Jan Röhnert – » Die Wasser der Causses«

Person

Jan Volker Röhnert

Ort

Gera

Thema

Wasser – Wald – Asphalt

Autor

Jan Volker Röhnert

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Vor zwan­zig Jah­ren, im Spät­som­mer 2001, trampte ich mit N. die Auver­gne hinab, ohne je lange an einem Ort Sta­tion zu machen, wir woll­ten in den Süden, die Pro­vence, St. Jean du Gard im medi­ter­ra­nen Teil der Céven­nen errei­chen, den Kamm des Zen­tral­mas­sivs über­win­den. Wir waren im Süden Cler­mont-Fer­rands los­ge­gan­gen, ein Abitu­ri­ent, der uns auf Deutsch anre­dete, lud uns ins Wochen­end­haus sei­ner Eltern ein, wir ste­hen mit der Fami­lie im Freien beim Apé­ri­tif. Am nächs­ten Mor­gen wer­den wir drei­mal im Auto mit­ge­nom­men, bis zum Vor­ort Aydat von einer Frau mit klei­nem Mäd­chen, dann die Berge hin­auf einem jun­gen Kerl, schließ­lich, nach­dem wir eine län­gere Stre­cke gelau­fen sind, einem Pär­chen auf dem Weg zum Cam­ping­platz, der Typ öff­net uns den Kof­fer­raum, aus den Boxen eine laute emo­tio­nale Musik, die mich an die Rim­baud-Inter­pre­ta­tio­nen von Cathe­rine Le Fores­tier erin­nert, sie sagen, es sei das erste Mal über­haupt, dass sie Anhal­ter im Wagen hät­ten. Am Mit­tag sind wir am Lac du Cham­bon, Ang­ler am Ende der gro­ßen Ferien, eine Bade­stelle mit Leu­ten auf Was­ser­tre­tern, Wan­de­rer gucken auf unsere Mahlzeit.

100 Meter über Cham­bon hält ein Renault mit zwei Frauen, die einen Hund im Kof­fer­raum mit­füh­ren, er muss sich den Platz mit unse­ren Ruck­sä­cken tei­len, was ihm zunächst zum Bel­len, dann zum Jau­len, spä­ter zu hef­ti­gem Hecheln ani­miert. Die bei­den las­sen uns am Col du Croix St. Morand her­aus, einem gran­dio­sen Pla­teau mit Gip­fel­weit­sich­ten: Hoch­land-/Al­pen­land­schaft, Enzian, wilde Stief­müt­ter­chen, Ehren­preis, ver­schie­dene Fal­ter, unter denen ein grau­ge­zeich­ne­ter mir auf­fällt, ein Stieg­litz, am Was­ser­fall für eine Sekunde der Abglanz blauen Eis­vo­gel­ge­fie­ders. Am Abend haben wir das Hotel du Val­lée in Le Mont Dore erreicht, kom­men von der Wan­der­route Grande Ran­don­née 4 über Wei­den Wie­sen Täler Wäl­der in den lang­ge­streck­ten Ort hinab. Die ehe­ma­lige Kur­stadt erin­nert mich an einen Typen bei Balzac, der, von den Pari­ser Aus­schwei­fun­gen ent­kräf­tet, in einen Bade­ort der Auver­gne abge­scho­ben wor­den ist. Am Abend hal­ten wir Pick­nick am Was­ser­fall, der auch vom Zim­mer zu erbli­cken ist, bei diver­sen Käse­sor­ten, Wein, Toma­ten, Melone. Beim Abstieg scheint die Sonne aus zer­flie­ßen­dem Gewölk durch ein Vier­tel Mond. Gegen­über das Mas­siv des Puy de Janzy. Die Land­schaf­ten zer­flie­ßen, sam­meln, stauen sich in Tälern, erwei­tern, ver­ei­ni­gen, ver­än­dern sich wie Fluss­mä­an­der. Unweit liegt der Ursprung der Dordo­gne. In schö­ner Unge­wiss­heit die Frage, wie weit wir mor­gen kom­men wer­den. Vor zwei­hun­dert Jah­ren könnte Höl­der­lin hier hin­durch­ge­gan­gen sein. Auf der Place de la Répu­bli­que eine graue Tor­ein­fahrt, über der schräg das Schild WC baumelt.

Am and­ren Mor­gen sit­zen wir bis zur hin­ter Le Mont Dore sich erstre­cken­den Kamm­höhe im Wagen eines jun­gen Typen, durch­que­ren dann zu Fuß den Wald – stei­gen erst ins Tal hin­un­ter, dann wie­der hin­auf, mit Aus­sicht auf die umlie­gen­den Hoch­land­kämme. Bis zur nächs­ten Kreu­zung im Wagen einer jun­gen Fami­lie, danach bei einem schwarz­haa­ri­gen Typen mit­ge­fah­ren, der erst Porte­mon­naie, Essen, Wein vom Sitz räu­men muss. Im Radio erör­tert jemand die lite­ra­ri­sche Qua­li­tät des jun­gen Balzac. Unser Fah­rer zeigt auf eine Gruppe schö­ner schwarz­fel­li­ger Esel am Wegrand.

Mit­tag am Gra­s­ufer des Sees von La Tour d’Auvergne, ein toter Fisch treibt oben­auf. Grau­ge­sich­ti­ger alter Stadt­kern im Mit­tel­ge­birge, um die Kir­che rau­schen ein paar Wagen, plan­schende Kin­der in der Fon­täne, Mit­tags­stille eines Som­mer­tags. Die Land­schaft ein Haiku: Die Kuh dort oben / Stumm, ihr Auge ein Sucher / Auf uns gerich­tet. Die Auver­gne ist vul­ka­ni­schen Ursprungs, dunkle Basalt­ke­gel domi­nie­ren die Gegend.

