André Schinkel » – »Bodenkunde. Gedichte«

Person

Dietmar Ebert

Ort

Ranis

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Ebert

Erstdruck in Palmbaum 2-2017 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Gele­sen von Diet­mar Ebert

Lyri­sche Bil­der von Natur‑, Kul­tur – und Seelenlandschaften

 

Jens-Fietje Dwars hat in sei­ner Rezen­sion im Palm­baum 2/2017 dar­auf ver­wie­sen, dass fünf Jahre ver­gan­gen sind, seit André Schin­kel sei­nen gedan­ken­schwe­ren Band Par­lando in der Schwar­zen Reihe des quar­tus-Ver­la­ges und des­sen hei­te­res Gegen­stück Sina Gum­pert im Mit­tel­deut­schen Ver­lag ver­öf­fent­licht hat. 2015 ist sein Pro­sa­band Licht auf der Mauer erschienen.

Seine Gedichte und Erzäh­lun­gen gibt André Schin­kel nur nach reif­li­cher Über­le­gung und gründ­li­cher Prü­fung für sein Lese-Publi­kum frei, denn als stu­dier­ter Archäo­loge weiß er um den Zusam­men­hang zwi­schen Tek­to­nik und Lyrik und um die Zeit, die es braucht, ehe bebende Erde und bebende Gefühle zur Ruhe kom­men. Dazu braucht es manch­mal Jahre.

Des­halb lässt André Schin­kel aus gutem Grund seine Gedichte lagern und ruhen, schleift hin und wie­der Ver­här­tun­gen ab und gibt ihnen nach lan­gem Betrach­ten die end­gül­tige Form. Die 77 in dem Band Boden­kunde ver­sam­mel­ten Gedichte ent­hal­ten Gedichte von 1995 bis 2016, das Gros von ihnen ist in den Jah­ren 2008 bis 2010 ent­stan­den. Auch man­che Gedichte aus den 1990-er Jah­ren haben am Ende des ers­ten Dez­en­ni­ums im neuen Jahr­tau­send ihre jet­zige Form erhalten.

Nicht wenige Gedichte ent­hal­ten einen direk­ten oder indi­rek­ten Bezug zu Schin­kels Zeit auf Burg Ranis, die er als Stadt­schrei­ber hier ver­brachte. Den Erin­ne­rungs- und Trau­er­ge­sän­gen an eine große Liebe, die er in Ranis ken­nen gelernt hat, ist das Bild die­ser Natur-und Kul­tur­land­schaft ein­ge­schrie­ben. Das Gedicht  Wunsch­brun­nen. Für Gisela Kraft, das der Hal­len­ser Lyri­ker sei­ner schwer erkrank­ten Wei­ma­rer Kol­le­gin zuge­eig­net hat, gehört zu den schöns­ten und inten­sivs­ten lyri­schen Dich­ter­ga­ben. Thü­rin­gen, seine Land­schaft, seine Men­schen,  seine Dich­te­rin­nen und Dich­ter, sind für den in Eilen­burg gebo­re­nen und in Halle leben­den André Schin­kel immer wich­tig gewe­sen. 2014 ver­brachte er ein hal­bes Jahr als Stadt­schrei­ber in der Jenaer Villa Rosen­thal, und 2016 erhielt er das Harald-Ger­lach-Sti­pen­dium des Frei­staa­tes Thü­rin­gen. Die Jury wusste nur zu gut um die kraft­volle, bild­mäch­tige, aber auch sehr sehr zarte, behut­same Spra­che, die Schin­kels Lyrik aus­zeich­net. In sei­nem Band Boden­kunde fin­den sich einige der schöns­ten Lie­bes­ge­dichte, die es in der moder­nen deutsch­spra­chi­gen Lyrik gibt.

Ich denke an Unsere Liebe, das wun­der­bare Gedicht Am Röthaer See aus dem Jahr 2008 mit sei­nem immer wie­der­keh­ren­den leit­mo­ti­vi­schen Vers Wir sind Rosen­kä­fer im Wind der Ver­damm­nis, dem ihm geschwis­ter­lich ver­bun­de­nen Gedicht Zdrava Voda, dem reim­lo­sen Sonett Die Zim­mer­linde und dem lied­haf­ten, den Band beschlie­ßen­den Gedicht Du bist eine Lilie.

Die Mehr­zahl des Ban­des sind Lie­bes­ge­dichte, und Boden­kunde meint in die­sem Sinne, dass der Dich­ter André Schin­kel den Archäo­lo­gen in ihm in Dienst nimmt, um die Schich­ten sei­nes Innern zu erkun­den: zunächst das Lie­bes­er­leb­nis und her­nach alles, was sich an Erin­nern und Gedich­te­tem über die Wunde gelegt hat. Mag sein, dass der Zeit­raum, der die Gedichte umspannt, den gro­ßen Bogen und den wei­ten Weg wider­spie­gelt, den ein gro­ßes Lie­bes­er­leb­nis aus­ge­löst hat, ehe nun Kopf und Weg frei sind für eine große Liebe in der Mitte des Lebens.

