Christian August Vulpius – »Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann«

Personen

Christian August Vulpius

Annerose Kirchner

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Annerose Kirchner

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Anne­rose Kirchner

 

Ein hef­ti­ger Sturm zieht über die nächt­li­chen Apen­ni­nen. Ein Lager­feuer fla­ckert, wäh­rend eine Schar von Män­nern etwas Schlaf sucht. Einer von ihnen ist Rinaldo Rinal­dini, gefürch­te­ter Anfüh­rer einer Bande von Räu­bern, die den Rei­chen nimmt und den Armen gibt. Weil ihm nicht schlä­fert, greift er zur Gitarre und singt sich ein Lied…

Chris­tian August Vul­pius (1762 – 1827) beginnt mit die­ser atmo­sphä­ri­schen Szene sei­nen berühm­ten Roman »Rinaldo Rinal­dini«. Als er das drei­bän­dige Werk 1798 in Leip­zig ver­öf­fent­lichte, ahnte er wohl schon, dass er damit den Geschmack eines gro­ßen Publi­kums tref­fen würde. Die Leser wur­den mit einer mar­ki­gen Ein­lei­tung wirk­sam umwor­ben: »Ganz Ita­lien spricht von ihm; die Apen­ni­nen und die Täler Sizi­li­ens hal­len wider von Rinal­dini! Sein Name lebt in den Can­zo­net­ten der Flo­ren­ti­ner, in den Gesän­gen der Kala­bre­sen und in den Roman­zen der Sizi­lia­ner. Er ist der Held der Erzäh­lun­gen in Kala­brien und Sizi­lien.« Und damit nicht genug, heißt es wei­ter: »Am Vesuv und am Ätna unter­hält man sich von Rinal­di­nis Taten. Die geschwät­zi­gen Städ­te­be­woh­ner Kala­bri­ens ver­sam­meln sich abends vor ihren Häu­sern, und jeder in der Ver­samm­lung weiß ein Geschicht­chen von dem valo­roso capi­tano Rinal­dini zu erzäh­len. […]«

Der Erfolg stellte sich sofort ein. Die Leser waren begeis­tert von der Lek­türe über einen roman­ti­schen Räu­ber, der eigent­lich gar nicht Räu­ber sein will, son­dern sei­nen See­len­frie­den sucht, aber nicht aus sei­ner Haut schlüp­fen kann. Die Räu­ber­pis­tole bot Zer­streu­ung und Unter­hal­tung, lenkte für Momente ab vom har­ten All­tag und gab den Lesern eine roman­ti­sche Vision und Illu­sion von einem Leben, das sie nie füh­ren wür­den. Damit war ein Mas­sen­phä­no­men gebo­ren, das Aus­wir­kun­gen weit über Deutsch­land hin­aus hatte. Über­set­zun­gen des Romans erschie­nen in ver­schie­de­nen Spra­chen, wie in Eng­lisch, Fran­zö­sisch, Spa­nisch, auch in Pol­nisch und Unga­risch. Und der Autor, der mit die­sem Buch ein völ­lig neues Genre schuf – den Tri­vi­al­ro­man -, spann auf Wunsch des Publi­kums die Geschichte wei­ter mit neuen Aben­teu­ern, nahm dar­aus Anlei­hen für wei­tere Romane und dra­ma­ti­sierte sei­nen Stoff.

Die Rezep­tion des »Rinaldo Rinal­dino« wirkt bis in unsere Gegen­wart, sozu­sa­gen als »Urva­ter« zahl­rei­cher popu­lä­rer Hel­den in Film, Fern­se­hen und auf der Bühne bis hin zum Comic. Als Bei­spiel sei hier nur Robin Hood genannt, aber ein Spi­der­man steht dem nicht nach bis hin zu tat­säch­lich his­to­risch beleg­ten Räu­bern und Gangs­tern wie Al Capone und Dillinger.

Ange­regt von Vul­pius und sei­nem Stoff fühl­ten sich auch zahl­rei­che deutsch­spra­chige Autoren. 1801 ver­öf­fent­lich­ten der Thü­rin­ger Johann Daniel Born­schein (»Anto­nia della Roc­cini, die See­räu­ber-Köni­gin«) und Johann Fried­rich Ernst Albrecht (»Dolko der Ban­dit. Zeit­ge­nosse von Rinaldo Rinal­dini«) ihre Bücher. 1830 folgte Moritz Rich­ter mit »Nik­a­nor, der Alte von Fron­teja«. Ende des 19. Jahr­hun­derts gab es eine Roman­heft­se­rie und um 1900 erschie­nen unzäh­lige Publi­ka­tio­nen über Räu­ber sämt­li­cher Cou­leur. So trug Band 5 einer 31 Bände umfas­sen­den Serie aus dem Dresd­ner Roman­ver­lag – erschie­nen 1909 bis 1911 – den Titel »Rinaldo Rinaldino«.

Im 20. Jahr­hun­dert gab es 1927 eine Ver­fil­mung von Max Obal und 1969 ent­stand unter der ARD eine deutsch-fran­zö­si­sche Fern­seh­se­rie, die große Beach­tung erfuhr. Bemer­kens­wert, dass sich Robert Wal­ser in einem Roman­ent­wurf mit der Figur eines zeit­ge­nös­si­schen »Räu­bers« beschäf­tigt, eines mit­tel­lo­sen Schrift­stel­lers, der am Rande der Gesell­schaft in den Tag hin­ein­lebt. Der Text erschien post­hum 1972 unter dem Titel »Der Räu­ber«. 2013 schuf André Kann­stein nach Moti­ven von Vul­pius eine Mär­chen­ko­mö­die mit dem Titel »Rinaldo Rinal­dini«. Die höchste Ehrung in unse­rer Zeit erhielt der Vulpius’sche Roman 2002 durch den Haren­berg Ver­lag: Her­aus­ge­ber Joa­chim Kai­ser nahm ihn in »Das Buch der 1000 Bücher« auf.

