Detlef Ignasiak – »Das literarische Thüringen. Autoren-Galerien und Dichter-Stätten«

Personen

Detlef Ignasiak

Siegfried Nucke

Ort

Bucha (b. Jena)

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Siegfried Nucke

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Beitrag erscheint in Heft 1/2022 der Zeitschrift Palmbaum - literarisches Journal aus Thüringen.

Musen­hof Thüringen

Von Sieg­fried Nucke

 

Wer sagt, er habe in einem Buch geblät­tert, läuft Gefahr, auf kul­ti­vierte Weise Des­in­ter­esse zu zei­gen. Ich blät­tere seit Wochen immer wie­der in dem vor­lie­gen­den Band – und das belegt höchs­tes Inter­esse: Fast 1.100 Sei­ten fas­sen Igna­siaks akri­bi­sche Arbeit zusam­men. Von den unaus­weich­li­chen Zet­tel­käs­ten, Datei­ord­nern, Brief­schaf­ten, Aus­zü­gen, Kopien, hand­schrift­li­chen Noti­zen habe ich eine vage Vor­stel­lung – Das lite­ra­ri­sche Thü­rin­gen ist ein Schwer­ge­wicht gewor­den, in jeder Hin­sicht. Eine Wun­der­kam­mer der Lite­ra­tur, Wand­re­gale vol­ler Schatz­käst­lein – man­che mäch­tig und präch­tig, andere nüch­tern und kühl, fak­ten­reich in jedem Fall. Sicher gibt es die gro­ßen Namen, sie wur­den in Thü­rin­gen zu dem, wofür man sie ver­ehrt. Dann wie­der Zeug­nisse jener, die man nur vage in Erin­ne­rung hat, hier gibt es Ent­de­ckun­gen! Und man stößt häu­fig auf die heute unbe­kann­ten Schrei­ber und Dich­ter, Poe­ten und Lyri­ker aller Geschlech­ter, die Igna­siak dem Namen­lo­sen ent­reißt. Jeder, der in Archi­ven gesucht, in brü­chi­gen Zeit­schrif­ten gele­sen hat, weiß um die Zeit, die das braucht; den Zufall, den bei­läu­fi­gen oder geflüs­ter­ten Rat der Hüter der Kon­vo­lute und das auf­merk­same Arbei­ten zwi­schen grauen Archi­va­lien und auf­ge­schnür­ten Akten. Funde, die im Buch auf­blit­zen, denen der Ver­fas­ser nicht immer wei­ter fol­gen kann, bei deren Nen­nung er es belässt – seuf­zend oder knur­rend. Jeder, der in einer ver­steck­ten Ecke auf Neues stößt, weiß um das Glück die­ses Moments und die sich anschlie­ßende Qual des Ver­zich­tens, weil … Wie bän­digt man die Fülle, die Thü­rin­gen – lite­ra­risch – bie­tet? Igna­siak ist mutig, er ord­net ein. Die Krone: Orte mit her­aus­ra­gen­dem lite­ra­ri­schem Rang. Die Medaille: Orte mit lite­ra­ri­schem Rang – und die mit wich­ti­gen Zeug­nis­sen, wel­che man bis­lang über­se­hen hat. Von Alten­burg über Artern – bis Wal­ters­hau­sen und Wei­mar. Und die Idee, von her­aus­ge­ho­be­nen Orten aus eine Rund­reise in die nähere Umge­bung anzu­tre­ten – das regt zu Aus­flü­gen an, die wirk­lich Über­ra­schun­gen zu bie­ten haben. Das Inhalts­ver­zeich­nis braucht drei­ßig Sei­ten, was nicht an der Schrift­größe liegt. Schauen wir z.B. auf »Son­ders­hau­sen“: Hier bil­det sich etwas ab, was dem gan­zen Buch zuzu­schrei­ben wäre: Im Klei­nen fin­det sich immer der Bezug zum All­ge­mein­gül­ti­gen, Gro­ßen, Bedeu­ten­den. Das ist nicht neu, aber trotz­dem