Ivan Ivanji – »Buchstaben von Feuer«

Person

Ivan Ivanji

Orte

Hotel Elephant

Gedenkstätte Buchenwald

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Andrea Dietrich

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Andrea Dietrich

 

Der Roman »Buch­sta­ben von Feuer« von Ivan Ivanji erzählt die Geschichte des Sieg­fried Wahr­lich, gebo­ren als Sohn eines Hilfs­kell­ners im Hotel Ele­phant Wei­mar in der Neu­jahrs­nacht 1908. Der Junge wächst ohne Mut­ter als Halb­waise mehr in der Hotel­kü­che als zuhause auf und beginnt nach der Schule eine Schlos­ser­lehre in der Gothaer Wag­gon­fa­brik. Vom dor­ti­gen Inge­nieur ob sei­ner Bega­bun­gen geför­dert, erhält er eine Emp­feh­lung ans Staat­li­che Bau­haus Wei­mar und wird auch ohne Abitur ange­nom­men. Sieg­fried Wahr­lich stu­diert nicht nur Bau­kunst und Tech­nik, son­dern auch neue Lebens­ent­würfe und poli­ti­sche Über­zeu­gun­gen. Eher zufäl­lig ent­schei­det er sich für die kom­mu­nis­ti­sche Stu­den­ten­frak­tion am Bau­haus. Nach sei­nem Abschluss an der Kunst- und Design­schule geht er nach Ber­lin und Leip­zig, hilft bei ille­ga­len Aktio­nen und wird bei einer Raz­zia von der Gestapo ver­haf­tet. Er muss ins Zucht­haus. Nach sei­ner Ent­las­sung erfolgt sogleich die nächste Fest­nahme und Ein­lie­fe­rung ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Buchen­wald, für ihn eine qual­volle Rück­kehr nach Hause, auf den Etters­berg bei Wei­mar. Nach einer Amnes­tie anläss­lich des 50. Geburts­ta­ges von Hit­ler fin­det er Anstel­lung im Bau­büro für das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Groß­pro­jekt Wei­mars, das Gau­fo­rum. Zunächst kann er durch diese Arbeit dem Kriegs­dienst ent­ge­hen, wird aber nach 1941 in die Straf­di­vi­sion 999 ein­ge­zo­gen. Vom Ein­satz­ort Tune­sien geht es nach Grie­chen­land, spä­ter wei­ter Rich­tung Bel­grad. Hier gerät Sieg­fried Wahr­lich 1944 in der Nähe der klei­nen Stadt Pant­schowa in jugo­sla­wi­sche Gefan­gen­schaft. Auf­grund sei­ner kom­mu­nis­ti­schen Ver­gan­gen­heit und beruf­li­chen Fähig­kei­ten erhält er beim Bau des neuen Innen­mi­nis­te­ri­ums in Bel­grad Beschäf­ti­gung. 1948 wird er aller­dings wie­der inhaf­tiert und auf die berüch­tigte Kahle Insel, Titos Straf­la­ger, geschickt, dies­mal mit der Anklage, Sta­li­nist zu sein. Nach schreck­li­chen Wochen jedoch bekommt Sieg­fried Wahr­lich unver­mit­telt seine Ent­las­sungs­pa­piere und kann auf eige­nen Wunsch nach Wei­mar heim­keh­ren. Die nächs­ten fünf­zig Jahre, mehr als die Hälfte sei­nes Lebens, wird er seine Geburts­stadt nicht mehr für län­gere Zeit verlassen.

Meh­rere Frauen spie­len eine wich­tige Rolle in Sieg­fried Wahr­lichs Leben: in Gotha die Jugend­lie­ben, Liesl – die Toch­ter des Chefs, und Marie – das Arbei­ter­kind. Am Bau­haus hat er Affä­ren mit der Tän­ze­rin Ilse und der Foto­gra­fin Rahel. In Wei­mar hei­ra­tet er die Ver­käu­fe­rin Fran­ziska, die im Krieg wäh­rend eines Bom­ben­an­grif­fes ums Leben kommt. In Jugo­sla­wien begeg­net ihm Leha, die erst Geliebte, dann zweite Ehe­frau und Mut­ter sei­nes Soh­nes Luka wird, sich aber nach sei­ner Ver­haf­tung schei­den lässt. Sei­nem Sohn wird er nie begeg­nen. Zurück in Deutsch­land trifft er die ver­wit­wete Rahel aus Des­sau wie­der, sie grün­den eine Fami­lie, die Kin­der Wal­ter, Johan­nes und Ingrid wer­den gebo­ren. Sieg­fried wird mehr­fa­cher Groß­va­ter. Erst mit sei­ner Lieb­lings­enke­lin Gerda fin­det er die Kraft, wie­der auf den Etters­berg zu gehen.

