über sol­che Dinge ward sehr ernst­haft gestrit­ten, ob sie des Clowns wür­dig oder nicht, und ob sie aus der wahr­haf­ten rei­nen Nar­ren­quelle geflos­sen, oder ob etwa Sinn und Ver­stand sich auf eine unge­hö­rige und unzu­läs­sige Weise mit ein­ge­mischt hätten.«

Wer hätte gedacht, dass der späte Goe­the, der Klas­si­ker, sei­nen eins­ti­gen Freund des Sturm und Drang, den er selbst aus Wei­mar ver­trei­ben ließ, für des­sen Absur­di­tä­ten nicht schmäht, son­dern lobt und ihn, den ver­lo­sche­nen Kome­ten, als das eigent­li­che Genie preist: »Nie­mand war viel­leicht eben des­we­gen fähi­ger als er, die Aus­schwei­fun­gen und Aus­wüchse des Shak­speare­schen Genies zu emp­fin­den und nachzubilden.«

Nur eine Frage bleibt: Warum ver­steckt sich Len­zens klei­nes Steg­reif­ge­dicht, das locker und spie­le­risch mit dem Tod umgeht, bis heute in Goe­thes Auto­bio­gra­fie bzw. in der kaum gespiel­ten Stück­über­set­zung. Gehört es nicht längst in jede Prä­sen­ta­tion sei­ner Gedichte?

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