Imre Kertész – »Roman eines Schicksallosen« und »Der Spurensucher«

Orte

Erfurt

Gedenkstätte Buchenwald

Thema

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Autor

Gerhard Wien

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Ger­hard Wien 

Allein auf der Suche nach sich selbst – zu Imre Ker­tész Roma­nen »Roman eines Schick­sal­lo­sen« und »Der Spurensucher« 

Eine Betrach­tung lite­ra­risch gepräg­ter Zeit­zeu­gen­schaft zur NS-Ver­fol­gung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung durch Über­le­bende des Holo­caust zum Inter­na­tio­na­len Tag des Geden­kens an die Opfer des Holo­caust am 27.1.2022

 

»Die Über­lie­fe­rung muss erfragt wer­den, sie fließt nicht von allein wie ein Fluss, sie muss gedeu­tet wer­den, um ihr einen Sinn geben zu kön­nen, so wie die Erzäh­lung vom Aus­zug aus Ägyp­ten in der Pes­sach-Hag­gada mit der Frage ein­setzt: Was unter­schei­det diese Nacht von allen ande­ren Nächten?«

(Bar­bara Honigmann)

 

Von der pro­pa­gan­dis­ti­schen Unbrauch­bar­keit des lite­ra­ri­schen Prot­ago­nis­ten György Köves

Imre Ker­tész‘ »Roman eines Schick­sal­lo­sen« (Buda­pest 1975, Rein­bek 1998) ist durch­drun­gen vom lite­ra­risch gepräg­ten Gedächt­nis des Autors, aus dem er sich auto­bio­gra­fisch zu Wort mel­det. Dabei geschieht aller­dings die Wür­di­gung der Opfer des Holo­caust an den Häft­lin­gen von Ausch­witz und Buchen­wald unge­wöhn­lich indi­rekt und gilt daher im sozia­lis­ti­schen Ungarn 1975 gera­dezu als »anstö­ßig«. Nach sei­ner lange ver­zö­ger­ten Ver­öf­fent­li­chung wer­den Roman und Autor tot­ge­schwie­gen. Warum das?

Ein Erklä­rungs­ver­such: Der Prot­ago­nist des Romans war vor sei­ner Depor­ta­tion nach Ausch­witz 1944 kaum einer poli­ti­schen oder reli­giö­sen Ein­fluss­nahme durch Eltern­haus, Schule oder Reli­gi­ons­ge­mein­schaft aus­ge­setzt. Beim Schrei­ben sei­nes Romans erin­nert der Autor mit Sicher­heit die eigene Beob­ach­tungs­gabe im Kin­des­al­ter und die, mit der er als 15- und 16Jähriger die Lager Ausch­witz, Buchen­wald und Zeitz über­lebt hatte. Die­sen Schatz, die naive und kind­lich ein­fäl­tige Deu­tung des zu Hören­den und zu Sehen­den, weiß er als gereif­ter Publi­zist und Autor wie­der zu heben. Bei­spiel­haft dafür ist schon die Schil­de­rung der Ankunft im Lager Ausch­witz, die von sozia­lis­ti­schen Rezen­sen­ten dann auch als »gro­tes­kes Spek­ta­kel« gebrand­markt wird. Wenn Ker­tész sei­nen Prot­ago­nis­ten immer wie­der den Ver­such machen lässt, hin­ter allen Zwangs- und Ter­ror­maß­nah­men und trotz Auf­he­bung aller in Gel­tung ste­hen­den Werte eine Lager­lo­gik zu ent­de­cken und sich Mühe zu geben, »ein guter Häft­ling« zu sein oder zu wer­den, dann muss auch das die Miss­bil­li­gung jener unga­ri­schen Rezen­sen­ten fin­den , ebenso des Autors Ver­ständ­nis dafür, dass sich sein Held zurecht­fin­den möchte in der für ihn völ­lig unbe­kann­ten Lager­wirk­lich­keit vol­ler Häft­lings­ty­pen und –gestal­ten. Ker­tész lässt ihn eben ein­fach als Unwis­sen­den in sei­ner all­tags­ge­wohn­ten Spra­che, aber mit gro­ßer Genau­ig­keit nur e r z ä h l e n, nie­mals erklä­ren wol­len, was seine Sinne da wahr­neh­men müs­sen. Und er macht dem Lesen­den deut­lich, er sei nur durch­ge­kom­men, weil es die Zeit als Phä­no­men gäbe. Der Ich-Erzäh­ler braucht die Distanz, sein Nicht­be­tei­ligt­sein am Gesche­hen, um das Unsag­bare aus­spre­chen zu kön­nen. Nein, der Roman will nicht erklä­ren. Über­zeu­gen­der ist es, dem Lesen­den zuzu­mu­ten zu erschre­cken, ein­zu­se­hen, zu erkennen.