ver­blüf­fend im Kon­kre­ten: Fried­rich von Sydow publi­zierte Die Jung­frau. Nach den Anfor­de­run­gen des ver­nünf­ti­gen, gebil­de­ten und gefühl­vol­len Man­nes. Oder Winke zur Aus­bil­dung des weib[1]lichen Geschlechts. Aus der Feder eines Man­nes. Seine Frau Wil­hel­mine von Sydow grün­dete den Son­ders­häu­ser Frau­en­ver­ein. Sohn Emil war u.a. »… ein bedeu­ten­der Kar­to­graf, dem wir die heute noch übli­che Farb­ge­bung (Tiefland=grün, Gebirge= braun) der Land­kar­ten verdanken.«(S. 784) Im kleins­ten Dorf­wei­ler fin­den sich die Ver­bin­dungs­li­nien zur gro­ßen Welt: Neh­men wir Löb­ichau im tie­fen Thü­rin­ger Osten: »Seine geis­ti­gen Impulse emp­fing die­ser Musen­hof nicht aus Wei­mar oder Jena, auch nicht aus Gotha oder Alten­burg, …, son­dern – was ihn in Thü­rin­gen her­aus­hebt – aus den euro­päi­schen Metro­po­len, an denen seine Stif­te­rin fast drei Jahr­zehnte lang ver­kehrte, … von denen sie als eine Frau von außer­or­dent­li­chem For­mat akzep­tiert, ja hofiert wurde.«Die Rede ist von Anna Doro­thea von Kur­land. (S. 761) Natür­lich stößt man all­über­all auf Goe­thes Spu­ren. Weg­wei­send selbst­ver­ständ­lich. Aber man wird viel­leicht über­rascht, dass Goe­thes Vor­fah­ren auch aus Berka an der Wip­per oder Artern an der Unstrut stamm­ten. In Groß­furra hei­ra­tete August Her­mann Francke seine Anne Mag­da­lena. In Grü­nin­gen ver­liebte sich Nova­lis. In Schal­kau in Süd­thü­rin­gen fin­den sich Refor­ma­tor Maxi­mi­lian Mör­lin und Roman­au­tor M.E. Franck sowie auch der Rake­ten­pio­nier Fritz Mül­ler. Lite­ra­tur in Thü­rin­gen wird auch leben­dig, wenn lite­ra­ri­sche Texte zum Ort ein­ge­streut wer­den, so zum Bei­spiel Hanns Cibul­kas Gedicht Dorn­burg oder Joa­chim Rin­gel­natz‘ Verse, die auf den Ort Kunitz Bezug neh­men. Dass er seine Frau »Muschel­kalk« nannte, hat man schon irgendwo gele­sen. (S. 573) Aber wer weiß, dass er mit zehn Jah­ren in Frau­en­prieß­nitz getauft wurde? Dass Igna­siak auch zum Schalk neigt, zei­gen Andeu­tun­gen wie: »… die genea­lo­gi­schen Wur­zeln der Feu­er­bachs [ragen] bis in die Wei­ma­rer Fürs­ten­fa­mi­lie [hinein]«(S. 149). Und es berührt mich, wenn ich auf Men­schen stoße, an die ich mich dank­bar erin­nere: Mar­ga­rete Braun­gart (verst. 1998), die im Buch so zitiert wird: »Beim Kuchen­ba­cken sollte man alle fünf Sinne bei­sam­men haben. … Die Ohren neh­men das feine Wis­pern des gären­den Hefe­teigs wahr und hören zugleich auf den neu­es­ten Dorfklatsch.«Ein Wink aus Grim­mels­hau­sen, meine ich, der auch auf Lite­ra­tur wei­sen könnte. Kurzum: ein wich­ti­ges Buch, viel­sei­tig, detail­reich, far­ben­froh – ein leben­di­ges Kom­pen­dium zu dem, was der Titel annon­ciert: Das lite­ra­ri­sche Thüringen.

 

  • Det­lef Igna­siak – Das lite­ra­ri­sche Thü­rin­gen. Autoren-Gale­rien und Dich­ter-Stät­ten, quar­tus-Ver­lag 2022, 1.088 S. 59,90 EUR.
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