Der rote Faden durch den Roman und damit durch das bewegte Leben von Sieg­fried Wahr­lich ist die Freund­schaft mit Franz Ehr­lich, die am Bau­haus beginnt. Franz Ehr­lich ist der Schöp­fer der Inschrift des Lager­tors in Buchen­wald, das Sieg­fried Wahr­lich für ihn schmie­det und dabei zwei Fin­ger verliert.

Eine Aus­stel­lung über den Bau­haus-Künst­ler Franz Ehr­lich 2009 in Wei­mar gab Ivan Ivanji den Anstoß zu die­sem Roman. Die Lebens­wege von Sieg­fried Wahr­lich, kreu­zen sich mit jenen Franz Ehr­lichs seit dem ers­ten Zusam­men­tref­fen am Bau­haus. Dazu gesel­len sich Geschich­ten über den kom­mu­nis­ti­schen Par­tei-Sekre­tär des Bau­hau­ses und ver­meint­li­chen Dop­pel­agen­ten, den Ser­ben Sel­man Sel­ma­nagic, gebo­ren in Sre­bre­nica und Schöp­fer des für die neue Zen­trale des BND abge­ris­se­nen Sta­di­ons der Welt­ju­gend in Ber­lin. Ivan Ivanji erzählt ebenso fes­selnd wie geschickt in die Hand­lung ver­wo­ben über diverse euro­päi­sche Geheim­dienste, über Fürst Vlad, Ratko Mla­dic und andere deut­sche und ser­bi­sche Per­sön­lich­kei­ten des ver­gan­ge­nen Jahrhunderts.

Wahr­lich (der Name des Prot­ago­nis­ten ist Pro­gramm) umreißt der Autor mit his­to­ri­schen und poli­ti­schen Infor­ma­tio­nen und Ein­schü­ben das ganze zwan­zigste euro­päi­sche Jahr­hun­dert. Geschickt ver­knüpft er die Ereig­nisse mit­ein­an­der, ver­bin­det sie mit den Lebens­sta­tio­nen Sieg­fried Wahr­lichs, der sich Zeit sei­nes Lebens weder Fisch noch Fleisch fühlt (Inge­nieur oder Arbei­ter, Kom­mu­nist oder Sozia­list oder gar nichts, für oder gegen Tito). Neun Jahre nach sei­nem Tod erwacht Sieg­fried Wahr­lich auf den Rui­nen des 1999 von NATO-Rake­ten zer­stör­ten  Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums in Bel­grad und trifft dort auf den Aschen­mensch von Buchen­wald. Ivan Ivanji ersann die­ses mys­ti­sche Wesen, erstan­den aus der Asche von 700 Häft­lin­gen, deren Urnen 1997 im Gebälk des Kre­ma­to­ri­ums in Buchen­wald gefun­den wur­den, in sei­nem gleich­na­mi­gen Roman von 1999 und lässt ihn nun erneut zu Wort kommen.

Mit »Buch­sta­ben von Feuer« fin­det der Autor auch immer wie­der den Weg zurück nach Wei­mar – ein Gewinn für jeden Geschichte- und Geschich­ten lie­ben­den Leser. Glei­cher­ma­ßen Sach­buch mit phan­tas­ti­schen Ein­schü­ben, Lie­bes­ge­schichte und Spio­na­ge­ro­man ver­han­delt Ivan Ivanji anhand von Schick­sals­mo­men­ten die Zufäl­lig­keit und Bewusst­heit von rich­tungs­wei­sen­den und unum­kehr­ba­ren Lebensentscheidungen.

Ivan Ivanji wurde 1929 im Banat gebo­ren, wuchs viel­spra­chig und hoch­ge­bil­det in einer jüdi­schen Arzt­fa­mi­lie auf, über­lebte als 15jähriger Ausch­witz und Buchen­wald, stu­dierte an der Bel­gra­der Uni­ver­si­tät Archi­tek­tur und Ger­ma­nis­tik, arbei­tete als Leh­rer, Thea­ter­in­ten­dant, Dol­met­scher für Josip Broz Tito, als jugo­sla­wi­scher Kul­tur­at­ta­ché in Bonn und war viele Jahre Gene­ral­se­kre­tär des jugo­sla­wi­schen Schrift­stel­ler­ver­ban­des. Heute lebt er als Schrift­stel­ler und Über­set­zer in Belgrad.
Sein 2014 erschie­ne­ner Roman »Mein schö­nes Leben in der Hölle« ist auto­bio­gra­fisch geprägt. Sein neuer Roman »Schluss­strich« erscheint Ende Februar 2017.