Es stellt sich natür­lich die Frage, kann man die­sen Roman, der wie ein Kata­ly­sa­tor über seine Zeit hin­aus wirkt, heute noch im Ori­gi­nal lesen? Zu emp­feh­len ist eine gelun­gene Bear­bei­tung aus dem List Ver­lag Mün­chen von 1962. Sie folgt behut­sam der Erst­aus­gabe und setzt die unzäh­li­gen Dia­loge (im Ori­gi­nal gedruckt wie Büh­nen­dia­loge), die  auch jetzt noch kaum über­schau­bar sind, in eine ver­ständ­li­che Hand­lung um und kürzte Län­gen, ohne die Schreib­weise des Autors »anzu­tas­ten«. »Das Pro­blem wurde gelöst«, heißt es im Nach­wort, »indem man die Dia­loge im Sinn des kon­ven­tio­nel­len Roman­dia­logs umschrieb, über­all dort, wo es gebo­ten erschien, raffte und weg­strich, die allzu ver­bo­ge­nen Sätze leicht zurecht­rückte und eini­ger­ma­ßen kon­se­quent durch­in­ter­punk­tierte« – »ohne aus dem schlech­ten einen guten Schrift­stel­ler zu machen«.

Das Ergeb­nis ent­täuscht nicht: Wenn man den Text unvor­ein­ge­nom­men und mit dem Blick auf die Ent­ste­hungs­zeit liest, ist man schnell vom Gesche­hen gefes­selt und folgt, beglei­tet von Hei­ter­keit, den ver­wor­re­nen Wegen des edlen Räu­ber­haupt­manns Rinaldo Rinal­dini, der ein Zie­gen­hirt war und das länd­li­che Leben mochte: »›Ach!‹, seufzte Rinaldo, ›daß auch ich noch hin­ter Her­den ein­her­ginge, wie ehe­mals auf den väter­li­chen Flu­ren. Daß auch ich noch froh und mun­ter, schuld­los und unbe­fan­gen wie diese Hir­ten, die Töne mei­ner Schal­mei den schmei­cheln­den Lüf­ten ver­mäh­len könnte! – Wie, wenn ich in ein fer­nes Land ginge, wie­der zu mei­nem Hir­ten­stabe griffe und mich in der Ein­öde abge­le­ge­ner Trif­ten ver­ber­gen würde. Wer hält mich denn noch zurück im Tau­mel­kreis der Welt, wo ich, von Gefah­ren umlau­ert, gewiß noch ein Opfer des Gal­gens werde?‹« Diese düs­tere Zukunft­aus­sicht soll sich bald bestä­ti­gen, am Ende des Romans tötet ihn der geheim­nis­volle »Alte von Fron­teja«, um ihn vor der schmach­vol­len Ver­haf­tung durch die Miliz zu retten.

Hin­ter­grund des Gesche­hens ist der Frei­heits­kampf der Kor­sen im 18. Jahr­hun­dert gegen die Fran­zo­sen. Im Roman wird die­ser von einem Geheim­bund unter dem Alten von Fron­teja geführt.

Der Rinaldo Rinal­dini von Vul­pius ist kein Super­held. Unglück­li­che Zufälle haben ihn ins Räu­ber­da­sein geführt. Dem möchte er ent­kom­men, kann aber nicht aus­stei­gen. Daran ändern auch die zahl­rei­chen wech­seln­den Bezie­hun­gen zum weib­li­chen Geschlecht nichts. Frauen ret­ten ihn aus aus­weg­lo­sen Situa­tio­nen, ver­hel­fen ihm zur Flucht und geben ihm Schutz. Die männ­li­chen Ban­den­mit­glie­der sind da mehr nur ein Anhäng­sel. Rinaldo Rinal­dini, auf den ein Kopf­geld aus­ge­setzt ist, gibt kei­nen Böse­wicht. Er fun­giert als Anti­held – ein Räu­ber, der Gitarre spielt, der sich gern ver­klei­det und ver­schie­dene Iden­ti­tä­ten annimmt. Die­ses Spiel scheint er mehr zu lie­ben als alles andere. Das macht ihn auch heute sympathisch.

»Rinaldo Rinal­dini« wurde zum größ­ten Buch­er­folg für Chris­tian August Vul­pius, der über seine Biblio­theks­lek­tü­ren zum Stoff fand. Als lite­ra­ri­sches Vor­bild könn­ten der ita­lie­ni­sche Bri­gant Angelo Duca Pate oder ein Tom­maso Rinal­dini gestan­den haben.

Erwähnt wer­den muss unbe­dingt: Chris­tian August Vul­pius ver­dankte seine beruf­li­che künst­le­ri­sche Ent­wick­lung wesent­lich sei­nem Schwa­ger Johann Wolf­gang von Goe­the. Der »Dich­ter­fürst« hei­ra­tete des­sen Schwes­ter Chris­tiane. Chris­tian August Vul­pius war mit »sei­nem« lie­bens­wür­di­gen und teil­weise recht vor­nehm wir­ken­den Räu­ber so eng ver­bun­den, dass er sei­nem ältes­ten Sohn, gebo­ren 1802, also wenige Jahre nach Erschei­nen sei­nes Erfolgs­ro­mans, den Vor­na­men Rinaldo gab.

  • Chris­tian August Vul­pius: »Rinaldo Rinal­dini, der Räu­ber­haupt­mann. Eine roman­ti­sche Geschichte in drei Tei­len oder neun Büchern«. List Ver­lag Mün­chen. Reihe List Taschen­bü­cher. Mün­chen 1964.
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