Der Nach­mit­tag ist ein Durch­ein­an­der von Wan­dern und Tram­pen, es ver­setzt uns zwi­schen durch­wan­der­ten und durch­fah­re­nen Gegen­den in einen rausch­haf­ten Tau­mel. Hin­ter La Tour d’Auvergne liest uns eine Frau in Eile auf, sie arbei­tet bei der Post, setzt uns in einem Ort namens Bagnols ab. Die Gegend sanf­ter, wel­li­ger, keine gigan­ti­schen stei­ni­gen Kamm­ket­ten mehr, eher wie das, was ich mir unter dem Limou­sin vor­ge­stellt habe, und der Ort, den wir als nächs­tes ansteu­ern, Bort-les-Orgues, liegt dann auch im Dépar­te­ment Cor­rèze, das zum Limou­sin gehört. Ein älte­rer schwarz­haa­ri­ger Typ mit Son­nen­brille nimmt uns bis zum Cha­teau du Val mit, ein impo­san­tes, gleich­mä­ßig gebau­tes Renais­sance­schloss, jetzt hart am Ufer des neuen Dordo­gne-Stau­sees etwas deplat­ziert wir­kend. Ein Fran­zose, mit zwei blond­zöp­fi­gen Hol­län­de­rin­nen unter­wegs, beför­dert uns bis ins zugige, ben­zin­stin­kende Bort-les-Orgues. Ent­schlos­sen, hier nicht Halt zu machen, pas­sen wir den letz­ten TER-Bus ab, des­sen ein­zige Insas­sen wir sind, es geht durch wilde ein­same Land­schaf­ten, im braun­schwar­zen, auf einem Tele­gra­phen­mas­ten hocken­den Gefie­der ver­meine ich einen Adler zu erken­nen. Riom-ès-Mon­ta­gne: zuviele Schwei­ne­ställe, Tank­stel­len, an einem Super­markt das Schild nach Murat. Bis zum Puy de Mary nimmt uns ein Ita­lie­ner mit sei­ner um etli­ches jün­ge­ren asia­ti­schen Frau mit. Wir gehen eine lange Stre­cke, über weite grüne Wei­de­flä­chen unter blass­blauem Him­mel, aus dem es hin und wie­der nie­selt. Am Stra­ßen­rand tote Schmet­ter­linge und eine tote Fle­der­maus. Dann hal­ten Mann und Frau mit älte­rem Wagen, Dépar­te­ment­kenn­zei­chen 88, las­sen uns an der Kreu­zung nach Ségur her­aus, wei­tes fried­li­ches Tal, das wir durch­que­ren, an einer Fel­sen­ka­pelle, bei der eine Stute neben ihrem Foh­len liegt, vor­bei. Zufrie­de­nes Gefühl, das sich noch stei­gert, als ich vorn im Wagen sitze und in den Hori­zont hin­ein­schaue. Wir sind schon weit im Süden gelan­det, im Städt­chen Murat um zehn vor sie­ben in der Abend­sonne, aus grü­nen Berg­mas­si­ven setzt sich das Land zusam­men, in das wir mit der jun­gen Frau, die uns noch bis zur Stadt fährt, obwohl sie ein ande­res Ziel hat, hin­ab­glei­ten. Auf dem Zim­mer, 140 Franc die Nacht, ein alter­tüm­li­cher geripp­ter roter Bett­be­zug, alter­tüm­li­ches Holz­imi­tat, Kirsch­zweige als Tapetenmuster.

In Murat das nächt­li­che Don­ner­ge­räusch vor­bei­schep­pern­der Fahr­zeuge, man steht auf, das WC um die Ecke ein schä­bi­ger Ver­schlag, an der Spü­lung kle­ben die Worte »tirer douce­ment«, der Akkord der Kirch­glo­cken ahmt den des Big Ben nach. Mor­gens die Fah­rer, die vor der Bar hal­ten, las­sen die Moto­ren ihrer Las­ter lau­fen, neh­men einen kur­zen Kaf­fee, sind ver­schwun­den. Mit der Bahn nach Le Liom, um zum Puy Mary zu wan­dern. Das Emblem der Region Mi-Pyré­nées mit gel­bem gleich­schenk­li­gem Kreuz auf rotem Grund ziert die Wag­gons. Wir pas­sie­ren einen ver­las­se­nen Win­ter­sport­ort mit Draht­seil­bahn, Ski­lift, außer Betrieb. Den Puy Mary lange nicht erreicht, nicht ein­mal sei­nen Kamm. Die Wie­sen erin­nern an Kind­heit: kräf­ti­ger süßer Gras­ge­ruch wie von Taub­nes­seln. Eine Alm­hütte, Kühe auf stei­ni­gen Wegen gra­sen die Hoch­flä­che ab. Pick­nick im schwer zu fin­den­den Schat­ten. Die schrun­di­gen, baum­lo­sen, braun-grau-stei­ni­gen Fels­wände des Tals. Gegen fünf im rum­peln­den Mi-Pyré­nées-Zug zurück nach Murat. Zwei Mäd­chen mit schwe­ren Ruck­sä­cken, in Wan­der­stie­feln und lan­gen flat­tern­den Hosen stei­gen zu.

Auf dem Vul­kan­hü­gel gegen­über der Stadt die roma­ni­sche Kapelle über einer Sied­lung alter Land­häu­ser namens Bre­dons. Vom Kra­ter­rand die grüne Ebene im abend­li­chen Gegen­licht. Die Berg­ket­ten, in denen die Sonne ver­sinkt, nahezu schwarz. Eine Esche, durch deren Blatt­lit­zen die Strah­len sich bre­chen. Zu Abend im Café de la Paix eine Renais­sance­mahl­zeit, wie sie Rabel­ais’ Gar­gan­tua ver­speist: eine Art Kut­teln oder Fle­cke, auf­ge­koch­ter Schafslabmagen.

Andern­tags durch Les Mar­ge­r­i­des, gro­ßes ein­sa­mes Wald­ge­biet, Nadel­holz, Täler, Berg­rü­cken, Kuh­wei­den, Gehöfte ohne hör­bare Anwe­sen­heit von Men­schen. Zur Dun­kel­heit der Höhen­züge, wo sich vor sech­zig Jah­ren die Résis­tance ver­schanzte, pas­sen die dun­kel auf­glimmen­den Wol­ken, die zunächst für Schwüle sor­gen. Wir lau­fen, lau­fen, lau­fen. Keine Men­schen­seele, kilo­me­ter­lang kein Wagen, der für uns hält. Dann bremst eine Art Bauer oder Jäger, schlam­mige Gum­mi­stie­fel, rot unter­lau­fe­nes Auge, bemerkt mit gut­mü­ti­gem Zynis­mus, es sei wohl nicht ein­fach, heut­zu­tage mit­ge­nom­men zu wer­den. Und: Es sei bes­ser, wir Deut­schen wür­den sie mit Ruck­sä­cken statt mit Geweh­ren über­fal­len, und er fügt hinzu: »je sais que c’est une mau­vaise bla­gue«. Nach­dem er uns wie­der der Straße über­las­sen hat, beglei­ten uns auf einer aus­ge­dehn­ten Weide Pferde, ein Schim­mel und ein Brau­ner, die mit ihren Nüs­tern immerzu nicken. Lange, lange hält nie­mand mehr vor uns. Das nächste Dorf, dann wie­der Wiese, Wald. Mit einem Mal hal­ten gleich zwei Wagen, wir ent­schei­den uns für den weni­ger vol­len. Der Mann schwarz­haa­rig, süd­li­cher Schnau­zer, Son­nen­brille, hupt immerzu, wenn wir Kuh­herde pas­sie­ren. Die Frau fragt, ob wir ihr nicht zustimm­ten, wie schön doch Frank­reich sei. Sie komme aus Paris, er aus Per­pi­gnan, wo sie seit drei Jah­ren leb­ten. Schlimme Ser­pen­ti­nen­fahrt nach Lan­geac, stän­dige Win­dun­gen, dar­über Gewit­ter­wol­ken. Beim Cam­ping­platz am Ufer des Allier hal­ten wir Pick­nick mit Wein, Käse, Zwie­beln. Die Strö­mung des Flus­ses ist so stark, dass man sich schwim­mend nur auf der­sel­ben Höhe hal­ten, jedoch nicht vor­wärts gelan­gen kann. Fried­li­che Abend­stim­mung mit auf­ge­ris­se­nem Gewölk, das wie Wäsche in Fet­zen flattert.