 

Nach­satz der Autorin:

Im Novem­ber 2009 habe ich Ivan Ivanji per Mail ken­nen­ge­lernt, bekannt gemacht hat uns Prof. Volk­hardt Knigge, der Lei­ter der Gedenk­stätte Buchen­wald. Ivan Ivanji skiz­zierte mir in mei­ner dama­li­gen Funk­tion als Pres­se­spre­che­rin des Hotel Ele­phant kurz sein Roman­pro­jekt  mit dem dama­li­gen Arbeits­ti­tel »Jedem das Seine« und hatte ganz kon­krete Fra­gen zum Hotel:

Die Beschäf­ti­gung mit Franz Ehr­lich hat mich auf die Idee gebracht, seine Zeit, das Bau­haus, aber auch vie­les dar­über hin­aus als Roman zu gestal­ten. Dabei mische ich Per­so­nen, die exis­tiert haben, mit Roman­fi­gu­ren, die erfun­den sind, (was ich schon öfter in mei­nen Roma­nen gemacht habe.) Der Held des Romans, Freund und Gegen­pol zu Franz Ehr­lich, heißt Sieg­fried Wahr­lich. Er ist (natür­lich im Roman, in mei­ner Phan­ta­sie) Sil­ves­ter 1908 gebo­ren, sein Vater war damals Hilfs­kell­ner im ELEFANTEN. Wahr­lichs Wer­de­gang ist teil­weise mit dem ELEFANTEN ver­bun­den, Für mich ist es kei­nes­wegs wich­tig neue Doku­mente zu fin­den, nur möchte ich nicht etwas behaup­ten, was abso­lut unmög­lich ist.

- Hat es eine Neu­jahrs­feier 1908 im ELEFANTEN gege­ben? Und falls es so etwas in den Archi­ven gibt: was war das Menü oder die Speisenkarte?

- Wie wurde der ELEFANT in den Kriegs­jah­ren 1914–1918 ver­sorgt? Gibt es Gäs­te­lis­ten mit bedeu­ten­den Namen aus die­ser Zeit und danach wäh­rend der Tagung der Natio­nal­ver­samm­lung? Besitzt der ELEFANT ein Archiv?

Mit gro­ßem Bedau­ern musste ich bei vie­len die­ser Fra­gen man­gels vor­lie­gen­der Unter­la­gen oder Archi­va­lien pas­sen, aber im Zusam­men­hang mit der Arbeit an der ers­ten Aus­stel­lung zur Geschichte der his­to­ri­schen Her­berge konnte ich dann doch noch eini­ges bei­steu­ern, wie zum Bei­spiel die Erwäh­nung des Schla­raf­fia-Ver­eins, zu dem Ivan Iva­nij schrieb, dass er die­ses Thema kenne – mein Vater und Groß­va­ter waren in mei­ner klei­nen Hei­mat­stadt Mit­glie­der die­ses Ver­eins, ich habe als Kind davon etwas mit­be­kom­men und mich nach­her dafür interessiert.

Ivan Ivanji hatte mich als Erst­le­se­rin des Roman­ma­nu­skripts Jedem das Seine aus­ge­wählt und schickte es mir zum Lesen Ende Januar 2010, ver­bun­den mit den Wor­ten: Dabei habe ich Lam­pen­fie­ber, weil Sie die erste Per­son sind, die es in die­ser Form zu sehen bekommt. Auch mein Ver­le­ger weiß nur, dass ich an so etwas schreibe, hat aber noch kei­nen Text zu Gesicht bekom­men. Also noch ein­mal nur die Bitte, lesen Sie es als »erste Hand«.

Im April 2010 haben wir uns per­sön­lich in Wei­mar ken­nen­ge­lernt. Ivan Ivanji war mit sei­ner Frau Dra­gana zu Gast beim 65. Jah­res­tag der Befrei­ung des KZ Buchen­wald und stellte Aus­züge aus dem zu jener Zeit noch unver­öf­fent­lich­ten Roman in einer Ur-Lesung vor. Seit­dem sehen wir uns min­des­tens ein­mal im Jahr, in Wei­mar oder in Bel­grad. Ich bin sehr dank­bar, die­sen außer­ge­wöhn­li­chen Men­schen zum Freund zu haben.

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