Eine phi­lo­lo­gisch und archäo­lo­gisch grun­dierte Innen­schau sind die sie­ben mit Sepia über­schrie­be­nen reim­lo­sen Sonette aus dem Jahr 2008. Zu sehr kräf­ti­gen Bil­dern ver­dich­tet André Schin­kel diese Gesänge der Liebe. Es sind die immer wäh­ren­den Tänze und Bewe­gungs­spiele zwi­schen magi­scher Anzie­hung und ihr fol­gen­der Absto­ßung, die bestän­dige Suche der Part­ne­rin oder des Part­ners im Lie­bes­spiel, ohne jemals sich fest bin­den zu können.

Eine Gruppe von Gedich­ten, zu denen Ameno­phis beklagt den Pylon, Nefe­reti singt, Sie lockt ihn noch ein­mal, Sonar und Phi­le­mons Nacht­lied gehö­ren, legt André Schin­kel den Schutt der Jahr­hun­derte über den Ereig­nis­sen, die im klas­si­schen Alter­tum statt­fan­den, frei. So stößt er zu deren über­zeit­li­chem mythi­schen Kern vor, rückt das Ver­gan­gene in die Gegen­wart und erschließt uns Lesern des­sen Lebendigkeit.

Das ist Boden­kunde im bes­ten Sinne!

Schließ­lich ent­hält der Band Boden­kunde noch eine Reihe von aus­ge­zeich­ne­ten Land­schafts­ge­dich­ten wie Der Bro­cken, Über den Berg­strom, Urstrom­tal, Albena, Weg zur Oran­ge­rie, Der mär­ki­sche Herbst, Bör­de­licht, Stari most und Mär­ki­sche Remi­nis­zenz. Alle Land­schafts­ge­dichte, vor allem die im Umfeld sei­nes Wie­pers­dor­fer Auf­ent­hal­tes 2009 ent­stan­de­nen, zei­gen André Schin­kel als genauen Beob­ach­ter der ihn umge­ben­den Natur- und Kul­tur­land­schaft. Dabei gelin­gen ihm leise glei­tende Über­gänge von wahr genom­me­ner, ja fast ein­ge­at­me­ter Land­schaft in die Bezirke des Inne­ren, die Regun­gen und Spie­ge­lun­gen der eige­nen Seele.

In ganz beson­de­rem Maße ist ihm das in Mira­bella mys­tica, einem Liebes‑, Sehn­suchts- und Abschieds­ge­dicht über die wil­den Mira­bel­len gelun­gen. Man darf sie nicht allein suchen, denn dann wer­den sie unsicht­bar, wie es dem Dich­ter geschah. Ein Herbst­ge­dicht vol­ler kräf­ti­ger Far­ben und sanf­ter Töne, das mit einer ganz fei­nen Schicht Humor über­zo­gen ist.

Was wäre ein Dich­ter, gäbe es nicht die fei­nen und doch sehr halt­ba­ren Fäden, die ihn mit ande­ren Dich­tern ver­bin­den. Wolf­gang Hil­big war einer der Dich­ter und Schrift­stel­ler, die André Schin­kel am nach­hal­tigs­ten geprägt haben. Davon spre­chen sein 1995 begon­ne­ner und 2011 voll­ende­ter Text Sos­ten­uto für Wolf­gang Hil­big und sein eben­falls 2011 ent­stan­de­nes Frag­ment  An Hil­big II. Im Jahr 2009 ver­fasste André Schin­kel einen bewe­gen­den ima­gi­nä­ren Dia­log mit dem Hal­len­ser Schrift­stel­ler Bernd-Die­ter Hüge: An Hüges Grab, und im ver­gan­ge­nen Jahr schrieb er für den Hal­len­ser Maler Uwe Pfei­fer das Gedicht Hand­stand für Uwe Pfei­fer.

Die lyri­schen Gaben an Künst­ler­freunde run­den den gut kom­po­nier­ten und gestal­te­ten Band Boden­kunde von André Schin­kel ab. Wie­der ein­mal lässt sich vol­ler Freude kon­sta­tie­ren, dass seine Gedichte sich in keine Schub­lade pres­sen las­sen. Als Meis­ter der Form hat er sich in fast jedem sei­ner Gedichte erwie­sen. Er selbst nennt  sich gern einen Anar­cho-Klas­si­zis­ten. Nach Boden­kunde würde ich eher von einem Anar­cho-Roman­ti­ker sprechen!

  • André Schin­kel: Boden­kunde. Gedichte,Mitteldeutscher Ver­lag Halle/S. 2017
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