Spä­ter Pas­tis im Zen­trum von Lan­geac. Der Wirt geneh­migt sich eine him­beer­rote Kugel Eis. Lächelt behä­big-ver­schmitzt zu uns her­über, in einem Plas­te­stuhl vor dem Ein­gang der Bar aus­ge­streckt. Ein Bild süd­fran­zö­si­scher Gelas­sen­heit. Lau­tes Vogel­ge­kreisch: Hals­band­sit­ti­che in einem ange­strahl­ten wei­ten Platanenschirm.

Am Mor­gen auf­ge­wühl­ter Wol­ken­him­mel, wir neh­men den Zug durch die Allier-Schluch­ten. Der Express Cler­mont-Nîmes hält eine Vier­tel­stunde bei Lango­gne, ein Bahn­hof aus Abriss­hal­len. Das Mäd­chen, das wäh­rend der Fahrt durch das Land­schafts­ge­woge schlief, blät­tert nun in einer Illus­trier­ten. Der Renais­sance­mensch bevor­zugte den Rea­lis­mus einer beweg­ten, bun­ten Außen­welt, der Mensch von heute fühlt sich in der Second­hand­welt aus Gewer­be­zo­nen, Super­märk­ten, Hoch­glanz daheim. Erst inmit­ten die­ser Ober­flä­chen ‚ent­deckt‘ er für sich die Natur. Der Schaff­ner lässt es durch­ge­hen, dass wir eine Sta­tion über die Stre­cke hin­aus, für die wir gelöst haben, aus­stei­gen wol­len. Will­kom­men, Cévennen.

Nach lan­gem Gehen sit­zen wir die kurze Weg­stre­cke bis zum am Fuss des Mont Lozère begin­nen­den Gebirgs­pass im Deu­x­chevaux zweier Män­ner, die in die Pilze unter­wegs sind, »les cèpes«, Stein­pilze, wie­der­ho­len sie, ein Alter mit Sohn oder Schwie­ger­sohn, schweig­sam, ver­schlos­sen, kaum dass wir mit­ein­an­der vom schlech­ten Wet­ter reden, das habe den Men­schen frü­he­rer Zei­ten nichts aus­ge­macht, »durs et résistants«, wie sie gewe­sen seien. Den Rest des Wegs zu Fuß, nie­mand begeg­net uns, das Dépar­te­ment Lozère mit vier­zehn Ein­woh­nern auf dem Qua­drat­ki­lo­me­ter das am wenigs­ten besie­delte Gebiet Zentraleuropas.

Bis Le Bas­tide hatte uns der Zug durch ange­neh­men Wald geschau­kelt, am Fens­ter wirkt die Ein­sam­keit der Céven­nen schön. Aber auf der Straße sind wir unge­schützt: nichts, nie­mand kommt vor­über, nir­gends. Hoch­ebe­nen, runde Berg­rü­cken, Hei­de­kraut, dann wie­der Misch­wald, Wie­sen mit Kühen dar­auf ver­streut, Fluss­läufe, graue, aus Stein­bro­cken gemau­erte Häu­ser ohne Bewoh­ner, pfei­fen­der Wind, eisig auf dem Kamm. Him­mel, der Regen ver­heißt. Auf einer Wiese über paar Häu­sern mit Scheu­nen eine Schaf­herde, die ein Hund mit trä­nen­dem Auge bewacht, der auf uns zukommt, als wir, vom Tra­gen der Ruck­sä­cke erschöpft, die Pass­straße hin­auf stap­fen. Von unten grinst ein Schä­fer, braun­schwar­zes, sonn­ver­brann­tes Gesicht, schwarze Kluft, was er uns zuruft wirkt wie ein schwach­sin­ni­ger, unver­ständ­li­cher Schrei, selt­sam unwirk­lich, das Ent­set­zen packt uns, für einen Moment aus der Zeit gefal­len zu sein und einem der letz­ten Satyrn, die die Her­den des gro­ßen Pan bewa­chen, gegenüberzustehn.

Auf dem Höhen­pass begeg­net uns der Jeep einer deut­schen Fami­lie, die bedau­ert, kei­nen freien Platz für uns zu haben. Dann stoppt ein Typ, der, wie er sagt, die nächste Gîte d’É­tape besorge. Als er den VW-Bus in einen Wald­weg lenkt, pro­tes­tiert meine Frau. Ich über­setze ihr seine Ver­si­che­run­gen, habe wohl auch das Schild bemerkt, tat­säch­lich, die Gîte liegt mit­ten im Wald. Die rot­haa­rige Gîte-Kee­pe­rin ver­kauft uns Snacks für die Nacht, uns fehlt es an Barem für die Pilz­mahl­zeit, die sie ansons­ten zube­rei­tet hätte. Die Nacht ver­brin­gen wir in einem Holz­ver­schlag, unser Lager ist von dem der ande­ren Gîte-Schlä­fer durch einen Vor­hang abgetrennt.

Wir erwa­chen zum Krä­hen der Hähne und dem I‑A des Esels, wegen der feh­len­den Franc zie­hen wir ohne Früh­stück wei­ter. In Le Bley­mard, das wir zu Fuß errei­chen, eine Bank­fi­liale, auf der wir end­lich Geld ein­tau­schen kön­nen. Die Kin­der und die Alten auf der Straße grü­ßen mit »Bon­jour«. Der Ver­käu­fer im Huit-à-8-Klein­markt unfreund­lich, da ich an der Kasse für 45 Franc mit Karte zahle. Hin­ter Bley­mard hef­ti­ger Regen, und vor uns der Mont Lozère. Ein Mann und eine Frau, Urlau­ber, die unsere Eltern sein könn­ten, las­sen uns bis Le Pont de Mont­vert zustei­gen, wo sie das Hôpi­tal auf­su­chen müssen.