Der kind­lich unschul­dige Ton erin­nert an die Art von Grim­mels­hau­sens lite­ra­ri­schem Hel­den Sim­pli­cius und des­sen Weise, aus kind­li­cher Nai­vi­tät Gräu­el­ta­ten des 30jährigen Krie­ges zu schil­dern: Schän­dung von Frauen, Mor­den, Brandschatzen.

Wie den Flücht­lings­jun­gen jüdi­sche Reli­gio­si­tät zu berüh­ren beginnt

Was für Sim­pli­cius die Unter­wei­sung in christ­li­cher Lehre durch einen Ein­sied­ler zuneh­mend bewirkt, das über­nimmt gegen­über jenem Köves des Ker­tész sein nach dem jüdi­schen Gesetz leben­der Onkel Lajos. Der hin­ter­lässt eine erste reli­giöse Wer­teah­nung in sei­nem Nef­fen, als er ihm die Trag­weite des Abschieds sei­nes Vaters von der Fami­lie 1944 weg von der Fami­lie und hin zum Reichs­ar­beits­dienst bewusst­zu­ma­chen sucht.

Die­ser Onkel Lajos, von dem der Junge nur weiß, dass er eine irgend­wie wich­tige Stel­lung in der Fami­lie ein­nimmt, spricht zunächst mit dem Vater »unter vier Augen«. Dann fühlt sich der Junge vom Onkel »in die Zange genom­men«, hat er ihn doch in eine Ecke der klei­nen Woh­nung gedrängt und ihn genö­tigt, zuzu­ge­ben, dass ihm der Vater nach Abreise zum Reichs­ar­beits­dienst sehr feh­len werde, und dann auch noch, »daß die sorg­lo­sen glück­li­chen Kin­der­jahre mit dem heu­ti­gen trau­ri­gen Tag nun für ihn zu Ende seien«. Von nun an bliebe der Junge »die Haupt­stütze« der Fami­lie. »Jetzt, so sagte er, hast auch du Anteil am gemein­sa­men jüdi­schen Schick­sal, … das seit Jahr­tau­sen­den aus unab­läs­si­ger Ver­fol­gung besteht, was die Juden jedoch mit Erge­ben­heit und opfer­wil­li­ger Geduld auf sich zu neh­men haben, da Gott ihnen die­ses Schick­sal um ihrer eins­ti­gen Sün­den wil­len zuteil­wer­den lasse, und gerade des­we­gen könn­ten sie auch nur von Ihm Barm­her­zig­keit erwar­ten. Er hin­ge­gen würde von uns erwar­ten, daß wir in die­ser schwe­ren Zeit an unse­rem Platz blei­ben, an dem Platz, den Er uns zuge­teilt hat, je nach unse­ren Kräf­ten und Fähigkeiten.«

Ohne diese Worte ver­stan­den zu haben, hat­ten sie den Jun­gen doch ergrif­fen. Schließ­lich lobt ihn Onkel Lajos für das ver­meint­li­che Ver­ständ­nis des Gesprächs und führt ihn zur gemein­sa­men Für­bitte für den Vater in einen Gebets­win­kel der Woh­nung. In vor­ge­schrie­be­ner Hal­tung ste­hen sie bei­ein­an­der, solange Köves die vom Onkel vor­ge­spro­che­nen Gebets­zei­len nach­zu­spre­chen hat, auch wenn den Jun­gen stört, dass er kein Wort vom Gehör­ten und Nach­ge­spro­che­nen ver­steht. Hebrä­isch ist ihm unbe­kannt. Trotz­dem hat des Onkels Glau­bens­übung eine Spur in ihm hin­ter­las­sen, denn der Autor lässt den Jun­gen resü­mie­ren: »…daß ich auch schon bei­nahe das Gefühl hatte, tat­säch­lich, wir haben etwas für mei­nen Vater getan.«

