Christoph Schmitz-Scholemann − »Schlechte Zeiten für Thersites«

Thema

Stimmen gegen den Krieg

Autor

Christoph Schmitz-Scholemann

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

I. Homer

Die frü­heste Dar­stel­lung eines Krie­ges in der euro­päi­schen Lite­ra­tur ent­stand im 8. Jahr­hun­dert vor Chris­tus. Homers „Ilias“ schil­dert den Kampf der Grie­chen gegen die (eben­falls Grie­chisch spre­chen­den) Tro­ja­ner, die ihre Stadt nach zehn Jah­ren grau­sams­ten wech­sel­sei­ti­gen Mor­dens auf­ge­ben müs­sen. Der vom tro­ja­ni­schen Prin­zen Paris began­gene Raub der schö­nen Helena aus Sparta war damit gerächt. Die für mich als ein­ge­fleisch­ten Pazi­fis­ten inter­es­san­teste Gestalt, ja der eigent­li­che Held, ist der grie­chi­sche Sol­dat Thersites.

»Der häss­lichste Grie­che vor Troja,
säbel­bei­nig, hin­kend auf einem Fuße,
trich­ter­brüs­tig und buck­lig und krumm,
mit ver­wach­se­nem Kopf und spär­li­cher Wolle darauf.«

Also ein häss­li­cher Mann, der zu allem Über­fluss auch noch eine unan­ge­nehme Fis­tel­stimme hat. Warum ist er für mich ein Held? Weil er sich noch vor dem ers­ten Waf­fen­gang als ein­zi­ger Grie­che gegen den Krieg aus­spricht. Was geschieht mit ihm? Er wird der­ma­ßen durch­ge­prü­gelt, dass er in der gan­zen Ilias nicht mehr vor­kommt. Wäre es bes­ser gewe­sen, man hätte auf ihn gehört? Oder hät­ten sich die Tro­ja­ner dadurch etwa zu wei­te­ren Frau­en­ent­füh­run­gen ermu­tigt gefühlt?

 

II. Ist Kapi­tu­la­tion eine Schande?

Offen­sicht­lich ja. Jeden­falls gegen­über einem so schmäh­li­chen Angriff wie dem Putins gegen die Ukraine. Putin steht für die Idee rück­sichts­lo­ser und grau­sa­mer Des­po­tie. Seit min­des­tens einem Jahr­zehnt lässt er nie­der­ma­chen, wer immer ihm in die Quere kommt. Wenn man ihm nichts ent­ge­gen­setzt, unter­wirft man sich. Und was sollte man ihm ent­ge­gen­set­zen, wenn nicht Waf­fen und die Bereit­schaft, sie, koste es was es wolle, ein­zu­set­zen? Wenn wir frei leben wol­len, müs­sen wir ihm, so scheint es, mit den Mit­teln begeg­nen, die ihn – viel­leicht – beeindrucken.

 

III. Der Preis

Aller­dings hat das einen Preis, der schon jetzt sicht­bar wird. Wir müs­sen auf­rüs­ten, auch wenn wir das eigent­lich nicht wol­len. Wir müs­sen Koh­le­kraft­werke und Kern­kraft­an­la­gen wie­der in Betrieb neh­men, auch wenn wir ges­tern noch gesagt haben, dass es ein Feh­ler wäre, das zu tun. Wir müs­sen auch bereit sein, unsere Waf­fen ein­zu­set­zen, was bedeu­tet, dass wir zum mas­sen­haf­ten Töten bereit sein müs­sen, was wir doch über­haupt nicht wol­len. Und da Krieg auch immer Infor­ma­ti­ons­krieg ist, wer­den wir die Ansprü­che an unsere eigene Wahr­haf­tig­keit ein­schrän­ken müs­sen. Wir wer­den es nicht schlimm fin­den dür­fen, wenn unsere Geheim­dienste bes­ser lügen als die des Geg­ners. Wir schrän­ken also unsere Frei­heit samt unse­rer Moral ein, um sie zu ver­tei­di­gen? Ja, genau das tun wir.

Wer unter gegen­wär­ti­gen Bedin­gun­gen den­noch an der pazi­fis­ti­schen Idee all­sei­ti­ger Ent­waff­nung und Auf­recht­erhal­tung unse­rer mora­li­schen Ansprü­che fest­hält, dem wird vor­ge­wor­fen, seine Nai­vi­tät spiele der Macht des Bösen, der eben zur Nie­der­le­gung der Waf­fen nie­mals bereit sei, in die Hände. Auch das dürfte rich­tig sein.

Wir sind also offen­kun­dig in einem Dilemma. Egal, ob wir am Pazi­fis­mus fest­hal­ten oder nicht: Gegen­über der Bedro­hung durch einen Gewalt­tä­ter kön­nen wir unsere mora­li­schen Ansprü­che und unse­ren Frie­dens­wil­len nicht auf­recht­erhal­ten. Wir wer­den uns die Hände schmut­zig machen müs­sen, so oder so.

Was wir aber viel­leicht tun kön­nen ist: Dass wir ein­an­der zuhö­ren und uns nicht beschimp­fen. Wenn wir mit Anstand behaup­ten wol­len, wir müss­ten zum Krieg bereit sein, um unsere Frei­heit zu ver­tei­di­gen, dann müs­sen wir auch die Frei­heit der Geg­ner des Krie­ges schüt­zen. Wir dür­fen sie nicht zu Fein­den erklä­ren. Sie haben auch Argu­mente. Michel de Mon­tai­gne zum Bei­spiel spricht im Ers­ten Buch sei­ner Essays von Situa­tio­nen, in denen die Kapi­tu­la­tion auch bei noch so unge­rech­tem Angriff zur mora­li­schen Pflicht werde.

 

IV. Eine Flamme der Zuver­sicht sein

Der eng­lisch-ame­ri­ka­ni­sche Dich­ter W.H. Auden schrieb an dem Tag, als Hit­ler den 2. Welt­krieg begann, ein Gedicht mit dem Titel »1. Sep­tem­ber 1939«. Die letzte Stro­phe lau­tet wie folgt:

Defen­celess under the night
Our world in stu­por lies;
Yet, dot­ted everywhere,
Iro­nic points of light
Flash out whe­re­ver the Just
Exchange their messages:
May I, com­po­sed like them
Of Eros and of dust,
Beleague­red by the same
Nega­tion and despair,
Show an affir­ming flame.

 

Schutz­los unter der Nacht
Liegt unsere Welt im Vollrausch.
Und doch, über­all ver­teilt, sind
Iro­ni­sche Lichtpunkte,
Die auf­blit­zen, wo immer
Die Gerech­ten ihre Bot­schaf­ten austauschen.
Ach, dass ich doch,
Wie sie gebaut aus Lust und Staub,
Gequält wie sie von Negation
Und von Verzweiflung,
Eine Flamme zei­gen könnte,
Die von Zuversicht
Und von Beja­hung spricht.

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