Wir ver­brin­gen den Mit­tag in den Schluch­ten des Tarn, zwi­schen Ess­kas­ta­nien, die in grü­nen stach­li­gen ova­len Scha­len von den Bäu­men hän­gen, und Brom­beer­he­cken voll rei­fer süß­schwar­zer Bee­ren am Weg­rand, gegen zwei stoppt schließ­lich eine junge Frau für uns, sie scheint es dar­auf ange­legt zu haben, inmit­ten der Ser­pen­ti­nen jeden Wagen in Sicht­weite zu über­ho­len. Kein Wort, wäh­rend wir auf dem Rück­sitz hocken, Ruck­sä­cke gegen die Knie gedrückt. Die kurze Stre­cke von Com­grès bis Florac ver­brin­gen wir im Kas­ten­wa­gen eines jun­gen Typen, sein Hund springt zur Seite und macht sich hin­ten breit, als ich vorn zusteige. Er kenne, sagt unser Fah­rer, einen Musi­ker aus Wei­mar, der schon seit zwan­zig Jah­ren in der Gegend lebt.

In Florac neh­men wir Quar­tier in der Gîte d’É­tape mit Gemein­schafts­schlaf­saal. Hin­ter alter­tüm­li­cher Holz­tä­fe­lung hat sich ein Inter­net­café ein­ge­rich­tet, an der brei­ten Durch­fahrts­straße haben Stände mit Sou­ve­nir­kitsch auf­ge­schla­gen, Jun­gen knat­tern auf hoch­fri­sier­ten Mopeds durch das Tal. Was­ser­rei­che Stadt, male­risch im kar­gen Karst. Spä­ter Nach­mitt­tag am Ufer des Tarn. Auf­flau­en­der Wind und Wol­ken, die sich vor die Sonne schie­ben, machen Gän­se­haut. Nach den Frös­teln machen­den Erleb­nis­sen der letz­ten Nacht ein freund­li­cher Ort.

Nach einer Nacht unter säu­seln­den und sägen­den Schnarch­lau­ten und einem davon auf­ge­weck­ten schrei­en­den Klein­kind im Schlaf­saal der Gîte nut­zen wir den freien Tag in Florac, um am Rand der Caus­ses zu wan­dern, im stei­ni­gen, spär­lich bewach­se­nen Hoch­land der Céven­nen. Mir spukt die Über­lie­fe­rung mei­nes Groß­va­ters im Hin­ter­kopf, dass mein Name huge­not­ti­schen Ursprungs sei. Nach der Auf­he­bung des Edikts von Nan­tes 1685 und der Ver­fol­gung der in Frank­reich ver­blie­be­nen Huge­not­ten waren diese wei­ten zer­klüf­te­ten Flä­chen das Rück­zugs­ge­biet der pro­tes­tan­ti­schen Cami­sar­den, denen die Trup­pen des Son­nen­kö­nigs in meh­re­ren Anläu­fen mit äußers­ter Gewalt auf den Leib rück­ten. Zwi­schen 1702 und 1705 herrschte in den Céven­nen der Aus­nah­me­zu­stand, von den König­li­chen ein­ge­nom­mene Dör­fer der Auf­stän­di­schen wur­den bru­tal nie­der­ge­brannt, die Ein­woh­ner hin­ge­rich­tet, ihrer­seits ver­üb­ten die Cami­sar­den in einer Art Gue­ril­la­kampf Rache­akte an Pries­tern in den Ort­schaf­ten des Langue­doc und des Rhô­ne­del­tas. Als der Nach­schub an Waf­fen und Ver­pfle­gung aus Eng­land und den Nie­der­lan­den ver­siegte und die Ceven­nen von den Königs­trup­pen sys­te­ma­tisch ver­wüs­tet wor­den waren, blieb den Huge­not­ten nur­mehr die Wahl sich zu erge­ben oder aus­zu­wan­dern. 175 Jahre spä­ter reiste der Schotte Robert Louis Ste­ven­son, damals noch ein mäßig bekann­ter Rei­se­re­por­ter, dem die Erfolge sei­ner Schatz­in­sel und des Selt­sa­men Fall des Dr. Jekyll undMr. Hyde noch bevor­stan­den, auf dem Rücken einer Ese­lin namens Modeste durch die karge, von den Huge­not­ten ver­las­sene, von Frank­reich nahezu ver­ges­sene Land­schaft. Der durch Florac füh­rende Grande Ran­don­née oder GR 70, der Fern­wan­der­weg 70, ist nach Ste­ven­son benannt und berührt all die Sta­tio­nen sei­ner Rei­se­er­zäh­lung, mit wel­cher sich die Post­kar­ten- und Andenken­stände hier schmü­cken. Ste­ven­son war nicht nur lungen‑, son­dern zum Zeit­punkt sei­ner Ceven­nen­durch­que­rung zusätz­lich lie­bes­krank und fand in den ein­sa­men, aus­ge­räum­ten Gegen­den ent­lang des Tarn die Ent­spre­chung für sein ver­kars­te­tes Innen­le­ben, doch bil­det das tem­pe­ra­ment­voll stör­ri­sche Wesen sei­ner Ese­lin, mit der er die Route bewäl­ti­gen will, einen will­kom­me­nen Gegen­pol zur Bit­ter­nis und Melancholie.