Im Roman kommt es noch­mal zu einer Begeg­nung des Jun­gen mit einem gläu­bi­gen Juden. Die­sen, den eine Gruppe von Häft­lin­gen wäh­rend der Arbeit in einer Zie­ge­lei mit »Rabbi« anre­det, hört er von Gott reden, von des­sen uner­gründ­li­chem Rat­schluss, vom Schick­sal der Juden über­haupt, die vom Herrn mit der Folge der Heim­su­chung abge­fal­len seien. Die kraft­volle impo­sante Erschei­nung des Rabbi und sein wir­kungs­vol­les Auf­tre­ten sowie die Tat­sa­che einer stän­di­gen Zuhö­rer­schaft sind anzie­hen­der als sein Onkel Lajos. Daher bewahrt er sogar Gedan­ken des Rabbi im Gedächt­nis: Sie soll­ten nicht mit dem Her­ren hadern, denn das »führe zur Ver­nei­nung des hohen Sin­nes und mit die­ser im Her­zen könn­ten sie nicht leben«. Denn solch ein Herz sei leer »gleich der Ödnis der Wüste … und schwer sei es, auch in den Heim­su­chun­gen die unend­li­che Weis­heit des All­mäch­ti­gen zu erken­nen.« Aber die Stunde sei­nes Sie­ges werde kom­men und hänge am Ver­trauen in diese Hoff­nung. György Köves scheint vom Gehör­ten, das sich auf den Pro­phe­ten Joel 2.11 ff bezie­hen lässt, über­for­dert, da der Rabbi nichts von kon­kre­tem Tun gesagt hätte. Dass Onkel Lajos und jener Rabbi jeden­falls Spu­ren des Glau­bens sei­ner Vor­fah­ren erkenn­bar frei­ge­legt haben, zeigt sich spä­ter im KZ Buchen­wald, als der Junge mit allen Häft­lin­gen auf dem Appell­platz ange­tre­ten und gezwun­gen ist, bei der bes­tia­li­schen Hin­rich­tung von drei Let­ten nach miss­glück­tem Flucht­ver­such zuzu­se­hen. Die­ses Erleb­nis bringt es mit sich, dass der Junge jene Spu­ren deut­li­cher wer­den las­sen möchte. Was geschieht da vor sei­nen Augen? »Ich horchte eher nach links, woher plötz­lich die Stimme kam, ein Gemur­mel, eine Art Melo­die. Auf einem dün­nen, vor­ge­streck­ten Hals erblickte ich, da in der Reihe, einen etwas zitt­ri­gen Kopf – vor allem eigent­lich eine Nase und ein rie­si­ges, in dem Augen­blick irgend­wie in ein ver­rück­tes Licht getauch­tes, feuch­tes Auge: der Rabbi. Bald dar­auf ver­stand ich auch seine Worte, umso mehr, als sie von meh­re­ren in der Reihe auf­ge­nom­men wur­den. Von allen ‚Fin­nen‘ zum Bei­spiel , aber von vie­len ande­ren auch. Ja, ich weiß gar nicht wie, aber sie waren schon in die Nach­bar­schaft, zu den ande­ren Blocks hin­über­ge­drun­gen, hat­ten sich ver­brei­tet, sich gleich­sam durch­ge­fres­sen, denn auch dort bemerkte ich immer mehr bewegte Lip­pen und sich vor­sich­tig, aber den­noch ent­schlos­sen vor und zurück wie­gende Schul­tern, Hälse, Köpfe. Das Mur­meln war hier, mit­ten im Glied, nur eben knapp hör­bar, dafür aber andau­ernd, wie ein unter­ir­di­sches Grol­len: ‚Jis­ka­dal, wöjis­ka­dal‘, erklang es in einem fort, und so viel weiß sogar ich, daß es das soge­nannte ‚Kad­disch‘ ist, das Gebet der Juden zu Ehren der Toten. Und mög­lich, daß auch das nur eine Art des Eigen­sinns war, die letzte, ein­zig ver­blie­bene, viel­leicht – das muss ich zuge­ben – ein wenig zwangs­mä­ßige, sozu­sa­gen vor­ge­schrie­bene, in gewis­sem Sinn zuge­schnit­tene, gleich­sam auf­er­legte und zugleich nutz­lose Vari­ante des Eigen­sinns (denn im Übri­gen ver­än­derte sich ja da vorn über­haupt nichts, regte sich, abge­se­hen von den letz­ten Zuckun­gen der Gehenk­ten, über­haupt nichts, geschah auf die Worte hin gar nichts); und doch mußte ich das Gefühl irgend­wie ver­ste­hen, in dem das Gesicht des Rabbi sich gewis­ser­ma­ßen auf­zu­lö­sen schien und des­sen Stärke sogar noch seine Nasen­flü­gel so selt­sam erbe­ben ließ. Als wäre jetzt der lang­ersehnte Augen­blick, jener sieg­rei­che Augen­blick gekom­men, von des­sen Ein­tritt er, wie ich mich erin­nerte, noch in der Zie­ge­lei gespro­chen hatte. Und tat­säch­lich, jetzt zum ers­ten­mal, warum, weiß ich nicht, hatte ich auf ein­mal das Gefühl, daß mir etwas fehlte, ja in gewis­ser Weise sogar das Gefühl von Neid, jetzt zum ers­ten­mal bedau­erte ich es ein wenig, daß ich nicht – wenigs­tens ein paar Sätze – in der Spra­che der Juden zu beten ver­stand. Doch weder Eigen­sinn noch Beten, noch sonst irgend­eine Art von Flucht hät­ten mich von einem befreien kön­nen: vom Hunger.«

