Gelesen von Jens‑F. Dwars
Die Schuld des Westens
„Dies ist ein mutiges Buch …“ So habe ich vor drei Jahren die Besprechung des Bandes Deutsche Vernunft – Angelsächsischer Verstand (2015) von Edelbert Richter eingeleitet (Palmbaum 2/2016). Und so könnte ich auch jetzt wieder beginnen. Denn das neue Buch ist in Inhalt, Ton und Brisanz die Fortsetzung, ja Steigerung des vorhergehenden.
Schon damals widersprach er der überall nachgebeteten Legende vom vermeintlich allein schädlichen Sonderweg der Deutschen, der geradewegs in die Verbrechen des NS gemündet habe. Richter leugnet diese Verbrechen nicht. Als Theologe vor der Wende Dozent an der Predigerschule in Erfurt, gehörte er der kirschlichen Friedens- und Ökologiebewegung an, wurde Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“, war 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordneter der SPD sowie 1991 bis 2005 Mitglied in der Grundwertekommission des Parteivorstandes und wechselte 2007 aus Protest gegen die „Agenda 2010“ zur Linken.
Dieser Autor steht links und doch erscheint sein jüngstes Buch in einem rechtslastig neokonservativen Verlag, weil kein linker es drucken wollte. Für die meisten Rezensenten ist das Grund genug, die Finger davon zu lassen oder es von vornherein zu verdammen. Ging es ihm 2015 um die ökologische Dimension der deutschen Vernunft-Tradition im Gegensatz zum angelsächsischenVer- standesdenken, so will er sich nun Klarheit darüber verschaffen, was es mit der „Schuld des Volkes“ auf sich habe, dem er angehöre.
Bloße Bekenntnisse zur Schuld, zumal zu einer kollektiven, an der nachwachsende Generationen gar nicht beteiligt gewesen sein können, sind ja nicht nur unproduktiv, sondern gefährlich, wenn sie an die Stelle der nötigen Erkenntnis fortwirkender Widersprüche treten. Nicht nur das Verbrechen, ein ganzes Volk in Todesfabriken auslöschen zu wollen, war montrös, auch der Eifer, sich zu dieser Schuld zu bekennen, ist es. Gegen diesen „Schuld-Kult“ setzt Richter nicht wie die Rechten einen trotzig dümmlichen „Stolz, Deutscher zu sein“. Er sucht nach einem Verstehen, das die Verbrechen erklärt, ohne sie zu rechtfertigen! Allein für ein solches Verlangen aber muss man sich heute schon rechtfertigen, weil Verstehen mit Relativieren und dieses wiederum mit Verharmlosen verwechselt wird. Dabei heißt Verstehen das Ergründen einer Tat und ist das Erkennen der Gründe eine Bedingung, kommende Untaten zu verhindern.
Nicht die ach so praktische Marktfrau denkt konkret, sagt Hegel, die im Hinzurichtenden nur den Verbrecher sieht, der seine gerechte Strafe erhält, sondern der Philosoph, der fragt, wie aus dem Menschen ein Verbrecher werden konnte.
Und so fragt Richter nach dem Zusammenhang zwischen dem jüdischen Glauben, ein auserwähltes Volk Gottes zu sein, und der „politischen Religion“ des Nationalsozialismus, einer auserwählten Rasse anzugehören. Dabei erinnert er, wie 1933 bereits Gottfried Benn, an die Völkermorde der Israeliten an den Hetitern, Amoritern, Kanaanitern und anderen Stämmen, die das Alte Testament als Gottes Wille überliefert: „Du wirst alle Völker vertilgen. die der HERR, dein Gott, geboten hat.“ Wer hier Kurzschlüsse zieht, wird zum Zyniker. Wer aber das Ganze der Kulturgeschichte zweier Jahrtausende und nicht nur die 70 Jahre seit dem letzten Weltkrieg bedenkt, der wird sich hüten, vorschnelle Urteile zu fällen.
Um die Schuld, oder sagen wir besser: Mitverantwortung der westlichen Industriestaaten am Entstehen dieses verheerenden Krieges dreht sich der zweite Teil des Buches. Richter erinnert daran, dass die Imperialpolitik Großbritanniens und der USA das ursprüngliche Vorbild Hitlers waren, der sehr genau den Rassismus des weißen Mannes als deren Grundlage begriff und ihnen nacheiferte. Wie die amerikanischen Siedler mit den Indianern umgingen, die Briten mit den Indern oder die Sklavenhändler mit Millionen Afrikanern, so sollten es die Deutschen bei der Eroberung von „neuem Lebensraum“ in Osteuropa tun: sich zu Herren der vermeintlich minderwertigen Rassen aufschwingen oder sie vernichten.
Und weder Amerika noch England haben je vor Kriegen zurückgeschreckt, wenn es ihnen um die Durchsetzung ihrer imperialen Machtinteressen ging. Weshalb der Nürnberger Prozess für Richter so lange ein bloßer Akt des Naturrechts bleibt, des Rechts der Stärke, bis die Sieger nicht ihre eigene Machtpolitik infrage stellen.
Und so fragt er denn auch: Wer mehr Schuld auf sich geladen habe, „diejenigen, die mit den Menschheitsverbrechen begannen“ oder die, die sie imitierten? (S. 380) Die Ersteren, meint Richter, seien die Hauptschuldigen, da sie ein Tabu brachen.
Aber was, wenn die ganze Geschichte nur aus Macht und Abschreckung besteht? Und aus wohlfeilem Moralisieren …
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