Wir klet­tern das Kalk­schie­fer­mas­siv ober­halb der Stadt hin­auf. Eine Halde von Gesteins­split­tern dehnt sich vor uns aus. Der Wind stoß­weise, unbe­stän­dig, wech­selt stän­dig die Rich­tung, mal bläst er uns ins Gesicht, mal faucht er von hin­ten in die Jacken­är­mel. Eine Rau­heit, die ich mit Skan­di­na­vien ver­binde, nicht den Far­ben der Pro­vence. Die Abla­ge­run­gen der Fos­si­lien aus dem Trias- und Kar­bon­meer, die Muscheln und Tri­lo­bi­ten im Kalk sind gut zu erken­nen. Die kah­len Berg­leh­nen mit Fuß­ab­drü­cken von Dino­sau­ri­ern besät. Ver­las­sene Gegend, Schaf­her­den. Ein ein­zel­nes, der Herde hin­ter­her­hin­ken­des Schaf schaut uns lange nach. Auf­ge­ge­bene, ein­ge­fal­lene Stein­hüt­ten. Wachol­der­bü­sche, Moose, Flech­ten, tro­cke­nes Gras, Dis­teln, ver­ein­zelt Enzian. Als wir hin­ab­stei­gen, wird die Vege­ta­tion wie­der üppi­ger: Hei­de­kraut, Gins­ter, Fal­ter in blauen, gel­ben, roten Far­ben, ver­schie­den gemus­tert, Blü­ten zwi­schen den Grä­sern. Eine weit­läu­fige Ter­ras­sen­feld­an­lage, die jetzt wild über­wu­chert ist. Hin­ter einer Weg­bie­gung beginnt der Asphalt und wir sto­ßen auf ein bewohn­tes Haus; eine Katze starrt uns mit ihrem tie­fen durch­drin­gen­den Samt­blick unbe­weg­lich an. Dann erschallt Hun­de­ge­bell und wir blei­ben unwill­kür­lich ste­hen, bis der Bewoh­ner aus dem Fens­ter sieht, um uns zu ver­si­chern, dass das Tier harm­los sei. Der schwarz­bär­tige Mann, mit von der Sonne gedun­kel­ter Haut und Ver­trauen ein­flö­ßen­den Augen, viel­leicht gar nicht alt, erin­nert an die Art, wie das ame­ri­ka­ni­sche Kino die Wan­der­pre­di­ger auf den Trecks des Wil­den Wes­tens dar­stellt. In der Nähe des Hau­ses machen wir unter einem Fel­sen­vor­sprung Rast. Im Vor­bei­ge­hen, vom nicht nach­las­sen­den Gebell des Hun­des bedrängt, sehe ich Imker­beu­ten, Käs­ten mit rie­si­gen Bie­nen­wa­ben, ein Schild, das ihn als „api­cul­teur“ aus­weist. Häu­fi­ges Knis­tern und Kna­cken im Unter­holz. Für Sekun­den­bruch­teile schnellt die grüng­län­zende Schlan­gen­haut einer Eidechse her­vor. Vögel mit brei­ten Schwin­gen, die Nach­kom­men der Dino­sau­rier, krei­sen im Luft­raum, von den Wind­stö­ßen getrie­ben – Geier? Aus den Büschen, zwi­schen Zwei­gen, stür­zen plumpe, in der Mitte kon­zen­trisch wie Spin­deln geformte Vögel­lei­ber – Wachteln?

In der Kan­tine der Gîte tref­fen wir ein Paar aus dem bre­to­ni­schen Ren­nes, sie gehen den Weg, den Ste­ven­son mit dem Esel zurück­legte, zu Fuß ab und leben spar­ta­nisch, leh­nen unse­ren Wein dan­kend ab. Am and­ren Mor­gen sehen wir uns die mit dra­ma­tisch grel­len digi­ta­len Effek­ten und Erklä­run­gen auf Deutsch und Eng­lisch ver­se­he­nen Schau­käs­ten und Diora­men im Haus des Ceven­nen-Natio­nal­parks an, dann ver­las­sen wir Florac auf der Route Natio­nale. In einer Park­bucht an einem Fluss hal­ten wir Mit­tags­rest. Bis zur Abzwei­gung auf die klei­nere Rue Dépar­te­men­tale fah­ren wir bei einem Paar aus der Nor­man­die mit, dann gehen wir über zwan­zig Kilo­me­ter in tota­ler Wald­stra­ßen­ein­sam­keit durch den Bogen einer Schlucht mit dem Namen La Val­lée Fran­caise. Eine Tafel kün­digt einen leben­di­gen Ort an, was wir sehen, gleicht eher einem aus­ge­stor­be­nen Dorf. Am bes­ten von allen Häu­sern ist die ange­putzte Kir­che erhal­ten, die kreuz­för­mige Tafel aus blau lackier­tem Blech weist sie als Stätte des Culte Pro­tes­tant aus. Alte Men­schen gehen stumm anein­an­der vor­bei, ist es ihre Art, den Fei­er­tag zu hei­li­gen? Auf den Hügeln wach­sen Hei­de­kraut und wilde Ess­kas­ta­ni­en­früchte in ova­len, sta­chel­be­wehr­ten grü­nen Kap­seln, Kork­ei­chen geben der Gegend ein süd­li­ches Gepräge. Ent­ge­gen­kom­mende Wagen mit loka­len Num­mern hupen vor uns oder über­ho­len gna­den­los, als sei den Insas­sen der her­aus­ge­streckte Dau­men für den Wunsch, mit­ge­nom­men zu wer­den, unbe­kannt. Schließ­lich stei­gen wir bei einer lau­ten Fami­lie zu, rücken mit den Kin­dern auf der Rück­bank zusam­men, der Mann redet vom Bei­fah­rer­sitz mit Alko­hol­fahne auf uns ein. In St.-Germain-de-Colbert schleppt er uns zum Bar­mann am Tre­sen eines Cafés, von dem er meint, die­ser hätte Zim­mer zu ver­mie­ten. Der Bar­mann schenkt der Fami­lie einen Apé­ri­tif aus, bevor es sich uns zuwen­det und in den über eine Hüh­ner­lei­ter zu errei­chen­den Ver­schlag mit fle­cki­gen, schräg gegen­ein­an­der ste­hen­den Matrat­zen führt. Wir hiel­ten es nicht darin aus, wol­len die­ses St. Ger­main ver­las­sen, das ledig­lich von alten Men­schen bewohnt zu sein scheint, die ihre um die Haupt­straße ange­ord­ne­ten Fens­ter­fron­ten trost­los geschlos­sen hal­ten. Ein außer­halb im Tal gele­ge­ner Cam­ping­platz ist unsere Ret­tung, die freund­li­che schwarz­haa­rig süd­ame­ri­ka­ni­sche Wär­te­rin ver­mie­tet uns ein Zelt als Dach über den Kopf für diese Nacht. Am Zelt­plat­z­im­biss ver­sor­gen wir uns mit Pizza und Wein und sehen aus dem das Zelt umge­ben­den Gar­ten­ver­schlag mit Son­nen­blu­men am Zaun auf die grü­nen men­schen­lee­ren Hänge im Abendlicht.