Die Kad­disch-Zei­len ver­mi­schen sich im Häft­lings­jun­gen mit einer ihm inne­woh­nen­den Emo­ti­ons­fä­hig­keit, die ihm schon auf dem eis­kal­ten Nacht­la­ger zugu­te­ge­kom­men war: »Die Kör­per, die an mich gepreßt waren, stör­ten mich nicht mehr. Irgend­wie freute es mich eher, daß sie bei mir waren, mir ver­traut und dem mei­nen so ähn­lich. Und jetzt zum ers­ten­mal erfasste mich ihnen gegen­über ein unge­wohn­tes, regel­wid­ri­ges, irgend­wie lin­ki­sches, um nicht zu sagen unge­schick­tes Gefühl, mög­li­cher­weise viel­leicht Liebe. Und glei­ches wurde mir von ihnen zuteil.«

Auf der Suche nach sich selbst, auch am ver­schlos­se­nen Lagertor

In alle Fra­gen nach sich selbst, nach sei­nem gewor­de­nen Ich, wird für den Autor Ker­tész im Laufe sei­ner Ent­wick­lung in der unga­ri­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft immer auch die Frage nach der jüdi­schen Her­kunft ein­ge­bet­tet sein, auch wenn sie in der lite­ra­ri­schen Refle­xion auf seine KZ-Lager­zeit in der Erzäh­lung »Der Spu­ren­su­cher« (Frank­furt am Main 2002) nach einem miss­lun­ge­nen Buchen­wald­be­such 1962 nicht direkt gestellt wird. Diese mys­tisch anmu­tende Erzäh­lung steht an man­cher Stelle wie ein Glos­sar an der Seite des Romans vom Schicksallosen.

