Im Fluchtrausch oder: »Wei mer briefat« sind –Auf den Spuren von Gino Hahnemann
2 : Steintisch: Die Zeit heilt alle Wunder

Person

Gino Hahnemann

Ort

Weimar

Thema

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Autor

Jens-Fietje Dwars

Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.

Wer den Ehren­fried­hof der Sowjet­sol­da­ten im Ilm­park betritt, wird mit Schre­cken sehen, dass hier junge Rot­ar­mis­ten im Alter von 20 und weni­ger Jah­ren begra­ben sind, die nicht mehr im Krieg gefal­len waren, son­dern im Hun­ger­win­ter 1946 an Aus­zeh­rung und Krank­heit starben.

Das war die Zeit, in die Gino hin­ein­ge­bo­ren wurde: als Karl-Heinz Tan­zyna kam er am 24. Sep­tem­ber 1946 in Jena zur Welt. Seine leib­li­chen Eltern wird er nie ken­nen ler­nen, selbst von der Mut­ter nichts erfah­ren, die ihn zur Adop­tion an das Ehe­paar Ernst und Herta Hah­ne­mann frei­gab. Der Zieh-Vater gehörte zu jenen Zeissia­nern, die 1947 in die Sowjet­union »geholt« wur­den, um als Wie­der­gut­ma­chung der Kriegs­schä­den die opti­sche Indus­trie wie­der­auf­zu­bauen. Gino wuchs in der Netz­straße 61 auf, einem »Knusper­häuschen«, wie er es nannte, in der Zeissia­ner-Sied­lung gegen­über dem Jen­zig, die in den 1930er Jah­ren ent­stan­den war. Noch heute geht das Gerücht, dass die Anord­nung der Häu­ser als NS-Mus­ter­sied­lung, vom Jen­zig oder Fuchs­turm aus gese­hen, den Reichs­ad­ler mit Haken­kreuz nach­bil­den soll­ten. Fakt ist, dass hier die Arbeits­aris­to­kra­tie von Carl Zeiss Jena ihre Heim­statt fand: eine Arbei­ter­schaft, die auch in der DDR stolz dar­auf war, einer Firma mit Welt­ruhm anzu­ge­hö­ren und sich mehr für tech­ni­sche Prä­zi­sion als poli­ti­sche und soziale Wider­sprü­che interessierte.

Auf Wunsch sei­ner Adop­tiv­mut­ter hat Gino Hah­ne­mann 1986 auf das Haus als Erbe zuguns­ten ihrer Nichte ver­zich­tet. Einen Ein­schnitt, den er spä­ter als Ent­eig­nung emp­fin­det. Doch das Gefühl des Fremd­seins in der Fami­lie reicht schon in die Kind­heit zurück. Einem Akten­ord­ner zur Fami­li­en­ge­schichte gibt er den Titel: »Die Zeit heilt alle Wun­der. Eine Fami­lien-Per­for­mance« – nicht die Wun­den hei­len, son­dern die Wun­der, die Erwar­tung eines Wun­ders oder nur einer bes­se­ren Zukunft …

1969 schrieb er das Stück ›Zuhause ster­ben die Rat­ten‹. Er beschreibt darin völ­lig maka­bere Situa­tio­nen und the­ma­ti­siert in expres­si­ven Dia­lo­gen die Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen einer Mut­ter und ihrem 14jährigen Sohn, den Ver­rat am Kind durch Fami­lie und Staat.

Die frühe Ent­wur­ze­lung oder die Hemm­nisse, als Adop­tiv­kind Wur­zeln zu schla­gen, schim­mert als Hin­ter­grund eines unste­ten Getrie­ben­sein immer wie­der im Leben und Werk Hah­ne­manns durch, der sich selbst den Namen Gino gab: lebens­lang auf der Suche nach »Hei­mat«.

Nach wei­te­ren 200 m halb links:

 Im Fluchtrausch oder: »Wei mer briefat« sind –Auf den Spuren von Gino Hahnemann:

  1. Hauptgebäude der Bauhaus-Universität: Pantherei – Geworfene im Fluss der Zeit
  2. Steintisch: Die Zeit heilt alle Wunder
  3. Petőfi-Denkmal: Vom Wandel des Widerspruchs
  4. In der Ferne erscheint das Römische Haus: Quo vadis? Oder wohin sehnen?
  5. Franz-Stein: Flucht in Elysische Gefilde oder Dekonstruktion aller Utopie?
  6. Bank mit Blick zum Goethe-Gartenhaus: Glotzt nicht so romantisch!
  7. Der Schlangenstein: der kriechende (Un-)Geist von Weimar
  8. Shakespeare: Der Tod ist ein Narr
  9. Liszt-Denkmal: Gesang unter gebrochenen Fingern
  10. Parkhöhle: Ginos laufende Bilder im Untergrund
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