In St. Jean du Gard am Aus­gang des Val­lée Fran­caise zu den Aus­läu­fern des öst­li­chen Rhô­ne­tals und der süd­west­li­chen Gar­ri­gue sto­ßend, dem abge­flach­ten Hin­ter­land der Mit­tel­meer­küste, tref­fen wir auf Karst, der ein süd­li­ches Licht aus­strahlt. Ich bitte den Rent­ner, der uns am Mor­gen bei Saint Ger­main auf­ge­le­sen hat, uns aus­stei­gen zu las­sen, und wir gehen am Rand von Kas­ta­ni­en­wäl­dern zum Ufer des Gar­don hinab. Mit Wur­zel­ge­strüpp und Moos bewach­sene leere Stein­hüt­ten. Fels­blö­cke an der Ufer­bö­schung. Klare Was­ser­stru­del. Hin­ter der Fluss­krüm­mung ein Nudis­ten­strand. Im nahen St. Jean du Gard herrscht Markt­trei­ben. Knat­ternde Mopeds und dröh­nende Lkw’s, Tou­ris­ten und Durch­gangs­ver­kehr. Wir ver­se­hen uns mit Weiß­brot, Savon de Mar­seille, Oli­ven und Obst. Über Nacht fin­den wir ein not­dürf­tig zur Gîte aus­ge­bau­tes Scheu­nen­dach. Die Ver­mie­te­rin wirkt ver­welkt, fahl wie Hefe­teig, eine leb­lose Erin­ne­rung ihres frü­he­ren Selbst, Schat­ten in einem stau­bi­gen Kor­ri­dor, der uns die Stie­gen hin­auf­führt. Ein bestän­dig anhe­ben­des und wie­der abeb­ben­des Schar­ren im Dach­stuhl beglei­tet unse­ren Schlaf, ein Wie­sel oder ein Sie­ben­schlä­fer oder ein Kat­zen­tier auf Beu­te­jagd, ich bleibe im Schlaf­sack, weg­ge­dreht vom blan­ken Putz der Wand, auf der die Reste des Insekts kle­ben, das ich vor dem Schla­fen­ge­hen erschlug, Reste ange­bro­che­ner Tüten und Schach­teln lie­gen auf dem Boden, die von jenen zu stam­men schei­nen, wel­che vor uns hier über­nach­te­ten, sie strö­men einen dump­fen Geruch nach Feuch­tig­keit, Kalk und einem unnenn­ba­ren Rest Fäul­nis aus. Wir sind froh, als wir uns mit dem Mor­gen aus dem Schweiß­tuch der Schlaf­sä­cke schä­len und die Gîte nach einem blas­sen Milch­kaf­fee ver­las­sen können.

Wir set­zen uns in den tou­ris­ti­schen Dampf­ex­press ins süd­lich gele­gene Anduze und ver­spei­sen über­reife Fei­gen, von denen ein säu­er­li­cher Geschmack auf der Zunge ver­bleibt. Die offe­nen Cou­pés tra­gen die Her­stel­ler­marke Maschi­nen­bau-Aktien-Gesell­schaft Gör­litz 1939. Die Tril­ler­pfeife des Schaff­ners, das Stöh­nen der Lok und der Dampf­aus­stoß des Kes­sels wir­ken wie Zitate aus einem alten Rei­se­film. Nach der Ein­sam­keit der Kas­ta­ni­en­wäl­der bringt uns Anduze mit einem Keu­len­schlag zurück in den Rumor der Zivi­li­sa­tion. Lärm, Staub, Ver­kehr, Hun­de­kot und Igno­ranz. Super­märkte und Tou­ris­ten­ka­ra­wa­nen. Statt schö­ner Land­schaft Schil­der, die eine schöne Land­schaft zei­gen, der Süden als maka­brer Scherz. Wir fin­den ein Zim­mer in einer Gîte für 200 Francs die Nacht und waschen unsere Sachen im Wasch­be­cken mit der Savon de Mar­seille. Der Ver­mie­ter emp­fiehlt uns die Wan­de­rung zu einer Grotte beim Dorf Mialet über die Land­straße von St. Jean du Gard. Eine zer­fah­rene, zu bei­den Sei­ten agra­risch aus­ge­beu­tete Stre­cke. Wir gehen am Rand des Asphalts, auf dem uns der Zug­wind der Wagen streift. Der trist schwüle Him­mel reißt mit zusätz­li­chen Böen an uns. An einer Stei­gung asphal­tie­ren Arbei­ter die Stre­cke neu, ihr Fahr­zeug bewegt sich im Schritt­tempo über die Stra­ßen­mitte und spritzt die flüs­sige Teer­masse in Düsen auf den Belag, ihnen schließt sich ein Fahr­zeug an, das Split­kör­ner dar­über streut, gefolgt von einem Mann mit Walze, der die neue Kruste platt und eben drückt. So ent­ste­hen die Stra­ßen der Welt. Ein Belag, kei­nes­wegs zum Gehen gemacht, der allein dem Fah­ren vor­be­hal­ten ist.

Wir machen Pick­nick am Ufer des algen­grün durch­schei­nen­den Gar­don. Sit­zen auf gro­ßen grauen abge­schlif­fe­nen Kalk­blö­cken, der Wind bewegt das Laub, ein fried­li­cher Ort. Die Wel­len fan­gen beim Hin­schauen sil­ber­grau zu schil­lern an, wenn sie sich in der Strö­mung kräu­seln, an der Stelle, wo der Fluss sich krümmt, inein­an­der ver­schränkte Halb­kreise von Stru­deln, ein­zelne Licht­fun­ken von der sich zei­gen­den Sonne reg­nen über die Ober­flä­che hin.

Wir neh­men einen Pfad über den Hügel, der an Gär­ten ent­lang­führt. An Zäu­nen die War­nung „Défense d’entrer“ ange­bracht, von bel­len­den, die Zaunslat­ten hoch­sprin­gen­den Hun­den dahin­ter ein­ge­schärft. Aus einem Stein­haus kommt eine ältere Frau die Treppe hinab. Ihre Erschei­nung gibt uns das Gefühl, in einer zivi­li­sa­ti­ons­fer­nen Wild­nis zu ste­hen. Als wir sie nach dem Weg nach Mialet fra­gen, bringt sie hei­ser kräch­zend her­vor: „Mais le bois, mais le bois…“ Sind wir Hän­sel und Gre­tel, die sich im Wald verirrten?

Wir sind wie­der auf der Land­straße, abge­hängt auf hal­bem Weg nach St. Jean du Gard, ohne Mialet oder die Grotte gefun­den zu haben. Düsen­jä­ger durch­sie­ben die Nach­mit­tags­ruhe, bei­nah schram­men ihre Flü­gel die Hügel­kup­pen. Ein älte­rer Mann, der Deutsch mit uns zu reden beginnt, nimmt uns im Wagen mit nach Anduze zurück. Ich kaufe Wein im „Cave Cévé­nole“ bei einem Mann mit hoch­ste­hen­dem grauen Bors­ten­haar. „Un bon litre“, sagt er, als ich mir den Was­ser­f­lo­kon mit dem bil­ligs­ten Roten, den er jedoch anpries, fül­len lasse. Gegen­über unse­rer Her­berge läu­tet die Abend­glo­cke vom „größ­ten Tem­pel Frank­reichs“, die ver­kars­te­ten wei­ßen Gip­fel jen­seits des Gar­don im Däm­mer­licht. Unter den Zie­gel­dä­chern schie­ßen kleine schwarze For­men her­vor, Fle­der­mäuse, und tei­len mit ihren Schwin­gen die Nacht.