Als sich der Autor in der Gestalt sei­nes namen­lo­sen Spu­ren­su­chers noch­mal dem Lager­tor des KZ Buchen­wald nach etwa 17 Jah­ren nähert, um Zeug­nis abzu­le­gen, muss er vor dem ver­schlos­se­nen Lager­tor der jet­zi­gen Gedenk­stätte ent­täuscht ste­hen­blei­ben und sein geplan­tes Spu­ren­su­chen als Suche nach sich selbst abbre­chen: Dass er hier würde selbst spre­chen und sich wunsch­ge­mäß »in ein tönen­des Instru­ment ver­wan­deln« könnte, das ver­hin­dert meta­pho­risch das geschlos­sene Lager­tor. Ebenso kann es nur beim Vor­satz blei­ben, »sich selbst vor dem Anblick auf­schlie­ßen« zu wol­len und gleich hin­ter dem Tor nicht etwa »Beweise zu sam­meln, son­dern selbst zum Beweis zu wer­den, zum reui­gen, den­noch uner­bitt­li­chen Zeu­gen des dann als Gewiss­heit pei­ni­gen­den Tri­umphs.« 1962 am geschlos­se­nen Lager­tor der Gedenk­stätte glaubt er, er hätte nichts ande­res zu tun als das, was er wusste, zu über­prü­fen und sich die­sem Wis­sen dann zu überlassen.

Aber all das bleibt ange­sichts des geschlos­se­nen Tores Illu­sion: Ver­gan­gen­heit hin­ter dem Tor ist nicht vor­han­den; die Ver­gan­gen­heit ist abwe­send. Ganz allein muss er des­halb nun seine Ver­lo­ren­heit ertra­gen oder zu über­win­den suchen in einer schein­bar nor­ma­len Gegenwart.

Kon­krete Erfah­rung mit ihr hat er schon mehr­fach gemacht in einer Kette erschüt­tern­der Begeg­nun­gen und Bege­ben­hei­ten, die das ver­schlos­sene Lager­tor zuge­ket­tet sein las­sen. Was ist ihm da im Ein­zel­nen widerfahren?

Zunächst erklärt ihm auf der Heim­fahrt vom befrei­ten Lager Buchen­walds nach Buda­pest im tsche­chi­schen Grenz­bahn­hof ein zivi­ler Jemand mit boh­ren­der Stimme, dass es Gas­kam­mern zur Ver­nich­tung von Men­schen gar nicht gege­ben haben könne, wenn sein Gegen­über in Buchen­wald keine mit eige­nen Augen gese­hen hätte. Aus der Buda­pes­ter Tram hätte er auf ener­gi­sches Ver­lan­gen eines beam­te­ten Kon­trol­leurs wegen feh­len­den Fahr­scheins aus­stei­gen müs­sen, hätte nicht ein Fahr­gast, der ihn an sei­nen Häft­lings­lum­pen sofort als eines der nach Hause irren­den Opfer aus­ge­macht hatte, für ihn die feh­len­den Mün­zen bezahlt. Bei Ankunft in der Haupt­stadt kün­digt ein Jour­na­list an, eine Arti­kel­se­rie anhand von Györ­gys Berich­ten zu star­ten, worin es um »die Wahr­heit«, »die Schuld« und um »einen per­sön­li­chen Ton« des Jun­gen gehen sollte. Jedoch steht letzt­lich dem Zustan­de­kom­men der Serie zwei­er­lei im Wege, zum einen, weil sich György außer­stande sieht, die all­ge­meine Vor­stel­lung von »Hölle« gene­rell mit Ausch­witz gleich­zu­set­zen, und seine per­sön­li­che Erfah­rung von Zeit als hel­fen­der Kraft auch in einem KZ-Lager leug­nen zu sol­len; zum ande­ren der Satz des Jour­na­lis­ten: »Es gibt bloß die gege­be­nen Umstände und in ihnen neue Gege­ben­hei­ten«. Unter solch einem Leit­satz würde die Suche des Häft­lings nach sei­nem eige­nen Ich nicht ans Ziel kom­men. Und schließ­lich wird auch die Wie­der­be­geg­nung mit sei­nen ehe­ma­li­gen Buda­pes­ter Woh­nungs­nach­barn Fleisch­mann und Stei­ner zu einem cha­rak­te­ris­ti­schen Aus­schnitt von Gegen­wart, begeg­nen sie ihm doch auf seine Frage, wie es ihnen in den letz­ten Jah­ren ergan­gen sei, mit dem ener­gi­schen Hin­weis dar­auf, auch für sie »sei es hier zu Hause nicht leicht gewe­sen«. Des­halb kann er nicht anders als sein beschei­de­nes Erzäh­len vom KZ-Auf­ent­halt mit einer Ver­wun­de­rung zu unter­bre­chen und ihnen das Nach­den­ken dar­über zuzu­mu­ten, dass sie mit fast schon ermü­den­der Wie­der­ho­lung jede Ver­än­de­rung mit »kam« bezeich­ne­ten: »So kamen zum Bei­spiel die Juden­stern­häu­ser, kam der fünf­zehnte Okto­ber, kamen die Pfeil­kreuz­ler, kam das Ghetto, kam die Sache am Donau­ufer, kam die Befrei­ung«. Und als er auf ihre Frage nach sei­nen Plä­nen für die Zukunft anmerkt, noch gar nicht an sol­che gedacht zu haben, äußern sie ent­schie­den, zuerst müsse er »die Gräuel ver­ges­sen«, damit er leben könne, »frei leben«; denn mit »einer sol­chen Last« könne man kein neues Leben beginnen.

