Arne Hirsemann – »Ein Flüchtlingstraum«

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Manch­mal träume ich die Träume eines besorg­ten deut­schen Bun­des­bür­gers. Ich weiß nicht warum. Es muss das Unter­be­wusste sein, dass in jedem Deut­schen steckt, so auch in mir. Ver­drän­gung und Angst und Unter­wür­fig­keit. Ich träume so fest, dass ich gar nicht wie­der erwa­chen will. Rie­chen Sie das? Auf den Stra­ßen und in den Innen­städ­ten Deutsch­lands? Vor den Zelt­un­ter­künf­ten, Turn­hal­len und insol­ven­ten Bau­märk­ten? Es duf­tet nach Lakritz­scho­ko­lade und frisch gewa­sche­nen blon­den Haa­ren. In mei­nem Traum ste­hen Trau­ben besorg­ter Bun­des­bür­ger vor die­sen Ein­rich­tun­gen, ich bin einer von ihnen. Wir kom­men aus sämt­li­chen Ein­kom­mens­schich­ten, jung und alt, gemein­sam ver­eint ste­hen wir für eine Sache ein. Ein lau­war­mer Schauer erfasst mei­nen schla­fen­den Kör­per, ich durch­wühle das Bett, doch ich wache noch nicht auf. Wir hal­ten Trans­pa­rente in die Höhe. »Refu­gees Wel­come!« steht auf auf die­sen,  »Nord­män­ner rein! Und ‑frauen auch!«. In mei­nem Traum ken­nen die­sen Spruch alle. Wir lie­ben ihn. Er wird von einer bei­spiel­lo­sen Social Media Kam­pa­gne beglei­tet. Sie nennt sich: #ich­bineins­kan­di­na­vier.

In den Fern­seh­nach­rich­ten mei­nes Trau­mes sieht man glück­li­che islän­di­sche Kin­der hemds­är­me­lig lachend und froh­lo­ckend bei Tem­pe­ra­tu­ren um den Gefrier­punkt Rin­gel­rei­hen tan­zen. Vor dem Bran­den­bur­ger Tor in Ber­lin, vor dem Haupt­bahn­hof in Ham­burg, dem Mari­en­platz in Mün­chen oder auf dem Wil­helm im Heil­bad Hei­li­gen­stadt – die Bil­der sind über­all die glei­chen und las­sen die sonst so stei­ner­nen deut­schen Her­zen schmel­zen wie auf­ge­weich­tes Smør­re­brød. Für den Tanz haben sich die süßen Pief­kes auch einen Namen aus­ge­dacht: »Fløcht­lings­føx­trot­tir«. Der frühe Win­ter­ein­bruch in die­sem Jahr erin­nert die nor­di­schen Refu­gees an den hei­mi­schen Spät­früh­ling von Reykja­vík, Oslo oder Hel­sinki. Sie beschwe­ren sich nicht, denn sie sind viel nied­ri­gere Tem­pe­ra­tu­ren gewöhnt. Viele deut­sche Woh­nungs­tü­ren sieht man die­ser Tage auf­schnap­pen, fri­scher Fil­ter­kaf­fee­duft strömt aus den Stu­ben hin­aus. Die stets gut gelaun­ten Skan­di­na­vier las­sen sich gern auf eine Tasse ein­la­den. Aber sie sind auch höf­lich genug, die deut­sche Gast­freund­schaft nicht über­zu­stra­pa­zie­ren. Sie blei­ben nicht zu lang. »Eine zweite Tasse, nein, nein. Skøl and have a nice day!«

Gene­rell wol­len sie alle nur so schnell wie mög­lich wie­der zurück in ihre mit Schwei­ne­blut getränk­ten Holz­häu­ser, in ihre Dampf­sau­nen und klei­nen süßen Fischer­orte in Fjordnähe. Sie wol­len ihre Her­kunfts­län­der wie­der auf­bauen, die von ihren nor­di­schen Sozi­al­staa­ten zuvor zum Ein­sturz gebracht wur­den. So viel Wohl­stand und heile Welt… das konnte ja nicht ewig gut gehen, nicht wahr? Und wie viele Unmen­gen an Flücht­lin­gen sie selbst noch auf­ge­nom­men hat­ten in den Zei­ten der gro­ßen Krise. Astro­no­misch hohe Zah­len! Wuss­ten die denn nicht, dass unge­bremste Mensch­lich­keit einem frü­her oder spä­ter auf die Füße fällt? Schwe­den hatte im Jahr 2014 antei­lig an sei­ner Bevöl­ke­rung den höchs­ten Stand an geneh­mig­ten Asyl­an­trä­gen in ganz Europa. Das muss man sich mal vor­stel­len! Ich winde mich schweiß­ge­ba­det hin und her und drohe fast aus mei­nem Traum zu erwachen.

Doch das Deutsch­land in mei­nem Traum ist der Fels in der Flücht­lings­bran­dung. Es ver­wehrt kei­nem hil­fe­be­dürf­ti­gen, blon­den, paus­ba­cki­gen, gut­ge­nähr­ten Schwe­den, Nor­we­ger, Fin­nen, Dänen oder Islän­der das benö­tigte Asyl. Sie sind ja auch so hübsch anzu­schauen, diese stol­zen, feis­ten, nor­man­ni­schen Ver­trie­be­nen­ge­sich­ter. Sie wer­den uns nicht auf der Tasche lie­gen, unsere Töch­ter schwän­gern oder unser Stra­ßen­bild auf Dauer ver­än­dern. Nur der am rech­ten Rand befind­li­che Asyl­geg­ner wirft ihnen vor, sie wür­den ledig­lich aus einem ein­zi­gen Grund unser treu­her­zi­ges Land auf­su­chen: um uns unse­ren bil­li­gen Alko­hol weg­zu­sau­fen! Diese Trunkenbolde!

Aber sol­che Stim­men sind in der Min­der­heit. Wir wis­sen: Diese Flücht­linge wol­len uns nichts Böses. Sie sind unsere Brü­der und Schwes­tern im Geiste, sie sind Men­schen wie wir. Sie sind weiß, sie sind in pri­vi­le­gier­tem Besitz eines Pas­ses des euro­päi­schen Schen­gen­rau­mes, sie sind das Abend­land. Und, ja, sie rie­chen so gut! Nach Lakritz­scho­ko­lade und frisch­ge­wa­sche­nen blon­den Haa­ren. Und das liegt vor allem daran, dass sie keine mona­te­lange Odys­see durch Kriegs­ge­biete, Mit­tel­meere und sta­chel­draht­um­zäunte euro­päi­sche Anrai­ner­staa­ten hin­ter sich haben.

Man kann sich seine Flücht­linge nicht aus­su­chen. Ach, aber wenn man könnte… man wird ja wohl noch träu­men dür­fen… gerade als besorg­ter deut­scher Bun­des­bür­ger. Nicht wahr?

 

Arne Hir­se­mann war von 2015 bis Okto­ber 2016 Stadt­schrei­ber der Stadt Hei­li­gen­stadt. Der Text »Ein Flücht­lings­traum« ist ein Aus­zug aus sei­nem aus die­sem  Auf­ent­halt ent­stan­de­nen Buch »Hei­li­gen­städ­ter Minia­tu­ren. Ansich­ten eines Stadt­schrei­bers«, das im Cor­dier Ver­lag erschie­nen ist.
Arne Hir­se­mann, Jahr­gang 1986, auf­ge­wach­sen auf der Halb­in­sel Fisch­land-Darß-Zingst, lebt als freier Schrift­stel­ler, Musi­ker und Dozent in Leipzig.

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