Wir haben uns ent­schie­den, den Weg nicht nach Süden, son­dern wei­ter west­lich in den Caus­ses fort­zu­set­zen. Tram­pend wol­len wir in zwei Tagen Mil­lau am Aus­gang des Tarn errei­chen. „Ihr macht euch aber früh auf die Spur“, sagt der Mann am Steuer, der uns gegen neun am Mor­gen bis zur gro­ßen Kreu­zung vor der Stadt mit­nimmt. Danach süd­west­lich bis St. Hip­po­lyte-le-Fort im Wagen eines wort­kar­gen, erns­ten Mitt­fünf­zi­gers, der mit mono­to­ner Stimme etwas zur Gegend sagt: „C’est la Gar­ri­gue. Ça pro­duit du très bon miel.“ Sainte Hip­po­lyte ist ein hüb­sches Langue­doc­städt­chen mit einem Museum, das sich der frü­he­ren Sei­den­pro­duk­tion in den Céven­nen wid­met. Auf der nord­west­lich nach Le Vigan füh­ren­den Natio­nale hält ein bel­gi­sches Paar, das sich auf Deutsch mit uns unter­hält. Sie machen jedes Jahr in Süd­frank­reich Urlaub, emp­feh­len uns das Städt­chen Le Rozier zur Tages­rast. Wir ver­las­sen sie hin­ter Le Vigan, wol­len wie­der in Rich­tung Berge, nach Mey­ru­eis hin­ter dem Mont Aigual, auf der anstei­gen­den Piste, der Wald auf der dün­ner befah­re­nen Stre­cke ist bereits in die Misch­pa­lette des Herbs­tes getaucht, die Luft atem­klar. Erst nach der Mit­tags­rast hält wie­der ein Wagen für uns an. Der alte Mann will alles von uns wis­sen, was wir so trei­ben, wie wir leben und bis wohin unser Weg noch füh­ren soll. Er hält an einer Park­bucht des sich den Berg hin­auf­schrau­ben­den Asphalts und lässt uns das Pan­orama der Caus­ses genie­ßen, dunkle bewal­dete Mas­sive, hell­blaue Him­mels­seide dar­über gespannt. Am Col du Minier lesen uns zwei Män­ner in teu­rem Loden in ihrem Gelän­de­wa­gen auf, Vater und Sohn, die uns über den Mont Aigual bis Mey­ru­eis bug­sie­ren. Die Stre­cke ist so ser­pen­ti­nen­reich, dass ich vor Übel­keit wenig zur Unter­hal­tung bei­tra­gen kann.

In Mey­ru­eis berüh­ren sich die Kalk­pla­teaus der Causse Méjean im Nor­den und der Causse Noir im Süden, wir ent­schlie­ßen uns, der Land­straße in den Schluch­ten der Jonte bis zum emp­foh­le­nen Le Rozier im Wes­ten zu fol­gen, es ist bereits spä­ter Nach­mit­tag. Wald zu bei­den Sei­ten, über den Fels­wän­den der Gor­ges krei­sende Gän­se­geier – wir haben gele­sen, dass sie nach ihrer Aus­rot­tung hier wie­der ange­sie­delt wor­den seien, aus einer spa­ni­schen Gei­er­po­pu­la­tion her­aus, als Teil eines Arten­schutz­pro­gramm im Natio­nal­park Céven­nen. Die ein­fal­lende Sonne über der Schlucht ver­rin­gert sich zum Schlitz, unsere Hoff­nung schwin­det, vor der Nacht noch mit­ge­nom­men zu werden.

Wir haben Glück. Ein klapp­ri­ger Klein­trans­por­ter über­holt uns, hält am rech­ten Rand, bis wir die Sei­ten­tür auf­ge­scho­ben haben und hin­ein­ge­klet­tert sind. Der Mann beru­higt den uns ent­ge­gen­bel­len­den Hund und stellt sich uns vor, auf Eng­lisch mit flä­mi­schem Akzent. „Ich bin Jean-Marc und der da“ – er wen­det den Kopf zum Col­lie neben sich – „ist Flock. Drei­ßig Jahre hab ich als Post­bote in Flan­dern gear­bei­tet, dann hat es mir gereicht und seit zwei Jah­ren bin ich an die­sem Fleck. Ihr könnt bei mir über­nach­ten, im Som­mer betreibe ich eine kleine Gîte, Leute, die ich von frü­her kenne, besu­chen mich, sagen es ande­ren wei­ter, im Win­ter ist es zu kalt dafür. Eben wollte ich auf der wil­den Müll­kippe nach­se­hen, ob wie­der etwas Brauch­ba­res her­um­liegt. Meine ganze Ein­rich­tung, Stühle, Tische, Schränke, hab ich mir von da besorgt. Feu­er­holz in rauen Men­gen.“ Doch jetzt thront ein Bull­do­zer auf der Müll­kippe an der schwar­zen Aus­fahrt und hat den Hügel pla­niert. Aus dem Kas­set­ten­ra­dio in Jean-Marcs Trans­por­ter vibriert die zarte Stimme Nick Dra­kes, des als Wun­der­kind gefei­er­ten bri­ti­schen Folk­sän­gers, der 1974 im Alter von 26 Jah­ren an einer Über­do­sis Anti­de­pres­siva verschied.

Jean-Marc zeigt uns sein Heim am Fuß der Fel­sen der Jonte-Schlucht. Eine pro­vi­so­risch ein­ge­rich­tete Kalk­stein­hütte, ein schwan­ken­der Bret­ter­steig führt hin­über, mit Seil­winde und Fla­schen­zug beför­dert er seine Sachen über den Fluss. Flock fängt zu bel­len an, als Jean-Marc kurz ver­schwin­det, um das Seil zu ölen. „Er ist zwölf Jahre alt, fast blind und taub, kann mich nur noch rie­chen.“ Wir ver­schwin­den ins Haus, er lässt den Motor an, der die am and­ren Ufer ver­stau­ten Sachen mit Hilfe einer Seil­winde zu uns hin­über­trans­por­tiert. Wir ver­brin­gen den Abend zu Pasta und Toma­ten­soße um das Holz­feuer von Jean-Marc. Er lässt Songs von Leo­nard Cohen aus dem Recor­der lau­fen. Erzählt uns von der Welt­reise, die er eines Tages unter­neh­men will.