Mit sei­ner Erwi­de­rung bleibt sich György Köves treu: Man könne nie ein neues Leben begin­nen, man könne immer nur das alte fort­set­zen. »Warum die­ser Unwille ein­zu­se­hen, wenn es ein Schick­sal gibt, dann ist Frei­heit nicht mög­lich. … Wenn es aber die Frei­heit gibt, dann gibt es kein Schick­sal. Das heißt also, … wir selbst sind das Schick­sal.« Da nun empö­ren sich die bei­den Woh­nungs­nach­barn: »Am Ende seien sie wohl noch die Schul­di­gen, sie, die Opfer«. Und dar­auf er: Man könne ihm doch nicht alles neh­men, es gehe nicht, dass ihm weder ver­gönnt sein sollte, Sie­ger noch Ver­lie­rer zu sein, weder zu irren noch Recht zu behal­ten. Er könnte »die dumme Bit­ter­nis nicht ein­fach her­un­ter­schlu­cken, ein­fach nur unschul­dig sein zu sol­len.« Er habe ein gege­be­nes Schick­sal, auch wenn es nicht sein eige­nes gewe­sen sei, durch­lebt und fühlte sich nun ver­pflich­tet, »mit die­sem etwas anzu­fan­gen, es irgendwo fest­zu­ma­chen, es irgendwo anzu­fü­gen, daß es jetzt nicht mehr genü­gen konnte zu sagen, daß es ein Irr­tum war, ein Unfall, so eine Art Aus­rut­scher oder daß es even­tu­ell gar nicht statt­ge­fun­den hat, womöglich«.

So etwa hört er es um sich her, so etwa den­ken die Mit­ge­lau­fe­nen aus ihren küm­mer­li­chen Selbst­ver­tei­di­gungs­ver­su­chen, die sie ihm als Emp­feh­lung für das gegen­wär­tig not­wen­dige Ver­hal­ten nach den über­stan­de­nen KZ-Jah­ren und dem dar­aus resul­tie­ren­den Ver­lust des eige­nen Ich anbieten.

Und nicht anders springt ihn als den Spu­ren­su­cher die schein­bar nor­male Gegen­wart 1962 gera­dezu apo­ka­lyp­tisch-mons­trös in dem anonym blei­ben­den Wei­mar an, als er sche­men­haft sei­nen Stand­ort nun inmit­ten der Klas­si­ker­stadt aus­macht und hören muss: »Wehe, wehe, wehe denen, die die Erde bewohnen!«

Da nun müs­sen wir daran erin­nern, dass ganz im Gegen­satz zu die­sem mons­trö­sen Alp­traum abgrund­tie­fer Düs­ter­nis des namen­lo­sen Spu­ren­su­chers der Autor sei­nen Roman­hel­den Köves in einem sei­ner letz­ten Sätze sagen lässt: »Ich werde mein nicht­fort­setz­ba­res Dasein fort­set­zen.« Damit wird die schein­bare Kapi­tu­la­tion vor dem Lager­tor der Gedenk­stätte etwa 17 Jahre spä­ter nicht nur auf­ge­ho­ben, son­dern die eins­tige Ziel­set­zung fortgeschrieben.

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