Am Tag stei­gen wir zur Hoch­ebene der Caus­ses über den Schluch­ten der Jonte hin­auf; bei Le Rozier ver­ei­nigt sie sich mit dem von Nor­den kom­men­den Tarn. Eine Land­schaft wie für die ers­ten Men­schen gemacht, end­los, urtüm­lich, kahl. Die stei­len Kalk­wände zu bei­den Sei­ten lot­recht in die Tiefe fal­lend, mit nied­ri­gem Misch­wald, Kie­fern, Eichen, Wachol­der, tro­cke­nem Gesträuch bewach­sen, Geier schwe­ben in der Luft, von den Win­den tal­auf­wärts getra­gen, urzeit­li­che Leere, deren Pfade stoß­weise von Tou­ris­ten­grup­pen aus Rei­se­bus­sen heim­ge­sucht wer­den, dann wie­der Stille und durchs Gestrüpp fla­ckernde Wind­böen, die Schat­ten von Gei­ern wie Sekun­den­filme über Stein­wände und Laub­di­ckicht fla­ckernd. Am Abend sit­zen wir bei Jean-Marc am Feuer und hören den frü­hen Bob Dylan auf sei­ner Mund­har­mo­nika zittern.

Unser letz­ter Tag in den Caus­ses ist ange­bro­chen. Jean-Marc fährt uns mit Flock im Volks­wa­gen­trans­por­ter bis Le Rozier, dann begin­nen wir auf der Land­straße über den Mäan­dern des nahezu aus­ge­trock­ne­ten Tarn-Fluss­bet­tes zu gehen, bis ein Pär­chen anhält, das erst ein­mal Platz auf der Rück­bank sei­nes Peu­geot schaf­fen muss, um uns mit­zu­neh­men. Sie sitzt im lege­ren Som­mer­kleid, er lächelt immerzu aus sei­nem brau­nen Ras­ta­lo­cken­ge­sicht, sie leben in den Tag, hier und da hel­fen sie bei der Ernte mit. Auf den letz­ten Kilo­me­tern vor Mil­lau liest uns ein Junge in sei­nem alten Renault auf. „Ihr seid spät unter­wegs“, sagt er, „jetzt, wo die Ferien zuende sind, bre­chen alle wie­der auf.“ Im Bahn­hof kau­fen wir ein Ticket für den Nacht­zug nach Paris. Wir sehen uns in den Gas­sen von Mil­lau um. Die Stadt ist für ihre Leder­wa­ren bekannt. Im Süden der Agglo­me­ra­tion mün­det der die Caus­ses durch­bre­chende Tarn in die Ebene des Langue­doc mit ihren rie­si­gen Wein- und Getrei­de­fel­dern und Gewer­be­ge­bie­ten am Straßenrand.

Wir haben uns auf einer in den Tarn ragen­den Halb­in­sel­zunge im Gras aus­ge­streckt. Enten schnat­tern einen zor­ni­gen Blues am Kai des blei­far­be­nen grün­lich­grauen Stroms. Meine Frau holt das Pick­nick aus dem Ruck­sack. Wir sehen zur Alt­stadt hin­über. Die mit­tel­al­ter­li­chen Reste ver­ste­cken sich zwi­schen moder­nen Wohn­si­los, ver­wit­tern­dem Mau­ern­werk, Fabrik­fas­sa­den. Die alten, schie­fen Schlote strei­ten sich in der Höhe mit den Kirch­turm­spit­zen. Mil­lau ent­hält all das, was uns die letz­ten Tage erspart geblie­ben ist. Auto­häu­ser, Moped­lä­den, Bank- und Ver­si­che­rungs­fi­lia­len. Pas­ti­strin­ker tum­meln sich unter den Mar­ki­sen der Place Maré­chal Foch. Das Office du Tou­risme wirbt mit einem Groß­pla­kat für die neue, das Zen­tral­mas­siv durch­zie­hende Autobahn.

In den Vitri­nen des archäo­lo­gi­schen Muse­ums sind Fos­si­lien, prä­his­to­ri­sche Weich­tiere, Abdrü­cke aus dem Kalk der Caus­ses du Lar­zac aus­ge­stellt, im Zeit­raf­fer von drei Trep­pen­stu­fen fol­gen Men­schen­kno­chen, Schä­del, Werk­zeuge, Pfeil­spit­zen, Scha­ber, Keile, Lan­zen, Mes­ser, Schmuck, kno­chen­spitz geformt. Gegen sechs macht das Museum zu. Ver­geb­lich suchen wir ein Restau­rant, das bereits geöff­net hat. In einer Bou­lan­ge­rie ver­se­hen wir uns mit vier Quiche­tört­chen für die Fahrt. In der schma­len Ein­kaufs­straße hin­ken Inva­li­den mit Plas­tik­tü­ten, jeman­des rat­ten­för­mig aus­ra­sier­ter Nacken vor mir, die Fugen des Geh­wegs mit Hun­de­kot bespritzt. Ste­chend hei­ßer, moped­ver­k­nat­ter­ter, bruch­stück­ar­tig kon­fu­ser, fran­zö­sisch zer­re­de­ter und ver­ges­ti­ku­lier­ter Languedocspätnachmittag.

Wir haben einen gegen die Fahrt­rich­tung sich nei­gen­den Sitz im lan­gen, spär­lich besetz­ten Nacht­zug­ab­teil ein­ge­nom­men, die Sitze aus Hart­scha­len­plas­tik sind mit ver­schlis­se­nem Orange ver­klei­det. Die Nicht­rau­cher­zei­chen an den Schei­ben hin­dern den kahl­ra­sier­ten Typen vor uns nicht daran, sich eine Kippe anzu­zün­den. Ein ande­rer ist hin­ge­bungs­voll in die Sei­ten sei­nes Fuß­ball­jour­nals ver­sun­ken, als sei er nicht in Sport­be­richte, son­dern schwer­wie­gende poli­ti­sche Arti­kel von Le Monde Diplo­ma­tique ver­tieft. Ein Sta­ti­ons­schild leuch­tet auf: Mar­vejols. Ein Rasta­mann mit bra­un­weiß­ge­scheck­tem Hund steigt aus. Mar­vejols am Nord­west­rand der Caus­ses lie­ferte Mitte der 1980er Jahre die pit­to­reske länd­li­che Kulisse für Jean-Jac­ques Ben­eix’ amour fou Betty Blue – 37.2 Grad am Mor­gen. Fri­scher cha­mois­far­be­ner Mau­er­putz, auf den jemand mit schwar­zer Fett­kreide die Worte „ich liebe dich – je t’aime – te quiero“ gekrit­zelt hat; dane­ben ein Denk­mal, des­sen Inschrift an die zwi­schen 1941 und 1944 von den Deut­schen ermor­de­ten Bahn­hofs­an­ge­stell­ten von Mar­vejols erin­nert. Der Zug fährt an, die Lich­ter der Sta­tion ent­fer­nen sich, wir gäh­nen im Tun­nel des nacht­wei­ten Nie­mands­lands zwi­schen dem Midi und Paris.

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